Motorik und Wahrnehmung im Kindesalter. Henning Rosenkötter
Hinstellen oder Laufen lernen. Sie setzen sich lieber langsam auf den Po, als einen Sturz zu riskieren. Andere sind besonders mutig und stürzen sich geradewegs in gefährliche Situationen. Schließlich gibt es auch jene Kinder, die sich lieber für Spiele oder Bilderbücher interessieren, als ihre motorischen Fähigkeiten zu üben. Unterschiede also, die es auch bei Erwachsenen gibt und die nicht unbedingt Anlass zu Sorge sein müssen. Die individuellen Unterschiede in der motorischen Entwicklung werden durch die interindividuelle Variabilität deutlich: So erlernen Kinder das Hinsetzen mit 9–14 Monaten, das Entlanggehen an Möbeln mit 8–14 Monaten und das freie Gehen mit 10–18 Monaten.
Den folgenden Altersangaben liegt das Konzept der Grenzsteine und Meilensteine (Michaelis und Niemann, 2010; Nennstiel-Ratzel, Lüders, Arenz, Wildner & Michaelis, 2013) zugrunde. Beim Konzept der »Grenzsteine« wird davon ausgegangen, dass die Entwicklung aller Kinder regelhaft und determiniert verläuft und Zeitpunkte definiert werden können, an denen 90–95 % aller Kinder einen bestimmten Entwicklungsschritt sicher erreicht haben. Bei Nicht-Erreichen eines »Grenzstein«-Entwicklungsschrittes besteht der Verdacht auf eine Entwicklungsstörung, und weitergehende Untersuchungen müssen veranlasst werden. Das Konzept der »Meilensteine« definiert hingegen eine normale Entwicklung. Es hat den Vorteil, dass sich darin die Variabilität der Entwicklung abbildet. Meilensteine sind aber nicht geeignet, um Bewegungsstörungen zu definieren. Die folgenden Zeitangaben für eine »normale« motorische Entwicklung sind also als »Meilensteine« zu verstehen.
Vor der Geburt: Mit Ultraschalluntersuchungen des menschlichen Fötus kann man Kindsbewegungen ab der 8. Schwangerschaftswoche (SSW) erkennen. Die Bewegungsmuster werden in den folgenden Wochen immer differenzierter. Ab der 10. SSW kann man darstellen, wie das Kind einen Arm oder ein Bein bewegt oder den Kopf dreht. Hand zum Gesicht bringen, Atembewegungen, sich strecken, Mund öffnen, Kopf vorbeugen und Gähnen kann ab der 11. SSW gesehen werden.
Von dort aus ist es bereits ein langer Weg bis zum Neugeborenen, das neben symmetrischen Bewegungen bereits differenzierte Bewegungsmuster einzelner Extremitäten zeigt. Das Neugeborene strampelt oft symmetrisch, teils aber auch wechselseitig (alternierend). Die Haltung wird von Neugeborenen-Reflexen mitbestimmt. Abbildung 3.1 zeigt die typische Fechterhaltung des asymmetrisch-tonischen Nackenreflex (ATNR): In Rückenlage werden die gesichtsseitigen Extremitäten bei passiver Drehung des Kopfes gestreckt. Dieser Reflex klingt spontan bis zum 6. Lebensmonat ab.
Abb. 3.1: Haltung des Neugeborenen in Rückenlage
Im dritten Monat wird der Kopf im gehaltenen Sitzen schon eine halbe Minute lang aufrecht gehalten. In der Bauchlage stützt sich der Säugling auf beiden Unterarmen ab, hebt den Kopf über 45° und hält ihn eine Minute lang hoch (Unterarmstütz;
Im vierten Monat wird in Bauchlage der sichere Stütz auf den Handwurzeln erreicht (Handwurzelstütz;
Abb. 3.2: Haltung des Säuglings in Bauchlage: Unterarmstütz
Abb. 3.3: Haltung des Säuglings in Bauchlage: Handwurzelstütz
Im sechsten Monat streckt das Kind die Beine, wenn es zum Stand hochgehoben wird, und übernimmt für wenige Sekunden das Körpergewicht. In Sitzhaltung ist die Kopfkontrolle schon so stabil, dass der Kopf auch bei einer Neigung des Rumpfes gehalten werden kann. In Bauchlage kann der Rumpf auch auf gestreckten Armen und offenen Händen abgestützt werden.
Am Ende des siebten Monats können fast alle Kinder von der Bauchlage in eine Seitenlage wechseln und über einige Sekunden einen Arm frei von der Unterlage halten (
Abb. 3.4: Haltung des Säuglings beim Wechsel von Bauch- in Seitenlage
Im achten Monat können sich die Kinder aus dem gehaltenen Sitzen zur Seite hin abstützen. Mühelos beherrschen sie jetzt Rotationsbewegungen des Rumpfes. Manche kommen schon zu einem Robben oder aus einem gehaltenen Krabbeln in die sichere Sitzposition zurück. Beim gehaltenen Stehen übernehmen sie nun das ganze Gewicht (
Abb. 3.5: Haltung des Säuglings beim Sitzen
Im neunten Monat nimmt das Kind Bauch- und Rückenlage nur noch kurz ein. Es dreht sich jetzt aus der Bauch- in die Seitlage und dann flüssig zum Sitzen, manchmal aber auch aus der Bauchlage erst in den Vierfüßerstand und dann über Seitverlagerung zum Sitzen (
Abb. 3.6: Übergang in den Vierfüßerstand
Im 10. und 11. Monat können sich alle Kinder durch Krabbeln fortbewegen. Sie sitzen stabil mit gestreckten Beinen (Langsitz). Der Rücken ist dabei aufrecht und gerade. Abstützen oder Abrollen zur Seite gelingen flüssig. Sie ziehen sich an Möbeln oder an den Erwachsenen zum Stand hoch, aus dem Knien, aus dem Sitzen oder aus dem Vierfüßerstand über das Hinknien auf einem Knie. Sie machen im Stand Schrittbewegungen auf der Stelle oder einzelne Schritte zur Seite, z. B. an einem niedrigen Tisch oder Hocker entlang. An beiden Händen gehalten machen sie einzelne Schritte nach vorne.
Am Ende des 12. Monats gehen fast alle Kinder einige Schritte an Möbeln entlang. Viele machen auch schon Schritte, nur an einer Hand gehalten. Das Sitzen gelingt in gutem Gleichgewicht und mit Abstützen nach allen Seiten. Die Beine sind dabei etwas abgespreizt.
3.2 Motorische Entwicklung vom 2. bis 6. Lebensjahr
Motorische Entwicklung im 2. Lebensjahr
Auch nach dem ersten Lebensjahr