Motorik und Wahrnehmung im Kindesalter. Henning Rosenkötter

Motorik und Wahrnehmung im Kindesalter - Henning Rosenkötter


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untersuchen die Kinder danach mindestens in den vorgegebenen Zeitabständen der folgenden Vorsorgeuntersuchungen (U).

      Zeitpunkte der Kinderuntersuchungen

U1bei Geburt
U23.-10. Lebenstag
U34.-5. Woche
U43.-4. Monat
U56.-7. Monat
U610.-12. Monat
U721.-24. Monat
U7a34.-36. Monat
U846.-48. Monat
U960.-64. Monat

      Neben der ärztlichen Untersuchung werden dabei auch Körperlänge, Körpergewicht und Kopfumfang gemessen und mit Normwerten, hier mit sog. Perzentilen (beispielhaft die Perzentile für den Kopfumfang image Abb. 4.1), verglichen. Diese Normen bieten gleichzeitig die Möglichkeit, den individuellen Entwicklungsverlauf zu beobachten. Die gesamte Kinderuntersuchung (KU) dient selbstverständlich nicht allein der Beurteilung der motorischen Entwicklung, sondern der Einschätzung des gesamten Entwicklungsstands.

Images

      Falls es in der Vorsorgeuntersuchung Hinweise für eine neurologische Erkrankung, eine Entwicklungsstörung oder eine drohende Behinderung gibt, führt der Kinderarzt eine neurologische Untersuchung durch, oder er veranlasst sie beim Sozialpädiater oder Neuropädiater. Beispielhaft sind die Grundzüge einer kinderneurologischen Untersuchung im 1. und 2. Lebensjahr im folgenden Kasten aufgelistet.

      Neurologische Untersuchung im 1. und 2. Lebensjahr

      • Verhaltenszustand, Wachheit, Erregbarkeit

      • Hören

      • Sehen

      • Mimik und Schlucken

      • Spontane Haltung in Rückenlage, in Bauchlage, im Sitzen

      • Spontane Bewegung

      • Muskelspannung (Tonus)

      – Normal, zu schlaff und zu geringer Widerstand (hypoton), zu stark angespannt und zu hoher Widerstand gegen passive Bewegung (hyperton)

      • Muskeleigenreflexe, z. B. Kniesehnen- (Patellar-)Reflex

      • Fremdreflexe

      – Reizung der Haut (z. B. der Bauchhaut) löst eine Muskelkontraktion aus

      – Babinski-Reflex (wenn es bei Bestreichen der seitlichen Fußsohle zu einer Spreizung der Zehen und einer Aufrichtung der Großzehe kommt, wäre das ein Hinweis für eine Schädigung der Pyramidenbahn)

      • Neugeborenen-Reflexe

      – z. B. Hand- und Fußgreifreflex, Such- und Saugreflex, Schreitreflex (klingen innerhalb der ersten Lebensmonate ab; ein Fortbestehen dieser Reflexe spricht für eine Hirnschädigung oder eine Erkrankung)

      • Motorische Reaktionen

      – Hochziehen zur Sitzposition

      – Schwebende Bauchlage (Landau-Reaktion)

      – Übernahme von Gewicht im gehaltenen Stehen

      – Übernahme von Rumpfstabilität und Abstützreaktion beim Seitkippen aus dem Sitzen

