Motorik und Wahrnehmung im Kindesalter. Henning Rosenkötter

Motorik und Wahrnehmung im Kindesalter - Henning Rosenkötter


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an der Verarbeitung optischer und akustischer Signale beteiligt.

      2.3 Das spinale System

      Das Rückenmark (Medulla spinalis) ist derjenige Teil des ZNS, der im Wirbelkanal der Wirbelsäule verläuft. Das spinale System umfasst also einerseits absteigende Bahnen der Motorik und andererseits aufsteigende Bahnen der Sensorik zur Weiterleitung der gefühlten Informationen. Auf jedem Segment des Rückenmarks verlassen periphere motorische Nerven rechts und links über die vordere Nervenwurzel den schützenden Nervenkanal. Die hintere Nervenwurzel wird auch als sensibles Neuron bezeichnet. Sie leitet Impulse aus dem Körper zur grauen Substanz des Rückenmarks.

      Reflexe sind programmierte Bewegungsabläufe. Auf einen spezifischen äußeren Reiz folgt eine schnelle, typische und reproduzierbare Reaktion. Da das Gehirn an der Reflexbildung nicht oder nur gering beteiligt ist, laufen Reflexe unbewusst ab. Diese Reaktionen sind daher sehr schnell und schützen uns in kurzer Zeit. Die kürzeste Verschaltung zwischen einem Motoneuron und einem sensiblen Neuron ist der Muskeleigenreflex. Wird z. B. die Kniesehne durch einen Schlag mit einem Gummihammer gedehnt, sendet das sensible Neuron das Dehnungssignal über einen sensiblen Nerv an das Rückenmark. Dort wird es direkt auf ein Motoneuron umgeschaltet und gelangt über den motorischen Nerv zum zugehörigen Muskel. Beim Kniesehnenreflex zieht sich der streckende Oberschenkelmuskel zusammen und bewirkt eine Streckbewegung im Kniegelenk. Solche Reflexreaktionen haben den Vorteil, sehr schnell und automatisiert abzulaufen. Rhythmische Bewegungsmuster wie Laufen oder Hüpfen vereinen in sich Merkmale von Willkürbewegung und von unwillkürlichen, durch Reflexe beeinflusste Bewegungen. Der Beginn kann willkürlich, also kortikal und subkortikal ausgelöst und am Ende bewusst kontrolliert werden. Einmal ausgelöst, sind solche wiederkehrenden und erlernten Muster aber fast automatisch auf reflexhafte Weise ohne großen Aufwand zu bewältigen. Wenn man einmal das Laufen, das Schwimmen, das Autofahren oder das Ballwerfen erlernt hat, können deren unbewusste Bewegungsanteile rasch und zuverlässig abgerufen werden. Wenn ein erlernter Bewegungsablauf modifiziert und an neue Bedingungen angepasst werden soll, muss er bewusst gesteuert und geübt werden, um dieses neue Muster wieder zu automatisieren. Das spinale System hilft auch dabei, das Wechselspiel zwischen Anspannung (Kontraktion) und Entspannung von gegensinnig arbeitenden Muskeln zu steuern. So können das Beugen und Strecken des Unterarms oder des Unterschenkels nur im Wechselspiel zwischen gegensinnig arbeitenden Beuge- und Streckmuskeln wirksam werden.

      Neben dem Eigenreflex gibt es noch andere Arten von Reflexen. So schützt uns der angeborene Lidschlussreflex vor einer Augenverletzung. Darüber hinaus gibt es erlernte (konditionierte) Reaktionen, wie die bedingte Sekretproduktion, die allein auf den durch Training zum bedingten (konditionierten) gewordenen Glockenton beim Pawlowschen Hund ausgelöst werden kann. Solche Arten von erlernten Reaktionen erfordern ein Zusammenspiel verschiedener Hirn- und Rückenmarkszentren.

      Beim Säugling gibt es zwei Arten von Reflexen, die wir kennen sollten: die Neugeborenen-Reflexe, die leider manchmal noch Primitiv-Reflexe genannt werden, und die reflexähnlichen Säuglings-Reaktionen.

      Als Neugeborenen-Reflexe werden angeborene Reflexbewegungen bezeichnet, an denen mehrere Muskelgruppen beteiligt sind und die nach vier bis acht Wochen spontan abklingen. Dazu gehören u. a. der Saugreflex, der Suchreflex, der Schreitreflex, der Fußgreif- und der Handgreifreflex. Nur eine schwache Form des Fußgreifreflexes kann manchmal noch über einige Monate ausgelöst werden. Die Neugeborenen-Reflexe statten den kleinen Säugling mit nützlichen Bewegungsschablonen aus, die überlebenswichtig sind: Der Suchreflex wird bei Berührung der Wange ausgelöst und führt zu einer Bewegung des Köpfchens zur Seite und zu einer Öffnung des Mundes. Er erleichtert das Auffinden der mütterlichen Brustwarze. Der Saugreflex tritt sofort ein, wenn die Lippen berührt werden. Der Saugreflex wird schon im Mutterleib genutzt: Das ungeborene Kind lutscht manchmal stark an seinem Daumen. Bekommt der Säugling Milch, wird gleichzeitig der Schluckreflex ausgelöst. Auch der Schluckreflex wird schon vor der Geburt im Ultraschallbild beobachtet: Das Kind schluckt Fruchtwasser.

