Motorik und Wahrnehmung im Kindesalter. Henning Rosenkötter

Motorik und Wahrnehmung im Kindesalter - Henning Rosenkötter


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Zusammenarbeit zwischen Kinderarzt, Sozial- oder Neuropädiater, Orthopädie und Orthopädiemechaniker. Therapieformen, die unter dem Begriff »Osteopathie« zusammengefasst werden können, sind in der Schulmedizin noch nicht überall anerkannt, haben in den letzten Jahren gleichwohl an großer Bedeutung gewonnen. Dabei werden Teile des Skelett- und des Bindegewebssystems manuell behandelt. Auch in der Kraniosakraltherapie werden Handgrifftechniken angewandt, meist am Schädel und am Kreuzbein, um Einfluss auf Rhythmen des menschlichen Organismus zu nehmen.

      Die in Deutschland am häufigsten angewandten Formen der Physiotherapie sind die Methoden einer tschechischen Physiotherapeutin und von zwei tschechischen Ärzten: Vaclav Vojta und das Ehepaar Karel und Berta Bobath.

      Vojta-Therapie

      Der Reflexlokomotion liegen »globale Muster« zugrunde, die Vojta 1954 beschrieb (Vojta, 2008; Vojta & Peter, 2007). Damit sind Fortbewegungsmuster gemeint, die durch Druck und Zug an verschiedenen Körperpartien in immer gleicher Weise auslösbar sind. Der Begriff »Reflex« wird also nicht im klassischen Sinne der Neurologie verstanden. Diese gesetzmäßig ablaufenden motorischen Reaktionen werden durch gezielte Reize in den verschiedenen Körperlagen (Rücken-, Seiten-, Bauchlage) ausgelöst. Sie enthalten Bestandteile der menschlichen Bewegungsabläufe wie Greifen, Umdrehen, Robben, Krabbeln und Gehen.

      Ziel der Reflexlokomotion ist es, die automatische Steuerung der Körperhaltung, die Stützfunktion der Extremitäten und die dafür erforderlichen Muskelaktivitäten zu bahnen. Krankhafte Ersatzmuster können mittels der Reflexlokomotion umgestaltet oder in ihrer Ausprägung reduziert werden. Es kommt dabei oft zu Abwehr- und Ausweichverhalten des Kindes. Die Behandlung stellt hohe körperliche Ansprüche an das Kind und hohe emotionale Ansprüche an die Mutter bzw. die Eltern (s. auch die Homepage der Internationalen Vojta Gesellschaft e. V.: www.vojta.com).

      Bobath-Therapie

      Ziel der Bobath-Therapie (Bobath, Bobath & Staehle-Hirsemann, 2005; Friedhoff, Schieberle & Gralla, 2007) ist die Differenzierung funktioneller Fähigkeiten, die Erweiterung der Handlungskompetenz und eine bestmögliche Selbstständigkeit im Lebensumfeld. Das Bobath-Konzept enthält keine standardisierten Übungen. Im Vordergrund stehen individuelle und alltagsbezogene therapeutische Aktivitäten. Sie betreffen die Bereiche Kommunikation, Nahrungsaufnahme, Körperpflege, An- und Auskleiden, Fortbewegung, Spiel und Beschäftigung (s. die Homepage der Vereinigung der Bobath-Therapeuten: www.bobath-vereinigung.de).

      4.6 Zusammenfassung

      Störungen der Motorik gehören zu den häufigsten Entwicklungsstörungen. Sie werden in den kinderärztlichen und kinderneurologischen Untersuchungen diagnostiziert. Das diagnostische Repertoire wird ergänzt durch standardisierte motoskopische Verfahren oder durch Motorik-Tests. Die verschiedenen Symptome einer abnormen Haltung, Muskelspannung oder Bewegung werden beschrieben.

      Die häufigste motorische Störung ist die Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF). Sie ist vor allem bedingt durch familiäre Veranlagung und Umgebungsbedingungen des Kindes. Die Kinder wirken ungeschickt und haben Schwierigkeiten in der Bewegungssteuerung und -planung. Viel seltener sind schwere motorische Störungen wie die Zerebralparese (ICP). Sie entsteht vor allem bei frühgeborenen Kindern durch Sauerstoffmangel und Durchblutungsstörung des Gehirns vor, während oder kurz nach der Geburt. Kinder mit ICP entwickeln neben einer Körperbehinderung oft auch Lernstörungen, Epilepsie, Schielen und Minderwuchs. Unterschieden wird eine spastische, eine ataktische und eine athetotische ICP.

      Die Behandlung von motorischen Störungen richtet sich nach dem Schweregrad, der Beeinträchtigung des Alltagslebens und nach dem Leidensdruck des Kindes. Es kommen Fördermaßnahmen, vor allem Bewegungsförderung und psychomotorische Förderung, oder eine medizinische Therapie in Betracht. Säuglinge und kleine Kinder werden physiotherapeutisch behandelt. Bei Kindern mit Zerebralparese müssen individuelle Therapiekonzepte erarbeitet werden, vor allem mit Fördermaßnahmen, Physio- und Ergotherapie und Hilfsmittelversorgung.

      Weiterführende Literatur

      Blank, R. (Koordinator). (2011). AWMF-Leitlinie Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF). Verfügbar unter: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/022-017.html.

      Flehmig, I. (2007). Normale Entwicklung des Säuglings und ihre Abweichungen. Stuttgart: Thieme.

      Michaelis, R. & Niemann, G. W. (2016). Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie: Grundlagen und diagnostische Strategien. Stuttgart: Thieme.

      Straßburg, H. M., Dacheneder, W. & Kreß, W. (2018). Entwicklungsstörungen bei Kindern: Praxisleitfaden für die interdisziplinäre Betreuung. München: Urban & Fischer.

      Zimmer, R. (2019). Handbuch Psychomotorik: Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. Freiburg: Herder.

      5 Die Entwicklung der Handmotorik

      Definition

      Handmotorik umfasst alle Bewegungen und Haltungen der Hände, besonders die Bewegungen aus den Handgelenken und Fingern. Die Koordination dieser Bewegungen nennt man Handgeschicklichkeit.

      Die wichtigsten Bewegungen der Hand sind die Oppositionsbewegung und die Rotation. Als Opposition bezeichnet man die Fähigkeit des Daumens, sich den anderen Fingern gegenüber zu stellen. Der Daumen ist den anderen Fingern gegenüber um 130° gedreht. Dadurch wird die Opposition von Daumen und Zeigefinger erst möglich. Menschenaffen beherrschen diese Bewegung nicht. Beim Menschen sind die Daumenmuskeln besonders stark und vielfältig. Drehbewegungen (Rotation) erfolgen vorwiegend aus dem Handgelenk, aber auch aus den Fingern und dem Ellenbogengelenk.

      5.1 Einführung

      Wenn man auf die Handfläche oder die vordere Fußsohle eines wenige Monate alten Säuglings drückt, so werden der Handgreifreflex und der Fußgreifreflex ausgelöst: Die Hand und die Zehen klammern sich an das Objekt oder den dargebotenen Finger. Nach wenigen Monaten aber verliert sich dieser Neugeborenen-Reflex. An seine Stelle tritt das aktive, das bewusste Greifen. Ab dem Beginn dieses willkürlichen Greifens ist das Erlernen der Handmotorik an die Koordination von Auge und Hand gebunden. Das Bewusstwerden der eigenen Handbewegung und die Fähigkeit, sie mit den Augen zu kontrollieren, beginnen mit Ende des dritten Lebensmonats.

      Von nun an folgt die Entwicklung der Handmotorik zwei Regeln, die eine immer differenziertere motorische Steuerung erlauben:

      1. Die Reifung der Armmotorik schreitet von den Muskeln der Schulter und des Oberarms zu den Muskeln des Unterarms und der Hand.

      2. Die Reifung der Handmotorik schreitet von der Handfläche zu den Fingerspitzen und vom Greifen mit allen Fingern zu der Gegenstellung (Opposition) von Daumen und Zeigefinger.

      Mit vier Monaten streckt das Kind die Hand zu einem Objekt aus, öffnet die Hand, ergreift den Gegenstand, betrachtet ihn und führt ihn zum Mund. Die Hände spielen in der Körpermittellinie miteinander.

      Mit fünf Monaten greift das Kind auch nach einem etwas entfernter gehaltenen Gegenstand, indem es den Arm streckt.

      Mit sechs Monaten wird ein Gegenstand gezielt und mit der ganzen Handfläche (palmar) und dem gestreckten Daumen ergriffen. Interessante Gegenstände wandern von einer Hand in die andere. Das Kind beginnt, Hand- und Armbewegungen der Bezugsperson zu imitieren.

      Im siebten und achten Monat lernt das Kind, kurzzeitig zwei Gegenstände mit beiden Händen gleichzeitig festzuhalten. Kleine Gegenstände werden nun mit gestreckten Fingern und dem gestreckten Daumen ergriffen, und zwar mit der Basis von Daumen und Zeigefinger, ohne dass die Handfläche den Gegenstand berührt (Scherengriff). Das Kind hantiert mit Spielzeug und setzt zwei Objekte in Bezug zueinander, z.


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