Lou Reed - Transformer. Victor Bockris

Lou Reed - Transformer - Victor Bockris


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beschrieb Ken Kesey in Einer flog übers Kuckucksnest folgendermaßen: „Man befand sich in einem nebligen verworrenen Bereich, ähnlich den ausgefransten Rändern des Schlafes, der grauen Zone zwischen Tag und Nacht, oder zwischen Schlafen und Wachen und Leben und Sterben.“ Lous Albträume wurden von der traurigen, stumpfweißen Farbe der Krankenhäuser beherrscht. In einem Gedicht drückte er es so aus: „How does one fall asleep / When movies of the night await, / And me eternally done in“ (Wie soll man nur einschlafen, / Wenn einen die Filme der Nacht erwarten, / um mich fertig zu machen). Jetzt fürchtete er sich vor dem Einschlafen und sollte seit jener Zeit ständig unter Schlaflosigkeit leiden.

      Lou durchlitt die Elektroschockbehandlung acht Wochen lang. Dabei verfolgte ihn die Angst, dass seine Eltern bei dem Versuch, das „Abnormale“ seiner Persönlichkeit zu eliminieren, ihn fast zerstört hatten. Das Gefühl von Entfremdung und Wirklichkeitsverlust wurde durch den Tod der berühmten Jazzsängerin Billie Holiday und den quälenden Refrain des Paul-Anka-Hits „Lonely Boy“, einer populären Ballade zum Thema „Teenagerangst“, noch verstärkt.

      Lou war der Ansicht, dass die Schockbehandlungen dazu beitrugen, alles noch in ihm vorhandene Mitgefühl radikal auszumerzen, und dass er seine Umgebung nur noch verkümmert und bruchstückhaft wahrnahm. „Ich glaube, jeder verfügt über eine bestimmte Anzahl von Persönlichkeiten“, sagte er zu einem Freund. Er zeigte ihm ein kleines Notizbuch, in das er hineingeschrieben hatte: „‚Lou drei an Lou acht – Hallo!‘ Du wachst morgens auf und fragst dich: ‚Wer ist denn eigentlich heute dran?‘ Nachdem du das festgestellt hast, schickst du ihn los. Fünfzehn Minuten später taucht ein anderer auf. Falls also gerade keiner zum Quatschen da ist, habe ich immer ein gutes Dutzend Leute in meinem Kopf, denen ich beim Sprechen zuhören kann. Ich kann mit mir selber reden.“

      Nach Ablauf der achtwöchigen Behandlung wurde Lou auf starke Beruhigungsmittel gesetzt. „ICH HASSE PSYCHIATER. ICH HASSE PSYCHIATER. ICH HASSE PSYCHIATER“, schrieb er später in dem Gedicht People Must Have To Die For The Music. Aber zutiefst in seinem Inneren waren es seine Eltern, von denen er sich verraten fühlte. Wenn sie ihn wirklich geliebt hätten, hätten sie die Elektroschockbehandlungen niemals zulassen dürfen.

      Lewis Alan Reed wurde am 2. März 1942 im Beth El Hospital in Brook­lyn geboren. Sein Vater, Sidney George Reed, ein klein gewachsener, schwarzhaariger Mann, der ursprünglich Rabinowitz hieß, war Steuer­berater. Seine Mutter, Toby Futterman, sieben Jahre jünger als ihr Mann und eine ehemalige Schönheitskönigin, war Hausfrau. Beide Eltern waren alteingesessene New-Yorker – Sidney kam aus Manhattan, Toby aus Brook­lyn – und hatten sich seit kurzem in Freeport, Long Island, als Angehörige der oberen Mittelschicht niedergelassen. Lou entwickelte sich zu einem kleinen, schmächtigen Kind mit unordentlichen schwarzen Haaren und vorstehenden Zähnen. Er war nervös und sehr sensibel. Zu dieser Zeit hatte sich seine Mutter – der Prototyp der jüdischen Mutter schlechthin – von einer Schönheitskönigin in eine reizende, höfliche, konservative Hausfrau verwandelt. Lou charakterisierte sie später in dem Song „Standing On Ceremony“, von dem er sagte: „Ich habe ihn für meine Mutter geschrieben.“ Sie wollte, dass ihrem Sohn alle Chancen offen stünden, und träumte davon, dass er eines Tages Arzt oder Anwalt werden würde.

      Das emotionale Umfeld, das Lou prägte, war durch eine alles erstickende Elternliebe gekennzeichnet. „Nichtjuden verstehen nichts von jüdischer Liebe“, schrieb Albert Goldman in seiner Biografie über Lenny Bruce, der auch eines von Lous Vorbildern bei der Gestaltung seiner späteren Rollen wurde. „Sie können diese positive, gefühlsbetonte Liebe, die gleichzeitig so von negativen Impulsen durchsetzt und so von widersprüchlichen Gefühlen belastet ist, dass sie ständig auf der Kippe steht, einfach nicht begreifen. Jüdische Liebe ist Liebe, das ist schon richtig, aber sie ist so voller Mitleid, so von oben herab, so angereichert mit schweigender Missbilligung und stummem Tadel oder sogar Abscheu, dass man als Objekt dieser Liebe ebenso gut ein Objekt des Hasses sein könnte. Jüdische Liebe hat dazu geführt, dass sich Kafka wie eine Küchenschabe fühlte … Und diese Mischung aus Selbstliebe und Selbsthass wird von Generation zu Generation weitergegeben, wie ein Brandzeichen oder ein genetischer Code. Die Mutter reicht sie an den Sohn weiter, der Sohn an die Frau, die er heiratet, und diese wiederum gibt sie an seinen Sohn, oder falls das nicht klappt spielt er Mutter und gibt sie an den Sohn weiter. Die ganze Genealogie einer Familie wird durch diese Doppeldeutigkeit strukturiert, so wie Eisenspäne in einem Magnetfeld.“