      Die Säuglingsreaktionen sind Haltungs- und Stellreaktionen. Ihre komplexen Muster erfüllen eigentlich nicht mehr die Charakteristika von Reflexen, da der Ausprägungsgrad je nach Alter und Reifung des Kindes unterschiedlich sein kann und auch vom Wachheitsgrad und von emotionalen Faktoren abhängt. Zu den Säuglingsreaktionen zählen die »Landau-Reaktion« (Kind wird auf der Hand aus der Bauchlage hochgehoben), die Unterstützungsreaktion (Kind wird senkrecht unter den Armen gehalten und auf eine Unterlage gestellt) und die Traktionsreaktion (Kind wird aus der Rückenlage langsam an den Händen hochgezogen).

      2.4 Zusammenfassung: Das motorische System

      1. Pyramidales System: direkte Verbindung der Pyramidenzellen der motorischen Rinde mit Neuronen im Rückenmark

      2. Extrapyramidales System: supplementär-motorischer Kortex, motorischer Kortex, Basalganglien

      3. Kleinhirn: Verbindung zum assoziativen und zum motorischen Kortex und zur Muskulatur

      4. Spinales System: Rückkopplungsschleife zwischen Muskeln und Rückenmark

      Reflexe sind unbewusst ablaufende, vorprogrammierte Bewegungsmuster. Der Muskeleigenreflex verschaltet auf dem kürzesten Weg über das Rückenmark einen Dehnungsreiz mit einem motorischen spinalen Neuron. Reflexe und komplexe reflexartige Reaktionen ergänzen die Willkürmotorik mit automatisierten Bewegungsmustern. Die angeborenen Neugeborenen-Reflexe klingen in den ersten Lebenswochen und -monaten spontan ab. Säuglingsreaktionen und konditionierte Reflexe sind komplexe Bewegungsabläufe, die von Vigilanz, Emotion und bewussten und erlernten Mustern modifiziert werden.

      Weiterführende Literatur

      Brühlmann-Jecklin, E. (2016). Arbeitsbuch Anatomie und Physiologie. München: Urban & Fischer/Elsevier.

      Putz, R. & Pabst, R. (2007). Sobotta – Der komplette Atlas der Anatomie des Menschen in einem Band. München: Urban & Fischer/Elsevier.

      Vaupel, P. & Schaible, H.-G. (2015). Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie des Menschen. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

      3 Die Entwicklung der Körpermotorik

      3.1 Motorische Entwicklung im 1. Lebensjahr

      Die motorische Entwicklung von Kindern weist eine hohe Variabilität auf, nicht nur inter-, sondern auch intraindividuell. In erster Linie hängt dies wohl von unterschiedlichen, genetisch bedingten Veranlagungen und unterschiedlicher Reifung der Kinder ab. Bei vielen Kindern verläuft die motorische Entwicklung diskontinuierlich: Sie ist oft von scheinbaren Pausen, von Schüben oder Sprüngen gekennzeichnet. Die Reifung der Nervenbahnen verläuft von zentral nach peripher. Das erklärt, warum rumpf- und kopfnahe Muskelgruppen frühzeitiger zu komplexen Bewegungsmustern in der Lage sind als periphere. Dieses Reifungsphänomen wird uns später bei der Entwicklung der Handmotorik noch einmal begegnen. Zudem spielen Umgebungsbedingungen, fördernde wie hemmende, eine große Rolle. So ist das »Auslassen« oder »Verspätet-Kommen« von motorischen Entwicklungsschritten möglicherweise eine Entwicklungsbesonderheit oder ein Anzeichen für eine Entwicklungsstörung. Eine Klärung kann durch eine detaillierte Verlaufsbeobachtung und eine fachärztliche Untersuchung herbeigeführt werden. Aus diesen Gründen sind die nachfolgenden Altersangaben nicht als eine starre Grenze zu betrachten. Vielmehr sollen die Zeitangaben eine Orientierung geben.

      Die Entwicklung der Motorik läuft also keineswegs für alle Kinder nach einem einzigen »Fahrplan« ab. Etwa 10–15 % aller Kinder lassen gewisse Stadien der Entwicklung aus, holen sie später nach, oder diese Stadien erfolgen nicht in gleicher Reihenfolge. Es gibt durchaus Kinder, die zum Stehen und Gehen kommen, ohne vorher gerobbt oder gekrabbelt zu haben. Einige ziehen es vor, auf dem Hosenboden vorwärts zu rutschen (shuffling), andere bewegen sich durch Rollen oder Kreisrutschen vorwärts. Möglicherweise zeigen sich hier verschiedene Ausprägungen einer genetischen Veranlagung. Diese Kinder sollten kinderärztlich gut untersucht werden, aber keineswegs brauchen sie immer eine physiotherapeutische Behandlung oder stellen eine Risikogruppe für spätere Störungen der Lernfähigkeit dar.


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