Lou Reed - Transformer. Victor Bockris
nur: ‚Ich bin an der N. Y. U. angenommen worden, und ich gehe dorthin.‘ Ich sagte: ‚Warum machst du denn so etwas, es hat uns da oben doch so gut gefallen, ich habe ihnen schon mitgeteilt, dass ich kommen werde, ich dachte, du würdest auch mitkommen …‘ Er sagte: ‚Nein, ich bin an der N. Y. U. Uptown angenommen worden, da gehe ich hin.‘“
Ab dem Herbstsemester 1959 besuchte Lou das College. Mitten in New York City gelegen, war die New York University eine clevere Wahl für jemanden, der nichts lieber tat, als im Five Spot, im Vanguard und anderen Klubs in Greenwich Village Jazz zu hören. Doch Lou hatte sich nicht den im Village beheimateten Teil der N. Y. U. ausgesucht, sondern schrieb sich unverständlicherweise in der Abteilung ein, die recht weit uptown in der Bronx lag. N. Y. U. Uptown konnte Lou jedoch weder die Möglichkeiten noch die Unterstützung bieten, die er brauchte. Stattdessen fand er sich dort in einer fremden, feindseligen Umgebung ganz auf sich allein gestellt. Eine seiner wenigen Vergnügungen bestand in den regelmäßigen Besuchen im Mekka des modernen Jazz, dem Five Spot; allerdings reichte sein Geld nicht immer für den Eintritt, und so stand er oft vor der Tür und lauschte den Klängen von Thelonious Monk, John Coltrane und Ornette Coleman, die bis auf die Straße hinausdrangen.
Lous Hauptinteresse galt ohnehin nicht dem College. Das Uni-Gelände in der Bronx lag nicht weit vom Payne-Whitney-Institut entfernt, einer psychiatrischen Klinik an der Upper East Side von Manhattan, wo er sich einer Reihe von intensiven Nach-Schockbehandlungen unterzog. Hyman zufolge, der mit ihm während des Semesters mindestens einmal pro Woche telefonierte, ging es Lou damals sehr, sehr schlecht. „Er war drei- oder viermal pro Woche in der Therapie“, erinnert sich Hyman. „Er hasste die N. Y. U., er hasste die Uni wirklich. Er durchlief eine ziemlich schwierige Phase und stand unter Medikamenten. Es fiel ihm außerordentlich schwer, das College und seinen Alltag auf die Reihe zu kriegen. Er war fertig. Er hatte zu jener Zeit dermaßen viel mit seinen emotionalen Geschichten zu tun, und womöglich war er nicht weit von einem mittleren Nervenzusammenbruch entfernt.“
Im Frühjahr 1960, nach zwei Semestern, hatte Lou die Sitzungen im Payne-Whitney-Institut abgeschlossen; er war immer noch auf Tranquilizern und hatte mit der Szene an der N. Y. U. endgültig nichts mehr am Hut.
Einer der wenigen, die Lou während seiner einjährigen Depression ermutigten, war sein treuer Jugendfreund Allen Hyman, der ihn auch jetzt dazu drängte, sich von seinen Eltern zu lösen. Allen war in Syracuse eingeschrieben – einer großen, renommierten Privatuniversität, hunderte von Kilometern von Freeport entfernt. Allen brachte Lou dazu, ihm dorthin zu folgen. Im Herbst 1960 ließ Reed die dunklen Schatten von Creedmore und die Medikationen von Payne Whitney hinter sich und immatrikulierte sich in Syracuse.
Der Campus der Syracuse-Uni sah wie der perfekte Drehort für einen Horrorfilm über das Leben in einem College in den frühen Sechzigerjahren aus. Die romantischen Gebäude schienen der Fantasie eines Drehbuchautors entsprungen. Tatsächlich sollte der Autor der TV-Serie Addams Family, der diese Universität zur gleichen Zeit wie Lou besuchte, später die im schönsten neogotischen Stil erbaute Hall of Languages als Grundidee für den Familiensitz der Addams-Familie benutzen. Die Architektur des umliegenden, vier Straßen im Quadrat umfassenden Collegegeländes wurde von viktorianischen Holzhäusern sowie Restaurants, Läden und Bars aus der Depressionszeit ergänzt. Die allgegenwärtige gelbgraue Farbe verlieh den heruntergekommenen, in Seitenstraßen versteckten und die meiste Zeit über mit Schnee, nassen Blättern oder Regen bedeckten Holzhäusern ein düsteres Aussehen. Diese ideale Atmosphäre zur Förderung poetischer Betrachtungen oder manischer Depressionen war als Hintergrund für den Lebensstil der Beatniks geradezu prädestiniert.
