Lou Reed - Transformer. Victor Bockris

Lou Reed - Transformer - Victor Bockris


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Hüften, sein kindliches Gesicht, die verräterischen Augen und wusste sofort: „In dem Moment, als er einstieg, war klar, dass wir zusammen ausgehen würden.“ Sie wusste auch, dass sie eine impulsive Entscheidung traf und dass es mit Lou sicher jede Menge Ärger geben würde; doch es würde auch niemals langweilig sein. „Es war so eine Erleichterung, Lou zu treffen, weil er für mich einen normalen Menschen darstellte. Ich war so fasziniert von diesem ganzen düsteren Mist.“

      Dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Sobald die beiden Lou vor seinem Wohnheim abgesetzt hatten, stürmte er in sein Zimmer und berichtete Swados atemlos davon, dass er gerade das schönste Mädchen der Welt getroffen habe und sie sofort anrufen müsse.

      Lincoln nahm manchmal bei völlig unpassenden Gelegenheiten eine sonderbar väterliche Haltung ein. Er sah sich dann in der Rolle desjenigen, der Lou sicher durch seine stürmischen Launen hindurchnavigierte, und versetzte Lous Plänen einen Dämpfer, indem er ihm erklärte, er, Lincoln, habe dieses Mädchen auch gesehen und betrachte sie als seinen Besitz, obwohl er sich noch nicht mit ihr getroffen habe.

      Lou seinerseits sah seine Aufgabe in ihrer Freundschaft darin, den ständig angespannten und überaktiven Swados ruhig zu stellen. Er dachte also darüber nach, dass der unattraktive Lincoln, der in seinem ersten Jahr keine einzige Verabredung zustande gebracht hatte, durch eine Abfuhr, die Shelley ihm todsicher erteilen würde, nur unnütz verletzt werden würde; so verlor Lou keine Zeit und bootete ihn direkt aus, indem er Shelley sofort anrief und sich mit ihr verabredete. Auf diese Weise, so sagte sich Lou, kam Swados zumindest in das Vergnügen ihrer Gesellschaft.

      Shelley Albin wurde Lous Freundin während seines zweiten und des folgenden Jahres am College – „Meine Bergspitze, mein Gipfel“, wie er sie später beschrieb – und blieb auch lange Jahre danach für ihn so etwas wie seine Muse. „Lou und ich kamen uns sehr nahe, aber wir waren noch zu jung, um es wirklich in Worte fassen zu können“, sagt Shelley. „Von Anfang an bestand eine sehr starke Bindung zwischen uns. Ohne ihn genau zu kennen, wusste ich alles von ihm. Am stärksten ist mir Lou als eine Art byronesker Charakter in Erinnerung geblieben, als ein sehr anziehender junger Mann. Er war interessant, nicht einer von diesen leeren, roboter­haften Menschen, er war sehr poetisch. Lou war wie Zuckerwatte, ein richtig süßer Schatz.“ Trotz seines exzentrischen Auftretens fand Shelley ihn „sehr geradlinig. Er wusste, was er wollte, war ein guter Tänzer und ein guter Tennisspieler. Seine Ansprüche an das Leben waren auch sehr klar. Er war ein Junge der Fünfziger, der Herr des Hauses, der liebe Gott. Er wollte eine Barbiepuppe als Frau, die ihm Schinken briet, wenn er Schinken haben wollte. Ich war sehr unterwürfig und naiv, und das gefiel ihm.“

      Aber Lou hatte auch seine „verrückten“ Seiten, die er manchmal voll ausspielte. Wie viele aufgeweckte Jugendliche, die gerade Kierkegaard und Camus entdeckt hatten, war er der klassische, künstlerisch begabte „bad boy“. Zwischen offen und Angst einflößend hin- und herpendelnd, schwelgte Lou in beidem. „Ein Teil von Lou blieb für immer fünfzehn, ein anderer Teil war schon hundert Jahre alt“, erinnert sich Shelley liebevoll. Glücklicherweise mochte sie beide Seiten von Lou. Als sie anfing, mit Lou auszugehen, tauschte sie ihren Rock und die Perlenkette gegen Jeans und trug ihr Haar wieder lang und glatt statt dauergewellt. Der Junge, den sie wegen Lou fallen ließ, tadelte ihre Verwandlung mit den Worten: „Du gehst vor die Hunde, du bist ein Beatnik, Lou hat dich ruiniert!“ Dabei hatte Shelley, die Kunst studierte, nur zu sich selbst zurückgefunden. Der Vorwurf machte ihr jedoch Spaß, denn sie wusste, wie sehr es Lou mochte, wenn ihn die Leute beschuldigten, sie zu verderben; es verlieh seinem schlechten Ruf noch mehr Glaubwürdigkeit. Shelley war auch ungewöhnlich hübsch, und bis heute erinnern sich sämtliche Lehrer und Freunde von Lou vor allem daran, dass er „eine überwältigende, tolle Freundin hatte, die außerdem sehr, sehr nett war“.

      Shelley Albins Gesicht war einzigartig. Wenn man sie direkt anschaute, so fielen vor allem ihre Augen auf. Ein inneres Licht schien in ihnen zu schimmern. Ihr Nase war gerade und vollkommen. Wangen und Kinn waren so fein gemeißelt, dass sie das Modell vieler Kunststudenten in Syracuse war. Ihr Gesicht war offen und geheimnisvoll zugleich. Ihr Mund sagte „Ja“. Aber ihre Augen hatten einen wie von Modigliani gemalten, madonnenhaften Ausdruck, der alle auf Distanz hielt. Ihr hellbraunes Haar leuchtete auf ihrer blassen, kremfarbenen Haut und verlieh dieser manchmal einen rötlichen Ton. Sie wog einhundertfünfzehn Pfund, war mit 1,68 Meter fast genauso groß wie Lou und konnte seine Kleider tragen. Tatsächlich fühlte sie sich ihm körperlich so ebenbürtig, dass sie sicher war, ihm bei Handgreiflichkeiten nicht unterlegen zu sein.

      „Wir waren vom ersten Moment an geistig und körperlich unzertrennlich“, erinnert sich Shelley. „Wir waren ineinander verschlungen wie eine Brezel.“ Bald konnte man die innige Beziehung von Shelley und Lou im Savoy bewundern, wo die beiden öffentlich stundenlang herumknutsch­ten. „Er küsste wirklich gut, alles war im Einklang. Und er war wirklich ein Meister im Slow-Dance. Als wir uns trafen, fühlten wir uns wie Freunde, die sich nach langer Trennung wieder gefunden hatten.“ Für beide war es die erste echte Liebesgeschichte. Sie entdeckten schnell, dass sie auch außerhalb der Wohnheime etwas gemeinsam unternehmen konnten. Sie spielten Basketball und Tennis zusammen. Sie hatten eine tolle sexuelle Beziehung. Schrieb Lou ein Gedicht oder eine Geschichte, so ertappte sich Shelley dabei, wie sie fast automatisch die ideale Illustration dafür zeichnete. In ihrer früheren Jugend war sie zu einem Psychiater geschickt worden, weil sie sich drei Jahre lang geweigert hatte, mit ihrem Vater ein Wort zu wechseln. Zwei Jahre später schrieb Lou das Lied „I’ll Be Your Mirror“ über Shelley. Sie war wirklich sein Spiegel. Ebenso wie er hatte auch sie eine Schwesternschaft besucht und – zu Lous Entzücken – den Schwestern eine Stunde nach ihrer Aufnahme gesagt, sie sollten zur Hölle fahren. „Er war geistig noch sehr mit der Elektroschockbehandlung beschäftigt, als wir uns kennen lernten“, sagt Shelley. „Er wies mich sofort darauf hin, dass er launenhaft, unberechenbar und gefährlich war und dass er jede Situation kontrollierte, indem er dafür sorgte, dass alle total nervös wurden. Es war ein reiner Nervenkrieg. Aber ich verstand mich auch auf dieses Spiel, deswegen kamen wir gut klar.

      Was mir wirklich an Lou gefiel, war, dass er bis an die Grenzen ging. Das faszinierte mich an ihm. Dass ich mich ihm unterordnete, war mein Geschenk an ihn, aber er kontrollierte mich keineswegs, und ich hätte ihn jederzeit verprügeln können. Wenn man zurückblickt und darüber nachdenkt, wer das Sagen in der Beziehung hatte, dann wird sich herausstellen, dass er es nicht war.“

      Häufig zieht das Erscheinen einer umwerfenden Frau eine gewisse Abkühlung in der Beziehung zweier Freunde nach sich. Auch Kerouac und sein Freund Neal Cassady hatten das, vorbildhaft für eine ganze nachfolgende Beat Generation, am eigenen Leib erfahren; dennoch hatte Lou ganz recht mit seiner Vermutung gehabt, dass Shelley die Beziehung zwischen ihm und Lincoln eher vertiefen würde. Die Freundschaft der drei wurde so eng, dass Lou gelegentlich spaßeshalber vorschlug, Shelley solle auch einige Zeit mit Lincoln im Bett verbringen. Ihre Beziehung ähnelte der Konstellation in dem damaligen Erfolgsfilm … denn sie wissen nicht, was sie tun – Lou als James Dean, Shelley als Natalie Wood und Lincoln als unglücklicher Sal Mineo.

      Lou stellte Shelley Lincoln als eine wichtige, aber zart besaitete Person vor, die man bemuttern musste. Lincoln war sehr hausbacken, aber Shelley sah ihn – wie in einer anmutig bewegten Vision – „als Fred Astaire; Lincoln war immer sorglos, er konnte sich wunderbare Geschichten ausdenken, und ich denke, Lou war davon fasziniert. Lou fühlte sich Lincoln gegenüber verantwortlich, er beschützte ihn, denn niemand wollte etwas mit Lincoln zu tun haben, aber wir mochten ihn gern.“ Das Erste, was Lou zu Shelley sagte, war: „Lincoln ist scharf auf dich, und wenn ich ein netter Kerl wäre, würde ich zusehen, dass er dich bekommt, denn ich kann jede haben und Lincoln nicht. Lincoln liebt dich, aber er wird dich nicht bekommen, weil ich dich will.“ Shelley stellte fest, dass viel von Lous Charme und viele seiner Gesten direkt von Lincoln stammten. „Vieles, was ich an Lou liebte, hatte er von Lincoln. In vielerlei Hinsicht war Lincoln wie Jiminy Cricket, er stand sozusagen auf Lous Schulter und flüs­terte ihm ins Ohr. Die beiden passten auf mich auf, zeigten mir, wo’s langging, und kümmerten sich um meine Erziehung.“

      Das Wichtigste an Lincoln und Shelley waren das Verständnis und Einfühlungsvermögen, das sie Lous Talent und seiner Persönlichkeit entgegenbrachten. Dabei war Lincoln der eindimensionale Spiegel


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