Lou Reed - Transformer. Victor Bockris
dass Lou die Dinge, die um ihn herum vorgingen, auf vielen verschiedenen Ebenen wahrnahm und sie häufig anders interpretierte als andere Menschen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Lou zwei Freunde gefunden, denen er sich öffnen konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass sie ihn lächerlich machten oder ihn durch den Kakao zogen. Für jemand, der so von anderen abhängig war, um sich zu vervollständigen, waren die beiden wichtige Verbündete.
Zu Beginn war Lous erste Liebesgeschichte idyllisch. Er stand selten vor Mittag auf, weil er die ganze Nacht über aufblieb. Er traf sich manchmal mit Shelley auf den verschneiten Stufen, die zu ihrem Wohnheim führten. Oder sie machte sich am frühen Nachmittag auf den Weg und trampte die zwanzig Minuten von ihrem Wohnheim zu dem Viertel, in dem Lou und Lincoln wohnten. Wie allen Studentinnen von Syracuse drohte ihr der sofortige Hinauswurf, wenn sie ein Männerwohnheim betrat; sie klopfte also nur an das Fenster des im Souterrain liegenden Zimmers und wartete darauf, dass Lou auftauchte. Und wenn er dann kam, bot sich ihm ein Blick auf seine Freundin, den er besonders schätzte: Er sah zu ihr hinauf und sie, das Gesicht von den langen Haaren und einem Schal umrahmt, blickte lächelnd zu ihm hinunter. „Ich mochte es, so von oben in ihre Höhle hineinzusehen“, erinnert sie sich. „Es war eine Art Niemandsland. Ich stand gern draußen. Meine Freiheit war mir wichtig. Und Lou fand es gut, dass ich jede Nacht in mein Wohnheim zurückkehren musste.“ Von dort brachen die drei ins Savoy auf, wo sie mit dem Kunststudenten Karl Stoecker, einem Freund von Shelley und dem Anglistikstudenten Peter Locke, mit dem Lou immer noch befreundet ist, zusammentrafen. Jim Tucker, Sterling Morrison und eine Menge anderer Leute trudelten auch so nach und nach ein, und sie verbrachten den Rest des Tages miteinander, hauptsächlich, indem sie schrieben, redeten, diskutierten, knutschten, Gitarre spielten und zeichneten. Lou war damit beschäftigt, akustische Gitarre zu spielen oder Folksongs zu schreiben. Der Rest der Zeit wurde mit Schlafen oder einem gelegentlichen Besuch des Unterrichts verbracht. Wenn es den dreien im Savoy langweilig wurde, gingen sie zu dem schrillen Corner Bookstore um die Ecke oder in die Orange Bar. Aber sie kamen immer wieder zurück zu ihrem Hauptsitz im Savoy und dem sympathischen Eigentümer, Gus Joseph, der seit fünfzig Jahren die Studenten kommen und gehen sieht und sich trotzdem noch an Lou als an jemand Besonderen erinnert.
Lou war so verliebt in Shelley, dass er im Herbst 1961 beschloss, sie zu den Weihnachts- beziehungsweise jüdischen Chanukkaferien nach Freeport mitzunehmen. Shelley war sich darüber im Klaren, dass Lou die Ursachen für seine rebellische Haltung in seiner schwierigen Kindheit sah, und so begriff sie, dass es nicht einfach für ihn sein würde, sie nachhause mitzunehmen. Sie erinnert sich aber daran, dass Lou dachte, er könne damit Punkte bei seinen Eltern sammeln. „Es war schwer einzuschätzen. Er wollte seinem Vater zeigen, dass er in Ordnung war. Er wusste, sie würden mich mögen. Ich habe den Verdacht, dass er in mancher Hinsicht seinen Eltern doch gefallen wollte und dass ihm daran gelegen war, jemanden nachhause mitzubringen, den sie akzeptieren würden.“
Zu ihrer Überraschung wurde Shelley von Lous Eltern in Freeport mit offenen Armen empfangen. Sie fühlte sich dort sehr wohl und herzlich aufgenommen. Lou hatte ihr stark den Eindruck vermittelt, dass seine Mutter ihn nicht liebte, aber Shelley sah das anders; sie empfand Toby Reed als eine warmherzige, wunderbare Frau, die alles andere als selbstsüchtig war. Und Sidney Reed, von Lou als kaltherziger Prinzipienreiter dargestellt, schien ihr ein liebender Vater zu sein. Beide waren genau das Gegenteil dessen, was Lou beschrieben hatte. Sie hatte den Eindruck, Mr. Reed „wäre für seinen Sohn über glühende Kohlen gelaufen“.
