Lou Reed - Transformer. Victor Bockris

Lou Reed - Transformer - Victor Bockris


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Männern, die er gekannt hatte, vom Liebesleben der Königin von England und so weiter und tat dies in so Vertrauen erweckender und Ehrfurcht gebietender Weise, dass er seine erstaunten Zuhörer davon überzeugen konnte, er wisse, wovon er rede.

      Wenn er diese Ausflüge in die Nostalgie eines verlorenen Lebens satt hatte, las er den Rest der Unterrichtszeit vor, was an schlechten Tagen in unzusammenhängendes Gemurmel überging. Im hinteren Teil der Orange Bar eröffnete er am Tisch links ein zweites Büro, wo ihm Lou, einer der wenigen Studenten, die etwas mit ihm anfangen konnten, gewöhnlich gegenübersaß. Umringt von mehreren Stuhlreihen, tat Delmore hier das, was er am besten konnte. Bellow bezeichnete ihn als den „Mozart der Konversation“.

      Shelley, die auch meist mit ihnen an diesem Tisch saß, erinnert sich, dass Lou und Delmore einander verehrten. „Delmore trank die ganze Zeit, warf Valium ein und redete. Er war groß und kantig, und er bewegte sich auf sehr zurückhaltende Art. Seine Hände nahmen irgendwelche Dinge vom Tisch und legten sie wieder hin; er saß immer vornübergebeugt, und ich hatte stets das Gefühl, er würde sabbern, weil er ständig aß und trank und irgendwas ausspuckte. Er war sehr direkt zu mir. Er sagte: ‚Ich mag Lou sehr. Du musst dich um ihn kümmern, er muss Schriftsteller werden. Er ist Schriftsteller. Und du musst dein Leben aufgeben, damit er Schriftsteller werden kann. Lass nicht zu, dass er dich wie Dreck behandelt. Aber toleriere alles, was er tut, um bei ihm zu bleiben, denn er braucht dich.‘“

      Um möglicherweise der Meinung, er sei nur ein Rockgitarrist, etwas entgegenzusetzen, brachte Lou in seinem späteren Leben immer wieder seine Beziehung zu Delmore in Erinnerung. „Delmore war mein Lehrer, mein Freund und der Mann, der mein Leben verändert hat. Er war der klügste, lustigste und traurigste Mensch, der mir je begegnet ist. Wir betrieben unser Studium in einer Bar. Eigentlich war es so, dass er redete und ich ihm zuhörte. Leute, die mich kennen, würden sagen: ‚Das kann ich mir nicht vorstellen.‘ Aber so war’s nun mal. Ich hielt Delmore für den Größten. Um acht Uhr morgens fingen wir mit einem Drink an. Er war Ehrfurcht gebietend. Er bestellte fünf Drinks auf einmal. Er war sehr klug. Er konnte das Lexikon herunterbeten, angefangen bei dem Buchstaben A. Und er war einer der lustigsten Menschen, die ich je in meinem Leben getroffen habe. Er war der ausdrucksvollste, lustigste Erzähler aller ­Zeiten. Delmore las mir damals Finnegan’s Wake laut vor, denn das schien die einzige Art zu sein, wie ich mich da durcharbeiten konnte. Delmore war der Ansicht, dass man unsinnigere Dinge mit seinem Leben anstellen konnte, als es der Lektüre von James Joyce zu widmen. Er war sehr intellektuell, aber auch sehr lustig. Und er hasste Popmusik. Er brüllte die Leute in der Bar an, sie sollten die Musikbox ausmachen.

      Damals war ich immer zur Stelle, egal, um was für sonderbare Geschichten oder Forderungen es sich handelte. Für ihn machte ich alles. Sogar in seinem Abstieg war er unglaublich. Ich wollte einen Roman schreiben und besuchte deswegen den Kurs für Kreatives Schreiben. Gleichzeitig spielte ich in Rock’n’Roll-Bands. Von da aus war es nur noch ein kleiner Schritt, bis ich sagte: ‚Warum bringe ich nicht beides zusammen?‘“

      Eine Geschichte von Schwartz öffnete Lou wirklich die Augen. Es geht darin um die Halluzinationen eines Sohnes, der sich in einem Kino ­wieder findet, wo er einen Dokumentarfilm über seine Eltern ansieht; er verliert völlig die Fassung und warnt sie schreiend davor, niemals einen Sohn zu haben. „In Dreams Begin Responsibilities beeindruckte mich sehr“, erinnert sich Lou. „Dass etwas so unglaublich Kraftvolles mit so wenigen Worten und auf so wenigen Seiten geschaffen werden konnte. So etwas konnte man auch schreiben, ohne unbedingt den größten Wortschatz der Welt haben zu müssen. In dieser Art wollte ich schreiben: einfache Worte benutzen, um Gefühle auszulösen und sie dann in Musik umzusetzen.“

      Was Delmore anging, so war dieser davon überzeugt, in Lou einen Schriftsteller vor sich zu haben. Ihre Freundschaft befand sich auf dem Höhepunkt, als der ältere Dichter eines Abends in der Orange Bar seinen Arm um Lous Schultern legte und zu ihm sagte: „Ich werde bald in eine bessere Welt als diese hier verschwinden, aber ich möchte, dass du weißt, dass mein Geist dich verfolgen wird, wenn du dich für Geld verkaufst oder in der Werbung endest oder Mist schreibst.“

