Lou Reed - Transformer. Victor Bockris

Lou Reed - Transformer - Victor Bockris


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sich einem Nervenzusammenbruch näherte. „Ich glaube nicht, dass einer von uns damals verstanden hat, dass Lincoln schizophren war“, erinnert sich Shelley. „Lou war so damit beschäftigt, seine eigene Show nach Lincolns Vorbild abzuziehen, dass ich nicht weiß, ob ihm aufgefallen ist, dass Lincoln wirklich krank war, oder ob er lediglich dachte, Lincoln sei einfach die krassere Nummer. Er versuchte, Lincolns Eigenschaften und Fähigkeiten zu übernehmen. Vieles von dem, was Lou ist, kommt von Lincoln.“ Shelley sagte, für beide Männer sehe der Ablauf einer Liebesgeschichte etwa so aus: „Ich bezaubere dich und bin gut zu dir und belohne dich mit meinem Wissen und meiner Gegenwart, und dann mache ich dich fertig.“ Allen Hyman stimmt zu, dass Lou viele seiner krausen Ansichten über das Leben von Lincoln übernommen hatte. „Viel durchgedrehter als Lincoln konnte man eigentlich nicht sein“, sagte er. „Außer man war Lou.“

      Kurz nachdem Shelley Lou verlassen hatte, wurde Lincoln in die Klapse abtransportiert, als seine Eltern ihn in einem so desolaten Zustand vorfanden, dass ihre schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen wurden. Swados Schwester Elizabeth zufolge befand er sich „in einem Zustand völliger Desorientierung. Er war weder dazu in der Lage, dem Unterricht zu folgen, noch konnte er sein Zimmer verlassen. Die Stimmen in ­seinem Kopf gaben ihm zu viele einander widersprechende Anordnungen.“

      So verlor Lou kurz hintereinander seine beiden besten Freunde, seine beiden Spiegel. Zwar gab es noch Delmore, aber der kam entweder gerade vom Spital oder war auf dem Weg dahin – jedenfalls war er nicht der Mann, an dessen Schulter sich Lou ausweinen konnte, obwohl er ihm einen sehr wichtigen Rat gab. Er sagte Lou, er solle einen Psychiater aufsuchen, und zwar eine Frau, denn einem Mann würde er doch nicht zuhören.

      Trotz des Vorsatzes, ihrem Exfreund aus dem Weg zu gehen, ging es Shelley nach der Trennung von Lou sehr schlecht. Also zog sie los und tat etwas, das Lous Aufmerksamkeit garantiert auf sie lenken würde – sie färbte sich die Haare orange. „Ich erinnere mich daran, dass Lou, als er mich sah, sagte: ‚Wow! Jetzt hat man ja echt Mitleid mit dir, siehst ja aus wie Miss Trash.‘“ Natürlich musste Lou gleich mit ihr nach Freeport fahren, um seinen Eltern zu zeigen, was er aus dem netten jüdischen Mädchen gemacht hatte, das ihnen so sympathisch gewesen war. „Sie sahen das nette, gesunde Mädchen, das sich so zu seinem Nachteil verändert hatte, und sie sagten sich: ‚O Gott, Lou hat es schon wieder geschafft. Er hat sie ruiniert, er hat eine Schlampe aus ihr gemacht‘“, erinnert sich Shelley. „Seine Mutter sagte sogar zu mir: ‚Ich hoffe, er behandelt dich nicht so wie uns.‘ Wir haben seine Mutter wirklich geschockt. Er fand es super.“

      Sobald sie wieder im College waren, trennten sie sich. Aber diesmal war sie entschlossen, niemals wieder zu ihm zurückzukehren. „Er war so ein Mistkerl.“

      Der November 1963 war der Monat der Erkenntnis für Lou. Es begann damit, dass Bob Dylan ein Konzert in Syracuse gab. „Seit er mit seinem ersten Album herausgekommen war, war Dylan Lous großes Vorbild“, erklärt Mishkin. „Wir kannten seine Musik in- und auswendig. Plötzlich hatte man beides zusammen, Musik und Gedichte, und es war nicht Folkmusik. Lou hat’s echt umgehauen. Es war eine aufregende Sache. Lewis besorgte sich sofort eine Mundharmonika. Und ich erinnere mich daran, wie wir in seinem Apartment saßen und Stevie Windheim (von den Eldorados) und Lewis versuchten, die Noten von „Baby, Let Me Follow You Down“ herauszubekommen. Schließlich hatten wir sie, und wir spielten das Ganze, und wir hätten’s sicher nicht bei einem unserer Auftritte gespielt, aber es gefiel uns.“

      Die Ermordung von Präsident Kennedy am 23. November 1963 markierte einen Wendepunkt in Lous Leben. Das Ereignis versetzte Delmore solch einen Schlag, dass er sich nie mehr davon erholte. Lou sah hilflos zu, wie sein Mentor und Saufkumpan in eine paranoide Depression verfiel. Er gab sich nicht einmal mehr den Anschein, noch zu unterrichten, und zog sich in die Orange Bar zurück. Bald war es Lou, der sich um seinen Lehrer kümmerte; er brachte ihn nach langen Nächten in der Orange Bar nachhause, er achtete darauf, dass Delmore Schlüssel und Zigaretten hatte, und kaufte manchmal Gemüse oder irgendwelche Kleinigkeiten für ihn ein. Wenn Schwartz die Orange Bar verließ, befand er sich häufig in anderen Sphären, und wie eine menschliche Wünschelrute ging er in jede Richtung los, die entweder menschliche Nähe oder, was noch häufiger vorkam, Ärger bereitzuhalten versprach. Lou überzeugte sich immer davon, dass er bis nachhause kam und sich ins Bett legte und dass die Gefahr, dass er das Haus durch eine achtlos fallen gelassene Zigarette bis auf die Grund­mauern abfackelte, nicht allzu groß war. Nach einer gewissen Zeit nahm diese Art der Fürsorge für Lou jedoch einen zunehmend unheimlichen Charakter an, denn er begann sein eigenes Schicksal in dem des älteren Mannes zu erkennen. Lou, der bis jetzt von Delmores ermutigendem Zuspruch profitiert hatte und ernsthaft mit dem Gedanken spielte, nach Harvard zu gehen, fand sich plötzlich neben einem Mann wieder, auf den man aufpassen musste und der ohne Unterstützung nicht mehr in der Lage war, von A nach B zu gelangen. „Lou war sich darüber im Klaren, dass man in Delmores Nähe bleiben, ihn beobachten und für ihn sorgen musste“, sagt Shelley. „Ich denke, Lou fand das allmählich etwas mühsam.“

      Unterdessen bereitete Lou seinen eigenen Untergang vor. Seit er nach der Elektroschocktherapie auf alle möglichen Medikamente gesetzt worden war, hatte sich Lou zu einem passionierten Drogenkonsumenten entwickelt; oder, um seine eigene Definition zu benutzen, in „einen Smörrebröd-Schmuck“. Falls er gerade keine Pillen einwarf, rauchte er Dope, nahm LSD, aß Pilze, zog sich Kokain rein oder schluckte Downer. Nebenbei führte er sich auch noch ausreichende Mengen Alkohol zu Gemüte, um die Orange Bar rund um die Uhr in Betrieb zu halten. Nun hatte er seinem reichhaltigen Drogenmenü zum ersten Mal Heroin hinzugefügt, wäh­rend er es vorher nur verkauft hatte.

      Shelley fiel auf, dass es mit Lou von dem Zeitpunkt an, als er anfing, Heroin zu nehmen, bergab ging. Beim Anblick von Nadeln war er früher wie gelähmt vor Entsetzen gewesen und hatte gesagt, er würde sich niemals Drogen injizieren. Als er dann auf einmal damit begann, Heroin zu spritzen, behauptete er steif und fest, er habe alles unter Kontrolle und könne jederzeit damit aufhören, wenn er nur wolle. Shelley erinnert sich: „Er war ständig auf Heroin und dann wieder runter davon. Er fand diese Erfahrung ziemlich fürchterlich, und außerdem hatte er auch einige Horrortrips.“

      Aber Lous Hilfeschreie ließen Shelley kalt. Lou ging es auch deshalb so dreckig, weil er sich der Tatsache bewusst geworden war, dass Shelley ihn nicht nur für immer verlassen hatte, sondern dass sie auch noch mit zwei erwachsenen Männern zusammenwohnte, und zwar nur drei Türen von Lous Apartment entfernt. Bei einer anderen Gelegenheit, als sie mit ihrem neuen Freund und dessen Kumpel aus dem Koreakrieg in der Orange Bar zusammensaß, kam ein Freund von Lou in höchster Aufregung angelaufen und sagte ihr, dass es Lou sehr dreckig gehe. Obwohl sie damit rechnete, dass er die Nacht vielleicht nicht überleben würde, ließ ihm Shelley lediglich ausrichten: „Wenn du jemanden schickst, um mir zu sagen, dass du stirbst, dann stirb!“

      Shelley hatte aber trotzdem noch Mitleid mit Lou. „Lou geht es nie gut, das ist einfach nicht in seinen Genen vorgesehen“, stellte sie später fest. „Er hat das Gefühl, dass er es einfach nicht verdient. In dem Moment, wo du sagst, dass Lou doch eigentlich ganz in Ordnung ist, denkt er, irgendwas stimmt mit dir nicht. Denn wenn du ihn ganz in Ordnung findest, dann siehst du nicht, wie schlecht er in Wirklichkeit ist, du siehst all seine schlechten Seiten nicht. Er kann sich einfach nicht wohl fühlen, und genauso wenig kann er es akzeptieren, dass ihn jemand gern hat. Das ist das Traurige an Lou.“

      Swados, nach Schwartz der scharfsichtigste Mensch, den Reed am College kennen lernte, war der Erste, der darauf hinwies (in einer Unterhaltung mit einer Freundin, die ein Jahr später stattfand), dass sich unter Lous manchmal kindischer Verzweiflung und seiner Sehnsucht nach jemandem, der ihn bemutterte, ein zweiter Lou verbarg, der weitaus hartgesottener, klarer und realistischer war.

      Er besaß Energie und Ehrgeiz in einem Ausmaß, von dem sich nur die wenigsten Leute in Syracuse eine Vorstellung machten. Schon die Tatsache, dass er mit seinen Drogenexperimenten die nächsten fünfzehn Jahre weitermachen und sie ohne fremde Hilfe überleben würde, lässt darauf schließen, dass er im Grunde seines Herzens nicht nur ein Mann war, der überall durchkam, sondern dass er jemand war, der Drogen regelrecht studierte und darauf achtete, dass er über das, was er sich da einverleibte, Bescheid wusste.

      Lous wichtigste Entwicklung spielte sich in seinem letzten


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