Lou Reed - Transformer. Victor Bockris
2001–2004
2006–2010
2011–2012
2013
Anhang A – Diskografie und Werkschau
Anhang B – Interviews mit Lou Reed
Widmung
Für Barney Hoskyns, Gerard Malanga, Bob Gruen und Legs McNeil
Zitat
„Wenn ich an Lou denke, dann vor allem daran, wie romantisch er war; und wie lustig. Wenn er dich mit seinem Charme bezaubert hatte, zerstörte er dich, um zu überleben. Er war eben ein richtiger Jäger. Er hat sein Opfer aber immer gewarnt, teils, um die Jagd noch spannender zu machen, teils, um später nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Interessant daran war, dass dabei ein intellektueller, künstlerischer Prozess ablief – eine Performance.“
— Ein Bekannter
Töte deinen Sohn
Elektroschock: 1959–1960
„Ich habe keine Persönlichkeit.“
— Lou Reed
1959 war ein schlechtes Jahr für Lou. Mit seinen siebzehn Jahren hatte er die Rolle des bösen Jungen bereits einstudiert. Das ging schon seit 1954 so, als Lou am Tag, nachdem sich der Bluesgitarrist Johnny Ace erschossen hatte, mit einer schwarzen Trauerbinde in der Schule aufkreuzte. Seither ließ er keine Gelegenheit aus, um die ganze Familie zum Wahnsinn zu treiben.
Wie ein Tyrann herrschte er über das gutbürgerliche Haus; er fetzte kreischende Akkorde aus seiner elektrischen Gitarre heraus, gewöhnte sich an, wie eine Frau zu gehen, nahm seine Schwester zu verschwörerischen Zwiegesprächen beiseite und drohte mit launischen Ausfällen der übelsten Sorte, falls ihm nicht alle ständig ihre totale Aufmerksamkeit zuwandten. In diesem Frühling sandten Sidney und Toby Reed, Lous eher altmodische Eltern, ihren Sohn zu einem Psychiater. Sie wollten Lou von seinen homosexuellen Gefühlen und seinen beunruhigenden, plötzlichen Stimmungsumschwüngen kurieren lassen. Daraufhin verschrieb der Arzt eine zu jener Zeit sehr populäre Therapie, der sich unter anderem Jacqueline Kennedy und der Schriftsteller Delmore Schwartz kurz zuvor unterzogen hatten.
Der Arzt erklärte, Lou würden einige Besuche im Creedmore Psychiatric Hospital gut tun. Dort würde er, über einen Zeitraum von acht Wochen, dreimal pro Woche mit Elektroschocks behandelt werden, und anschließend benötige er eine intensive therapeutische Nachbehandlung.
1959 stellte man ärztliche Diagnosen nicht infrage. „Seine Eltern wollten ihn nicht quälen“, erklärte ein Freund der Familie. „Sie wollten nur, dass er gesund wird. Sie versuchten eben einfach, Eltern zu sein, und deswegen wollten sie, dass er sich anständig aufführte.“ Erschrocken akzeptierten die Reeds die Diagnose.
Das Creedmore State Psychiatric Hospital lag an einem besonders hässlichen Fleck der öden Insel Long Island.
Sechstausend Patienten konnten in dieser großen, staatlichen Einrichtung untergebracht und behandelt werden. Das Gebäude Nummer sechzig war auf majestätische Weise unheimlich. Es hatte vierundzwanzig Stockwerke, war an die zweihundert Meter lang und brütete drohend, wie ein monströser Vogel aus der Urzeit, über der Landschaft. Hunderte von verschiedenen Gängen führten zu den Aufsehern, den Büroräumen, den Hörsälen. Sämtliche Türen waren mit Vorhängeschlössern gesichert und in einem beruhigenden, unwirklichen Kremweiß gestrichen. Die Fenster waren von innen vergittert, außen war Stacheldraht angebracht. Eine der schaurigsten Abteilungen war die für Elektroschockbehandlung.