Gleichzeitig erkannte Shelley, dass Lou seinen Eltern sehr ähnlich war. Er sah nicht nur genauso aus, sondern besaß auch all ihre guten Eigenschaften. Als sie jedoch den Fehler beging, ihm ihren positiven Eindruck zu vermitteln, indem sie auf das sympathische Zwinkern in den Augen von Mr. Reed und dessen trockenen Humor, den auch Lou besaß, hinwies, blaffte ihr Freund nur: „Hast du nicht kapiert, dass sie Mörder sind?!“
Nach einer schönen Woche bei den Reeds, die allerdings nicht ganz ohne Spannungen verlief, machte sich Shelley ihren eigenen Reim auf die widersprüchliche Geschichte. In diesem Kampf zwischen klugen Köpfen, der schon seit Jahren im Gang war, ging Lou in Angriffsstellung, sobald er über die Schwelle seines Elternhauses trat. Er versuchte auf jede denkbare Art, seine Eltern in Angst und Schrecken zu versetzen und zu paralysieren. Über ihren Häuptern schwebte die ständige Drohung, dass Lou jederzeit die Nerven verlieren, eine besonders gemeine Bemerkung machen oder das harmonische Gleichgewicht des Zusammenlebens durch eine irrationale Handlung zerstören konnte, und auf diese Weise hatte er gelernt, sie zu kontrollieren. Beispielsweise gab Mr. Reed Lou an einem Abend den Autoschlüssel und Geld, um mit Shelley nach New York zu fahren und essen zu gehen. Aber solch ein Austausch konnte zwischen Vater und Sohn nicht ohne einen – an Comics erinnernden – Kampf vor sich gehen. Als Lou mit Shelley auf die Eingangstür zusteuerte, musste sein Vater unbedingt noch die Bemerkung loswerden, dass er, da er nun auf dem Weg in die Stadt sei, vielleicht doch eventuell noch ein sauberes Hemd anziehen sollte. Auf der Stelle war Lou auf hundertachtzig, brachte seinen Vater dazu, sich wie eine Küchenschabe zu fühlen, und warf seiner Mutter einen bitterbösen Satz an den Kopf, bevor er türknallend hinausstürmte.
Ohne jede Rücksicht auf andere, brachte er sich und Shelley durch seinen ungestümen Fahrstil auf dem Weg nach New York fast ums Leben. „Ich weiß noch genau, wie er mich, die ahnungslose Prärierose aus dem mittleren Westen, in die Großstadt mitnahm“, erzählt Shelley. „Bei dieser Fahrt, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde, standen mir wirklich die Haare zu Berge. Lou zeigte mir, wie man sich auf das Heizgitter des Village Gate stellen konnte. Man konnte Musik hören und hatte es gleichzeitig warm.“
Seine Eltern, so erkannte sie, „wussten überhaupt nicht, was in ihm vorging, und sie waren sehr unglücklich und beunruhigt wegen all der schrecklichen Dinge, die er dachte. Er muss sich wirklich mies fühlen, der arme Junge, wie schrecklich!“ Ihr Verhältnis resultierte darin, dass seine Eltern ihm, um allen unschönen Situationen aus dem Weg zu gehen, jeden Wunsch von den Augen ablasen, als sei er der heimgekehrte, verlorene Sohn. Die einzige Person im Hause Reed, die von Lou mit einer gewissen Zuneigung bedacht wurde, war Elizabeth; sie selbst war ganz vernarrt in Lou und fand ihn toll.
In ihrer netten, gewandten, offenen Art standen die Reeds da wie die Lämmer auf der Weide und warteten darauf, dass Lou ihnen sein Brandmal aufdrückte. Dieses Ritual begann damit, dass Lou als Erstes seine Zuneigung zu dem schwarzen Schaf der Familie, einer gewissen Judy, bekundete. Kaum zur Tür hereingekommen, erkundigte sich Lou ungeduldig nach ihren Aktivitäten und ließ sich des Langen und Breiten darüber aus, dass er sie jedem anderen in der Familie vorziehe; dann brach seine Mutter häufig in Tränen aus. Anschließend machte sich Lou daran, die Aufmerksamkeit der zwölfjährigen Elizabeth für sich in Anspruch zu nehmen. Mit großem Brimborium zog er sich mit ihr zu einem regen Austausch von Vertraulichkeiten zurück, von dem seine Eltern selbstverständlich ausgeschlossen waren. „Sie war niedlich“, erinnert sich Shelley. „Sie sah aus wie Lou. Seine Mutter und sein Vater sahen auch so aus. Sie sahen alle genauso aus wie er. Es war zum Überschnappen. Lou fühlte sich ihr gegenüber als Beschützer. Und sie war so süß. Sie hatte nicht so viel Charakter wie Lou, aber sie war auch nicht langweilig.“ Alle seine Aktionen waren darauf gerichtet, seine Eltern gleichzeitig auszuschließen und sie zu seinen Gefangenen zu machen. Und wie alle Studenten, die ihre Eltern besuchten, war Lou auch damit beschäftigt, ihnen Geld aus der Tasche zu ziehen, während er zuhause ein und aus ging, als befände er sich in einem Hotel. Sobald er alle im Haus so weit hatte, dass sie genau das taten, was er wollte, begann Lou, an seinem Aufenthalt Geschmack zu finden.
Bei diesem ersten Besuch war die Lage so extrem, dass Toby Reed Shelley, die in ihren Augen die perfekte Schwiegertochter war, ins Vertrauen zog. „Sie waren ziemlich besorgt darüber, was er nachhause bringen würde“, erinnert sie sich. „Und als sie mich sahen, dachten sie dann: ‚O Gott, vielleicht ist doch alles in Ordnung mit ihm.‘ Wir beide, sie und ich, haben festgestellt, dass wir ihn wirklich gern hatten und liebten.“ Mrs. Reed erzählte ihr, wie schwierig Lou sein konnte, und versuchte herauszufinden, was Lou über seine Eltern sagte. Shelley hatte den Eindruck, dass die Reeds Lou nichts nachtrugen und nur sein Bestes wollten. Mrs. Reed schien nicht verstehen zu können, warum Lou seine Eltern hasste und ihnen Vorwürfe machte. Angesichts dieser sonderbaren Sachlage hinter der hübschen Fassade des reedschen Hauses zog Shelley zwei Schlussfolgerungen: