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er plötzlich „ohrenbetäubende Dudelsackmusik“ aus irgendeiner Anlage schallen. Danach „warf sich jemand die Gitarre um und schlug ein paar quietschende Akkorde aus ihr heraus“. Aufgeregt dachte Morrison: „Oh, über uns wohnt ein Gitarrist“, und sofort begann er Tucker zu bedrängen, ihn vorzustellen. Als sie sich schließlich am nächsten Tag um drei Uhr morgens trafen, stellten Lou und Sterling fest, dass sie eine gemeinsame Vorliebe für schwarze Musik und Rock ’n’ Roll hatten. Beide verehrten auch Ike und Tina Turner. „Damals kannte sie noch kein Mensch“, erinnert sich Morrison. „Syracuse war sehr konservativ. Da gab es kaum mehr als eine Hand voll Verrückter.“

      Glücklicherweise war für diese Hand voll das Geschehen im Bereich Drama, Dichtung und Literatur genauso anregend wie im Bereich Musik. Bald verbrachte Lou einen Großteil seiner Zeit mit Gitarrespielen, Lesen oder Schreiben, oder er war in lange Diskussionen mit gleich Gesinnten verstrickt. Viele dieser ausgedehnten Unterhaltungen über Philosophie und Literatur fanden in Bars und Coffee Shops statt, in denen er und seine Freunde sich bald heimisch fühlten. Jedes Restaurant war Hauptsitz einer bestimmten Gruppierung. Lous Clique schlug ihre Zelte im Savoy Coffee Shop auf, dessen Besitzer ein liebenswerter alter Mann namens Gus ­Josephs war. Gus hätte direkt aus der Fernsehserie Happy Days stammen können. Nachts tranken sie in der Orange Bar, die vornehmlich von intellektuellen Studenten besucht wurde. Lou zufolge ging er zwei Schritte vor das College, und da war eine Bar. „Es war die Welt von Kant und Kierkegaard und metaphysischer Polemik, die bis in die Nacht hinein dauerte“, erinnert er sich. „Ich ging oft allein und trank auf alles, was in der Woche schief gegangen war.“ Er hatte sich daran gewöhnt, verschreibungspflichtige Medikamente zu nehmen und Marihuana zu rauchen, hatte aber noch nicht viel mit harten Drogen zu tun. Wenn es hoch kam, trank er einmal einen Scotch und ein Bier.

      Das Leben der Erstsemester verlief nach Regeln, die für die männlichen Studenten viel vorteilhafter waren als für die weiblichen. Während die Mädchen in ihren Zimmern auf dem Mount Olympus um neun Uhr abends eingeschlossen wurden und bei Missachtung der Sperrstunde einen sofortigen Hinauswurf riskierten, war es den männlichen Studenten, die keine Sperrstunde hatten, möglich, in der Nacht ein Leben zu führen, das sich vom Universitätsalltag abhob. Sie erforschten die Stadt, tranken in der Orange Bar oder in den Verbindungshäusern und gerieten in alle möglichen Schwierigkeiten. Lou, der die Angewohnheit entwickelt hatte, die Nächte mit Lesen, Schreiben und Musizieren zu verbringen, verlor selbstverständlich keine Zeit damit, seine neue Umgebung kennen zu lernen. Er sah sich kurz in Syracuse um und entdeckte im nahe gelegenen Ghetto der Schwarzen einen Klub namens The 800, wo funky Jazz und R & B gespielt wurde. Außerdem gab es hier eine Szene, die sich nur um Drogen, Musik und Gefahr drehte, was Lous Wunsch, die dunklen Seiten des Lebens kennen zu lernen, entgegenkam.

      Lous erste Freundin am College hieß Judy Abdullah; er nannte sie „die Araberin“. Vielleicht nahm er sie eher als exotisches Objekt denn als Person wahr. Judy brachte einen sonderbaren Zug in Lous Sexualität zum Vorschein: es stellte sich heraus, dass er auf „vollschlanke“ Frauen stand. Judy Abdullah war zweimal so breit wie er. Sie war eine leidenschaftliche Frau, und die beiden verstanden sich großartig im Bett, aber zumindest eine Bekannte fügte Reeds Persönlichkeit eine weitere Nuance hinzu, indem sie darauf hinwies, dass Lous Schwäche für dicke Frauen ebenso Herausforderung wie Fluchtmöglichkeit darstellte. Lou konnte die Einstellung haben, dass er ihr gegenüber keine ernsthaften Verpflichtungen hatte und sie auch sexuell nicht befriedigen musste. Die Beziehung verlief im Sand, bevor das Jahr zu Ende war. Lou, der keine Zeit mit Verabredungen vergeuden wollte, konnte ziemlich unangenehm werden, und er war gemein zu Judy. Als es mit den beiden auseinander ging, hatte sie allen Grund dazu, von ihm die Nase restlos voll zu haben. Trotz allem blieben sie in Kontakt, und Lou traf sich während seiner Collegezeit noch gelegentlich mit ihr. In Syracuse stellte sich Lou als gequälter, introspektiver, romantischer Dichter dar.

      Getreu dem Glaubenssatz, dass der erste Schritt, ein Dichter zu werden, darin besteht, wie einer auszusehen, lag Lou viel daran, den Eindruck zu erwecken, er sei ungewaschen, obwohl das nicht stimmte. Ein Freund berichtete: „Er ging niemals aus, ohne vorher zu duschen.“ Was seine Kleidung anbelangte, saß er zwischen zwei Stühlen: einerseits Teenager aus der Vorstadt mit Mokassins und Button-down-Hemd, andererseits verknitterte Arbeitskleidung und das grobe Hemd des Kerouac-Rebellen. Beobachter erinnern sich an einen eher molligen und engelhaften als dünnen und asketischen Jungen. Tatsache ist, dass er sich nicht ungewöhnlich anzog. Falls man überhaupt etwas dazu sagen kann, dann höchs­tens, dass er sich unauffällig kleidete und monatelang in den gleichen Jeans herumrannte. In seinem Auftreten kopierte Lou die überdrehte Attitüde des jungen Rimbaud. Er war gerade dabei, die Legende von seinen Elektroschockbehandlungen zu verbreiten, und ließ die gesamte, von James Dean inspirierte „Ich habe so viel gelitten, ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin“-Routinenummer anlaufen.

      Ein Student, der gelegentlich gemeinsam mit ihm improvisierte, erinnert sich: „Ein Teil seiner Ausstrahlung beruhte darauf, dass er eine geistig gestörte Person war und in seiner Jugend Elektroschocks bekommen hatte, die deutliche Auswirkungen auf ihn gehabt hatten. Wer wusste schon, wo sich da Realität und Fantasie überschnitten?“ Für einen sarkastischen Jungen mit vorstehenden Zähnen, Zahnspange und der Garderobe eines Langweilers war Lou gar nicht so schlecht darin, sich selbst nach und nach als einen total perversen Psychokrüppel darzustellen. Was er auch immer mit seiner Kleidung, seinem Verhalten und seinen Meinungen zum Ausdruck bringen wollte, um hip zu sein, es gab ein albtraumhaftes Detail an seinem Äußeren, dem er sich niemals richtig gewachsen fühlte – seine Haare. Der krause Haarschopf quälte ihn, seit er als Zwölfjähriger zum ersten Mal mit nachhaltigem Interesse in den Spiegel geschaut hatte. Es war, als starrte während seiner ganzen Jugendzeit eine jüdische Version von Alfred E. Neumann daraus hervor, dem Coverstar der Mad-Hefte.

      Seit Amerika eine ziemlich antisemitische Nation geworden war, betrachtete man den jüdischen „Afro“ als unangenehmes, ethnisches Merkmal. Bob Dylan änderte dann im Alleingang Anfang der Sechzigerjahre die Einstellung dazu, wie jemand auszusehen hatte, der hip ist. Und obwohl die Filmindustrie und medienwirksame Gestalten wie Allen Ginsberg dazu beitrugen, den jüdischen Mann in irgendetwas Ultraschickes zu verwandeln, hatte doch niemand einen so weit reichenden Einfluss wie Bob Dylan. Wie Ginsberg es seinem Biografen Barry Miles erklärt, sorgte Dylan dafür – speziell in seinem 1965er-Bringing It All Back Home-Look –, dass die Hakennase und das krause Haar zum Kennzeichen der modernen, intellektuellen Avantgarde wurden. Zu der Zeit, als Lou ins College kam und damit begann, sich als Lou Reed neu zu erschaffen, beschloss er jedenfalls, etwas gegen sein krauses Haar zu tun. Erst 1966 würde er als der Lou Reed auftauchen, der als schärfster Konkurrent von Dylan für den Titel des hippsten jüdischen Rockstars ins Rennen ging. In Syracuse entdeckte er im schwarzen Wohnviertel einen Laden, der sich auf Haarbehandlung spezialisiert hatte, und ließ sich hier mehrmals die Haare glätten. Diese Behandlungen hielten aber nie lange genug vor, um das Problem dauerhaft zu beseitigen, und so verfeinerte Lou den ursprünglichen Stil, indem er es entweder so kurz trug, dass keine biblischen Löckchen zu sehen waren, oder so lang, dass man ihn für leicht verrückt hielt.

      Genau wie seine britischen Gegenstücke Keith Richards von den Rolling Stones oder John Lennon von den Beatles verwarf auch Lou alles, was vor der Atombombe stattgefunden hatte, und orientierte sich bei seiner Selbsterschaffung ausschließlich an seinen eigenen Idolen. Das fiel Lou nicht schwer, behauptete er doch immer, er habe acht verschiedene Persönlichkeiten. Als handle es sich um Rollen in einem Drehbuch, verlieh er diesen Persönlichkeiten bestimmte Eigenschaften und kleidete sie in bestimmte Kostüme. Sie waren für seine Selbstdarstellung genauso wichtig wie die ersten kreativen Freunde, mit denen er in Syracuse zusammen herumhing.

      An erster Stelle kam hiebei Lenny Bruce. Obwohl ihn kurze Zeit später durch seine ständigen Zusammenstöße mit der Polizei ein schlimmes Schicksal erwartete, stand Bruce 1962 auf dem Höhepunkt seiner Karriere. In den Augen des Publikums war er der Größte, der amerikanische Dichter und Philosoph mit der schnellsten Zunge, die man sich vorstellen konnte. Bruce würzte seine Auftritte – eine Art Will Rogers auf schnellem Vorlauf – dadurch, dass er sich pures, flüssiges Methamphet­amin-Hydrochlorid injizierte, das später einmal auch Lous bevorzugte Droge werden sollte. Viele von Reeds Manierismen, zum Beispiel einige seiner Gesten, die Art, wie er am Telefon antwortete, sowie bestimmte Intonationen und Rhythmen beim


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