Das Industriestädtchen Syracuse selbst, das sieben Monate im Jahr unter Schneemassen begraben lag und die restlichen Monate in Regenschauern versank, bot ringsherum ein nicht weniger abgerissenes Bild. Nur im Sommer, wenn die meisten Studenten sich zuhause auf Long Island oder in New Jersey aufhielten, bekam die Stadt etwas Wärme und Sonnenschein ab. Zunächst schien Syracuse nicht gerade ein geeigneter Ort für Lou. Das auch unter dem Namen Salt City bekannte blühende Industriezentrum, das sich auf Metallverarbeitung und Elektrogeräte spezialisiert hatte, lag dreihundertzwanzig Kilometer nordwestlich von Freeport, fünfundsechzig Kilometer südlich des Ontariosees und der kanadischen Grenze und acht Kilometer südwestlich des Oneidasees. Syracuse war militant konservativ und religiös, doch zu der Zeit, als Reed dort ankam, wandelte es sich gerade mit atemberaubender Geschwindigkeit zum akademischen Zentrum des Bundesstaates New York. Die Stadt unterstützte ihre renommierte Universität, deren Footballteam, die Orangemen, während der vier Jahre, die Lou dort verbrachte, ungeschlagen blieb. Und die Bevölkerung pilgerte in hellen Scharen zu allen sportlichen Ereignissen herbei. Trotz aller akademischen Standards galt Syracuse immer noch in erster Linie als Football-Uni. „Where the vale of Onondaga / Meets the eastern sky / Proudly stands our Alma Mater / On her hilltop high (Wo das Tal des Onondaga / sich mit dem östlichen Himmel vereint / Erhebt sich stolz unsere Alma Mater / Hoch oben auf dem Berge)“, so lauteten die ersten Zeilen des offiziellen Schulliedes; ein Song, den Lewis, wie ihn dort viele seiner Freunde nannten, nicht vergessen sollte.
Die für Studenten beiderlei Geschlechts zugelassene Universität, die von über neunzehntausend Studierenden der Natur- sowie der Geisteswissenschaften besucht wurde, war im Jahr 1871 gegründet worden. Sie erstreckte sich auf einem Gebiet von über sechshundertvierzig Morgen, auf einem Hügel mitten in der Stadt. Mit achthundert Dollar pro Semester lagen die Studiengebühren relativ hoch für eine private Universität. Die meisten Studenten lebten in nach Männlein und Weiblein getrennten Verbindungshäusern und erfreuten sich einer letzten, vier Jahre währenden Party, bevor sie ihr kindisches Gehabe ablegten und gegen die Verantwortung des berufstätigen Erwachsenendaseins eintauschten. Unter ihnen gab es eine große und gut betuchte jüdische Fraktion, die größtenteils aus eingefleischten Verbindungsleuten bestand, die fest auf Juristen- oder Medizinerkarrieren abonniert waren. Außerdem existierte eine kleine Truppe von bildenden Künstlern, Schriftstellern und Musikern, denen sich Lou anschloss. Dort fand er zum ersten Mal in seinem Leben eine Nische, in der er sich bis zu einem gewissen Grad heimisch fühlen konnte. In Reeds Jahrgangsklasse machten 1964 neben vielen anderen talentierten und erfolgreichen Leuten der bildende Künstler Jim Dine, die Modeschöpferin Betsey Johnson und der Filmproduzent Peter Gruber ihren Abschluss. Als Neuzugang wurde Lou in die äußerste Südwestecke des North Campus, in die Sadler Hall verwiesen, ein nüchternes, kastenförmiges Wohnheim, das an ein Gefängnis erinnerte. Die meiste Zeit verbrachte er jedoch in dem herrlichen, großen Steingebäude der Hall of Languages, das die University Avenue und den University Place überblickte und in dem das Englische, das Historische sowie das Philosophische Institut untergebracht waren.
Reed genoss außerdem den Vorteil, dass ihn sein großartiger Freund aus der Kindheit, der sanfte Manipulator und Prinz der guten Zeiten Allen Hyman, in das Uni-Leben einführen konnte. Hyman, der gerade sein zweites Collegejahr begann und als verwöhntes Vorstadtkind nicht nur einen Cadillac, sondern auch einen Jaguar fuhr, war großzügig, immer gut gelaunt und äußerst scharfsinnig; obendrein mochte er Lou wirklich gern und setzte so einiges daran, auch weiterhin sein Freund zu bleiben. Hyman hatte gute Beziehungen zur konventionellen Studentenschaft, einer Szene, in die er selbst aufsteigen wollte, und er war versessen darauf, auch Lewis dort einzuführen.
Zunächst kam es jedoch dabei zu einer unangenehmen Situation, als Allen versuchte, Lou in seine Verbindung, die Sigma Alpha Mu (genannt „The Sammies“) einzuschleusen. „Die Initiation in eine solche Verbindung war ein schreckliches Erlebnis und die meisten Leute waren mächtig eingeschüchtert davon“, erinnert sich Hyman. Neuankömmlinge wurden gezwungen, sich bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken, und wurden zudem physisch, sexuell und geistig von den Verbindungsbrüdern bloßgestellt. Als Allen Lou erzählte, was er alles durchgemacht hatte, um in die Verbindung aufgenommen zu werden, sah Lou ihn fassungslos an und schnauzte: „Stehst du jetzt auf Masochismus, oder was?“
„Er sagte, er wolle nichts damit zu tun haben, dass es faschistisch und widerlich sei“, erzählt Hyman. „Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich jemand so schikanieren ließ, ohne zu versuchen, die Person umzubringen, die einen schikanierte.“ Trotzdem – typisch pervers – willigte Reed ein, an solch einer Aufnahmeprüfung teilzunehmen.
Von Beginn an war klar, dass er die Absicht hatte, großen