      • Körpermotorik

      – Stabilität der Rückenlage

      – Aufrichtung aus Bauchlage

      – Sitzen

      – Kriechen (Robben), Krabbeln, Po-Rutschen

      – Hochziehen zum Stand

      – Gehaltenes und freies Gehen

      • Handmotorik

      – Hand-Hand- und Hand-Augen-Kontakt

      – Daumen-Zeigefinger-Opposition mit gestreckten Fingern

      – Pinzettengriff

      – Faustgriff oder erster 3-Finger-Griff beim Malen

      Zu den speziellen Untersuchungstechniken im ersten Lebensjahr zählen auch die »Lagereaktionen« und die Beurteilung der »General Movements«. Begründet von Prechtl (2001) und fortgeführt von Hadders-Algra (2004; s. auch Groen, De Blancourt, Postema & Hadders-Algra, 2005) besteht die Diagnostik der »General Movements« in einer akribischen Beobachtung komplexer Bewegungsmuster der Neugeborenen und Säuglinge. Die Qualität der Bewegungsmuster entspricht dem jeweiligen Reifungsstand. Abnorme Spontanbewegungen werden nach den Kriterien Flüssigkeit, Variabilität und Komplexität unterschieden. Konstante Asymmetrien, verkrampfte oder irreguläre Muster sowie fehlende Anteile einer normalen Entwicklung deuten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine spätere Bewegungsstörung hin. Die Treffsicherheit der Untersuchung und die prognostische Aussagekraft sind bei gut geschulten Diagnostikern sehr hoch (Cioni, Prechtl & Ferrari, 1997; Hadders-Algra & Groothuis, 1999).

      4.1.2 Die ärztliche Untersuchung von Vorschulkindern

      Die neurologische Untersuchung von Vorschul- und Schulkindern ähnelt schon mehr der Untersuchung eines Erwachsenen. Neben der Beurteilung des Verhaltens, der Aufmerksamkeit und der Wachheit sind folgende Bereiche besonders wichtig:

      • Hören, Sehen, Augenbewegungen

      • Mimik und Zungenbewegung

      • Spontane Haltung und spontane Bewegung, Wirbelsäule, Fußform, Zehenstellung

      • Gelenkbeweglichkeit

      • Muskelspannung (Tonus), Muskelkraft, Muskelmasse und -form

      • Muskeleigenreflexe und Fremdreflexe, Babinski-Reflex

      • Körpermotorik, koordinative Fähigkeiten, z. B. ein- und beidbeiniges Hüpfen, von einem kleinen Hocker springen, vor- und rückwärts balancieren mit offenen und geschlossenen Augen usw.

      • Handmotorik (Hände und Finger)

      • Körperlänge, Körpergewicht, Kopfumfang.

      Die Diagnostik der Bewegungsmuster wird Motoskopie genannt. Ein ausführliches Untersuchungsschema hat Touwen bereits 1982 vorgelegt. Ein wichtiges Merkmal dieses Untersuchungsschemas ist die Beobachtung assoziierter Bewegungsmuster: Das sind unwillkürliche Mitbewegungen, z. B. der Zunge, des Mundes oder der anderen Körperseite, die bei Kindern bis zu sechs Jahren in gewissem Maße normal sind. Auch Erwachsene kennen das: Bei einer sehr diffizilen handmotorischen Aufgabe oder beim Zehengang verzieht sich manchmal der Mund, die Zunge wird ein bisschen vorgestreckt oder die gegenseitige Hand spiegelt die Bewegung der ausführenden Hand. Solche assoziierten Bewegungen lassen sich bei einer leicht durchzuführenden Aufgabe sehen: Das Kind steht mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern. Es soll dann den Mund öffnen und die Augen schließen. Kinder bis zu acht Jahren haben unter dieser Bedingung häufig assoziierte Bewegungen und Haltungsasymmetrien. Stark ausgeprägte assoziierte Bewegungen können ein Hinweis für eine neurologische Erkrankung sein.

      Wenn die neurologische Untersuchung keine ausreichende Klarheit der Befunde schafft, sollte der Kinder- und Jugendarzt weitergehende Untersuchungen durchführen oder veranlassen.

      Weitergehende Untersuchungen

      • Blut, Urin zur Prüfung, ob eine Infektion oder eine Stoffwechselstörung vorliegt

      • Ultraschalluntersuchung des Gehirns (ist bei Säuglingen möglich, bei denen die Fontanelle noch nicht geschlossen ist)

      • Kernspintomographie (MRT) bei Verdacht auf raumfordernden Prozess, Fehlbildung, Erweiterung der Hirninnenräume


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