Dorthin begab sich, an einem frühen Sommertag, ein aufgekratzter, etwas verwirrter Lou. Er wurde durch das Labyrinth der Gänge geführt und behauptete später, er habe nicht gewusst, dass seine erste psychiatrische Behandlung ausschließlich aus Stromstößen bestehen würde, die man durch sein Gehirn jagte. Jede Tür, durch die er hindurchging, wurde von einem Wächter erst auf- und dann hinter ihm wieder zugeschlossen. Zuletzt wurde er in der Elektroschockabteilung eingeschlossen, wo man ihm ein viel zu kleines Krankenhaushemd gab. Als er da im Warteraum saß, gemeinsam mit den anderen Patienten, die seiner Ansicht nach eher wie Gemüse aussahen, sah er das erste Mal den Behandlungsraum. Eine massive, milchig weiße, mit Nieten gespickte Metalltür schwang auf, und man konnte das bewusstlose, wie tot daliegende Opfer sehen. Dann rollte eine Krankenschwester mit steinernem Gesicht den Körper auf einer Trage in den Aufwachraum. Plötzlich wurde Lou klar, dass er der Nächste sein würde.
Er wurde in den kleinen, nüchternen Behandlungsraum hineingefahren, dessen einzige Einrichtung aus einem Tisch und einem großen Metallstück bestand, aus dem zwei dicke Drähte herabbaumelten. Lou wurde auf dem Tisch festgeschnallt. Er starrte auf das fluoreszierende Lichtgitter über seinem Kopf, während die Wirkung des Beruhigungsmittels eintrat. Eine Krankenschwester trug Salbe auf seine Schläfen auf, schob ihm eine Art Knebel in den Mund, der verhindern sollte, dass er seine Zunge verschluckte. Sekunden später wurden die Kontakte, die sich an den Enden der dicken Drähte befanden, an seinem Kopf befestigt. Das Letzte, was er sah, bevor er das Bewusstsein verlor, war ein blendendes, weißes Licht.
Anders als heute stimmte man in den Fünfzigerjahren die Stromspannung nicht individuell auf den Patienten ab – weder auf seine Körpergröße noch auf seinen geistigen Zustand. Jeder bekam die gleiche Dosis. Der sensible Siebzehnjährige erhielt die gleiche Dosis an Stromstößen wie ein schwergewichtiger Massenmörder. Der Strom, der durch Lous Körper schoss, veränderte die Schaltkreise seines Gehirns und verursachte einen fürchterlich anzusehenden Krampfanfall, der jedoch für ihn schmerzlos war, weil er das Bewusstsein verloren hatte. Als Lou einige Minuten später wieder zu sich kam, war er totenbleich, Speichel rann aus seinem Mund, seine Augen waren rot und tränten.
Dann fand sich der erschrockene Patient wieder in einem schwach beleuchteten Wartezimmer, dem ausdruckslosen Blick einer Krankenschwester ausgesetzt, ganz so wie eine Figur in einer Geschichte seines Lieblingsschriftstellers Edgar Allan Poe. „Du musst dich entspannen“, instruierte sie den völlig verängstigten Jungen. „Wir versuchen nur, dir zu helfen. Würde einer mal ein Kissen holen, um ihn aufzusetzen? Eins-zwei-drei-vier. Und entspannen.“ Er war bereits bei vollem Bewusstsein, als sein Körper endlich aufhörte zu zucken und das Beißholz aus seinem Mund entfernt wurde. Während der nächsten halben Stunde versuchte er, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Voller Panik bemerkte er, dass er sein Gedächtnis verloren hatte. Gedächtnisverlust war eine unangenehme Nebenwirkung der Elektroschocktherapie, aber alle Veränderungen des Gehirns wurden als „vorübergehend“ betrachtet, und nach der Meinung der Experten kamen dauerhafte Gehirnschäden höchst selten vor.
Als Lou Reed das Hospital verließ, dachte er jedoch, dass „Gemüse aus ihm geworden“ sei, erinnert er sich. „Du kannst kein Buch mehr lesen, denn ab Seite siebzehn musst du wieder von vorn anfangen. Oder, wenn du das Buch eine Stunde weglegst und dann wieder da beginnen willst, wo du aufgehört hast, kannst du dich nicht an die Seite erinnern, die du zuletzt gelesen hast. Ich musste immer wieder von vorn anfangen. Wenn du nur einmal um den Block gelaufen bist, hattest du vergessen,