      „Ich hatte mir überhaupt noch nichts überlegt, schon gar nicht, mich für Geld zu verkaufen“, erinnert sich Lou. „Ich nahm seine Worte sehr ernst. Er sah schon damals, dass ich in der Lage war, ganz anständig zu schreiben. Ich habe ihm nämlich nie etwas von dem gezeigt, was ich schrieb – ich hatte wirklich Angst davor. Trotzdem hielt er so viel von mir. Das war ein überwältigendes Kompliment, und ich habe es nie vergessen.“

      So nahe sie einander auch gewesen sein mochten, so vertraten sie doch zu zwei Themen völlig unterschiedliche Meinungen. Als Mann, der in den Vierzigerjahren erzogen worden war, hasste Delmore alle ­Homosexuellen. Die verständnislose Einstellung gegenüber Schwulen in den frühen Sechzigern, die sie zusammen mit Kommunisten oder Drogenabhängigen in einen Topf warf, war bei konservativen männlichen Amerikanern sehr verbreitet. Aus diesem Grund konnte Lou viele seiner besten ­Geschichten nicht zeigen, da sie schwule Themen hatten.

      Und dann war da noch der Rock ’n’ Roll. Delmore verachtete diese Musik und insbesondere die Texte, die er als eine Art Krebs der Sprache wahrnahm. Delmore wusste zwar, dass Lou in einer Band spielte, aber er schob es als eine kindliche Beschäftigung beiseite, der Lou ­entwachsen würde, sobald er sein Literaturstudium aufnehmen würde.

      So war Delmore Schwartz von den beiden wichtigsten Einflüssen auf Lous Arbeit ausgeschlossen.

      Im seinem dritten Collegejahr war Lous Beziehung zu Shelley auf ihrem absoluten Höhepunkt, zu einem Zeitpunkt also, da er wirklich Vertrauen zu sich selbst fasste und sich allmählich veränderte. In der Wohnung in der Adams Street, zwischen Gitarren, Verstärkern, Büchern, Kleidern und Zigaretten versteckt, lebte Lou jetzt in einer Welt, die sich ausschließlich um Musik drehte, begleitet von Shelley. Sie kannte seine geheimsten Winkel, besser als irgendjemand sonst, und sie hatte ihn gekannt, bevor er seine Panzer anlegte. Sie war sein bester Freund, der ihm direkt in die Augen sehen konnte, für den er schrieb und spielte.

      Lou hatte es bitter nötig, geerdet zu werden, denn obwohl Lincoln so cool wie Schlagsahne und schlauer als jedes Amphetamin sein konnte, war er letztendlich ein Verrückter. Lou brauchte zwar immer einen Hof­narren, der ihn amüsierte, aber mindestens genauso dringend brauchte er die Gegenwart einer normalen Frau aus den Fünfzigerjahren, die ihn beruhigen konnte, wenn seine Fantasien allzu heftig wurden. Shelley Albin erfüllte für Lou sämtliche Rollen: Mutter, Schwester, Muse, Geliebte, Trös­terin, Therapeutin, Drogenbeschafferin und ebenbürtig Verrückte. Alles spielte sich zwischen ihr und Lou ab – vierundzwanzig Stunden am Tag.

      Während Delmore in der Orange Bar Geschichten über Perverse und Verrückte erzählte und über wirkliche oder eingebildete Vorgänge in Washing­ton schäumte, trank Lou. Er flog auf seinem magischen Drogen­teppich dahin. Unzählige Manuskriptseiten und anderer Schutt türmten sich in seinem Zimmer, das, Shelleys Empfindung nach, mit voller Absicht aussah wie ein Schweinestall. Lou hatte eine sehr intensive, aufregende Beziehung zu Lincoln, der immer mehr ausrastete, sich in einem langen, verdrehten Romanwerk verlor, das ihm die Stimmen in seinem Kopf diktierten, wobei sie widersprüchliche Anordnungen gaben. Lou zeigte auch, dass er die nur wenigen gegebene Fähigkeit besaß, sich drei- oder viermal in der Woche vor ein Publikum hinzustellen und guten Rock ’n’ Roll zu spielen; er spielte die Gitarre auf eine wilde und erfinderische Art, er war ein poetischer Mundharmonikaspieler, und seine Stimme wurde zu einer menschlichen Musikbox.

      Alles stand im Begriff, sich zu ändern. Rockmusik bestand aus „Telstar“ von den Tornados, „Walk Like A Man“ von den Four Seasons, „He’s So Fine“ von den Chiffons – Lous Ansicht nach alles tolle Platten. Was auf den Colleges und den Universitäten in Amerika jedoch wirklich von sich reden machte, war Folkmusik. Dylan stand kurz vor dem künstlerischen Durchbruch und schlug Lou im Kampf um den Titel, Poeta laureatus einer Generation zu werden.

      An diesem Punkt angelangt, gab es für Lou mehrere Möglichkeiten. Unter den Fittichen von Delmore Schwartz hätte er nach Harvard gehen und vielleicht ein großer Dichter werden können. Er hätte Shelley heiraten und ein Folksänger werden können. Er hätte mit jedem Musiker in Syracuse zusammen eine Band gründen können. Stattdessen begann er sich von all seinen Freunden und Verbündeten, von


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