Motorik und Wahrnehmung im Kindesalter. Henning Rosenkötter

Motorik und Wahrnehmung im Kindesalter - Henning Rosenkötter


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sind, zumindest sind Vermeidung von Bewegung und Unlust sowie psychosomatische Reaktionen (Bauch- oder Kopfschmerzen, sekundäres Einnässen, Schlafstörungen) zu beobachten.

      Begleitende Entwicklungsstörungen (Komorbiditäten) sind bei motorischen Störungen häufig. So können mit einer körpermotorischen Störung eine Störung der handmotorischen Koordination, eine Sprachentwicklungsstörung, eine Verhaltensstörung, eine Aufmerksamkeitsstörung oder eine emotionale Störung einhergehen.

      Ursachen

      Als Ursachen für eine Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF) werden familiäre Veranlagung, psychosoziale Faktoren und Beeinträchtigungen vor, während und direkt nach Geburt (prä- und perinatale Risikofaktoren) genannt, von denen im folgenden Kasten die wichtigsten aufgelistet sind. Eine Veranlagung ist häufig anzunehmen. Kann man taktvoll nachfragen, wird man sehr häufig hören, dass auch andere Familienmitglieder als Kind (oder sogar noch als Erwachsener) motorisch ungeschickt oder spätentwickelt waren.

      Risikofaktoren gelten nicht nur als prädisponierend oder auslösend für leichte motorische Beeinträchtigungen, sondern auch für schwere motorische Störungen und Störungen der geistigen Entwicklung.

      Einige Risikofaktoren für eine Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF)

      1. Mütterliche Risikofaktoren

      • EPH-Gestose (Stoffwechselkrankheit in der Schwangerschaft mit Ödemen, vermehrter Eiweißausscheidung der Nieren und Bluthochdruck, auch: HELPP-Syndrom, Eklampsie)

      • Schwere Erkrankung, Schock, Trauma, Narkose während der Schwangerschaft

      • Epilepsie

      • Bestimmte Infektionen (HIV, Röteln, Windpocken, Zytomegalie-Virus)

      • Medikamente, Nikotin, Alkohol, andere Drogen

      • Diabetes in der Schwangerschaft

      • Ungünstige sozioökonomische Situation (Arbeitslosigkeit, Armut, unzureichende Wohnung oder Ernährung)

      • Schwierige psychosoziale Situation (psychische Erkrankung, Gewalterfahrung, alleinstehend und/oder minderjährige Mutter)

      2. Kindliche Risikofaktoren

      • Frühgeburt vor der 36. SSW

      • Geburtsgewicht < 1500 g

      • Mehrlingsgeburt

      • Sauerstoffmangel, mangelhafte Durchblutung, Schock (vor der Geburt)

      • Asphyxie (Apgar nach 5 Min. < 7)

      • Schwere Infektionen nach der Geburt

      • Atemnotsyndrom durch Lungenunreife, Langzeit-Beatmung

      • Neugeborenen-Krampfanfälle

      • Genetische Erkrankung

      • Stoffwechselerkrankung

      4.4 Schwere Störungen der motorischen Entwicklung

      Sehr viel seltener als die Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen sind andere Bewegungsstörungen. Davon ist die wichtigste die Zerebralparese (wörtlich: Hirnlähmung; Infantile Zerebralparese; G80 nach ICD-10; DIMDI, 2020). Ursachen sind Hirnblutungen und Verlust von Hirngewebe durch Sauerstoffmangel, Blutdruckschwankungen, Infektionen, Hirnblutungen und Unfälle vor der Geburt (pränatal), im Laufe der Geburt (perinatal) oder nach der Geburt (postnatal), also die gleichen Risikofaktoren, die oben aufgeführt sind. Eine Infantile Zerebralparese (ICP) verursacht unterschiedliche Bewegungsstörungen, die durch eine Veränderung der Muskelspannung (Tonus), einen Verlust an Muskelkraft und eine Koordinationsstörung der Muskulatur charakterisiert sind. Die infantile Zerebralparese kommt bei etwa bei 0,3 %, also bei drei von 1000 aller Lebendgeborenen vor. Besonders Frühgeborene sind von dieser Krankheit betroffen. So leiden sehr kleine »Frühchen« etwa 100-300-mal häufiger an einer ICP als am errechneten Termin geborene Babys. Die Zerebralparese wirkt sich primär als eine körperliche Behinderung aus. Sie beeinträchtigt die willkürlichen Bewegungen und deren Koordination. Betroffene Kinder werden meist Spastiker genannt.

      Infantile Zerebralparese (ICP)

      Die ICP ist eine hirnorganische Bewegungsstörung. Sie führt zu einer Störung von Bewegung, Haltung und Motorik, ist bleibend, aber nicht unveränderlich und entsteht durch eine nicht fortschreitende Störung oder eine Verletzung des sich entwickelnden oder unreifen Gehirns.

      Unterformen der ICP sind die spastische Zerebralparese (in 75 % der Fälle), seltener die athetotische ICP und die ataktische ICP.

      Formen der Zerebralparese

      • Spastik

      – Störung der Haltung und der Bewegungsabläufe

      – Erhöhte Muskelanspannung (Hypertonus): in den Armen hoher Beugetonus, in den Beinen hoher Strecktonus, im Rumpf Überstreckung oder niedriger Tonus

      – Gesteigerte Muskeleigenreflexe (MER), die jede Spontanbewegung derart verstärken, dass die Bewegungssteuerung gestört wird

      – Babinski-Reflex als Zeichen einer Schädigung der Pyramidenbahn vorhanden

      – Verspätetes Abklingen der Neugeborenen-Reflexe: Kinder mit Spastik können einen Gegenstand oft nur schwer loslassen, weil der Greifreflex persistiert. Der Schluck- und der Würgereflex bleiben so stark bestehen, dass sie die Nahrungsaufnahme und die Mundmotorik behindern.

      Die abnormen Bewegungsabläufe sind gekennzeichnet durch

      – Verzögerte Umsetzung bei Bewegungsbeginn

      – Schlechte zeitliche und räumliche Koordination

      – Verringerte Kraft

      – Abnorme Körperhaltung

      – Verlangsamte Bewegungsgeschwindigkeit

      – Vermehrte Aktivierung der gegensätzlichen Muskelgruppen.

      • Athetose: unwillkürliche langsame, ausfahrend schlängelnde Bewegungen von Händen oder Füßen, oft mit Gelenküberdehnung

      • Ataxie: überschießende oder ruckartig verwackelte Bewegungen, die das Ziel nicht flüssig erreichen, abnorme Kraft und Genauigkeit.

      Die ICP tritt äußerlich in unterschiedlicher Verteilung, je nach Lokalisation der Hirnschädigung auf als

      • Tetraparese: Lähmung aller vier Extremitäten

      • Diparese: Lähmung der oberen oder (meist) unteren Extremitäten

      • Hemiparese: Halbseiten-Lähmung der rechten oder der linken Körperseite

      • Monoparese: Lähmung überwiegend nur einer Extremität.

      Der Schweregrad einer ICP und der Erwerb motorischer Funktionen wird mittels des »Gross Motor Functions Classification System« (kurz GMFCS: System zur Klassifizierung der grobmotorischen Fähigkeiten) beschrieben (Palisano et al., 2008).

      Die ICP ist oft häufig begleitet von

      • Epilepsie (30–50 %)

      • Psychischen Störungen, Verhaltensstörungen

      • Augensymptomen (Schielen), Störungen der zentralen Sehverarbeitung

      • Hör-, Sprech- und Sprachstörungen

      • Minderwuchs und Muskelschwund der betroffenen Körperteile

      • Entwicklungsverzögerung, geistiger Behinderung.

      4.5 Behandlung körpermotorischer Störungen

      Störungen


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