      „Lous Mutter zeigte das jüdische Mutter-Syndrom bei ihrem ersten Kind“, erzählt ein Freund der Familie. „Dem ersten Kind wird zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Der Kleine sagt dann: ‚Schau mir zu, schau mir zu, schau mir zu.‘ Man kann ihnen nie genug Beachtung schenken, und deswegen sind sie auch nie richtig glücklich, denn sie erwarten ja, dass sie dauernd beachtet werden. Seine Mutter ging nicht frühmorgens los zur Arbeit, sie war wirklich rund um die Uhr Mutter. Immer auf dem Beobachtungsposten. Und so haben sie dem Kind eine Kulisse aufgebaut, die es im späteren Leben nie wieder finden konnte.“

      Als Lou fünf Jahre alt war, bekamen die Reeds ihr zweites Kind, Eliza­beth, zärtlich Bunny genannt. Einerseits war Lou ganz vernarrt in seine kleine Schwester, andererseits war ihre Ankunft für ihn sehr beunruhigend. Die Liebe seiner Mutter war eine Falle, und der Köder bestand in der gefühlsmäßigen Erpressung. Erstens: Da das Glück der Mutter vom Glück ihres Sohnes abhängt, ist es die Pflicht des Sohnes, glücklich zu sein. Zweitens: Mutterliebe ist so überwältigend, dass es für den Sohn unmöglich ist, ihr ein gleiches Maß an Liebe zurückzugeben; deswegen ist er grundsätzlich schuldig. Mit der Ankunft der Schwester ist die Mutterliebe nicht mehr uneingeschränkt auf ein Kind bezogen. Die Kombination dieser drei Elemente führt schließlich dazu, dass der Sohn emotional in eine Lage gerät, die ihn völlig überfordert. Er fühlt sich ohnmächtig, verwirrt und wütend. Die Falle spannt sich durch das Unvermögen, über diese Konflikte zu reden. Der Sohn unterdrückt seine feindselige Verbitterung, bis er eine Frau heiratet, die seine Mutter ersetzt. Und dann schnappt die Falle zu – mitten ins Gesicht seiner Frau.

      Goldmans Schlussfolgerung aus dieser emotionalen Konstellation traf auf Reed ebenso zu wie auf Bruce: „Die Söhne entwickeln gespaltene Persönlichkeiten. Sie lieben, wenn sie hassen, und sie hassen, wenn sie lieben sollten. Sie gehen Bindungen mit Frauen ein, die sie verletzen, und behandeln Frauen, die ihnen wahre Liebe schenken, mit Verachtung. Bei der Arbeit sind sie oft sehr talentiert, aber ihre männliche Persönlichkeit bleibt im Privatleben oft merkwürdig unterentwickelt.“

      Im Jahr 1953 – dem Jahr, in dem es mit der Rockmusik richtig losging – zogen die Reeds von ihrer Wohnung in Brooklyn in das Haus in Freeport. Das moderne, eingeschossige Anwesen lag in der Oakfield Avenue Nummer 35, an der Kreuzung von Oakfield und Maxon, in dem „The Village“ genannten Mittelschichtviertel von Freeport. Die anderen Häuser dort waren im Kolonial- oder Wildweststil erbaut, aber die Familie Reed wohnte in einem modernen, rechteckigen Flachbau, der von den Freunden auch als „Hühnerstall“ bezeichnet wurde.

      Obwohl der Bungalow von außen sehr nüchtern und ein wenig seltsam wirkte, waren die Innenräume gut geschnitten und verfügten über allen Komfort und die modische Einrichtung im Stil der Fünfzigerjahre. Der Rasen, der das Haus von allen Seiten umgab, war ein idealer Spielplatz für Kinder, und außerdem gab es zwei Garagen. Die breiten, ruhigen Straßen der Gegend dienten oft als Baseball- und Footballfelder, auf denen die Jugendlichen aus der Nachbarschaft zu einem schnellen improvisierten Spiel zusammenkamen.

      In der näheren Umgebung wohnten hauptsächlich Juden aus der oberen Mittelschicht. Genau wie den europäischen Juden, die nach wie vor einwanderten, war auch den etablierten amerikanischen Juden die Vorstellung eines großstädtischen, ghettoartigen Judenviertels unerträglich geworden. Viele jüdische Familien, die es im Nachkriegsamerika zu etwas gebracht hatten, waren aus New York weggezogen. Sie lebten in Vorstädten, die alle gleich aussahen, und versuchten die letzten Spuren des Ghettos zu ver­wischen, indem sie ein Mittelschichtleben führten, das sie amerikanisieren und integrieren würde. Durch die Abwanderung von New York nach Long Island entstand dort eine Mittelschicht in den Vorstädten, die Geld mit Stabilität gleichsetzte und Reichtum mit Status und Macht. Freeport hatte zu dieser Zeit etwas weniger als dreißigtausend Einwohner. Es lag an den Freeport und Middle Bays, direkt am Atlantik, und war durch den schmalen, vorgelagerten Long Beach vor dem Ozean geschützt.


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