Lou Reed - Transformer. Victor Bockris

Lou Reed - Transformer - Victor Bockris


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sich eine Reihe von Porträtaufnahmen der Stars jener Epoche anzusehen, und man konnte erkennen, wen Lou zu gegebener Zeit als Inspirationsquelle benutzte: Frank Sinatra, Jerry Lewis in The Bellboy, Montgomery Clift und William Burroughs, um nur einige der Offensichtlicheren zu nennen. Tatsächlich gehörte zu Lous sympathischen Zügen die Art und Weise, wie er seine Helden schätzte und verehrte. Zum Beispiel versuchte er immer, Hyman, der ein konservativer Jurastudent war und dessen Lebensweg in die entgegengesetzte Richtung von Lous führen würde, dazu zu überreden, Kerouac zu lesen, um dann mit ihm darüber zu diskutieren. Lou war begeistert davon, Leute mit neuer Musik, neuen Szenen oder neuen Menschen zusammenzubringen.

      Eine Menge künstlerisch orientierter Jugendlicher, die Syracuse besucht haben, erinnern sich voller Verachtung an das College als eine reine Football-Schule, dominiert von den „verdammten“ Orangemen. Tatsächlich war es jedoch so, dass in der Umbruchperiode zwischen dem Ende der McCarthy-Ära und Kennedys Tod eine Welle der Liberalisierung durch die Colleges im Lande ging. In Syracuse lebten und gediehen viele verschiedene Gruppierungen. Sicherlich dominierten die Verbindungen noch immer den amerikanischen Campus, und die Mehrheit der männlichen und weiblichen Studenten trat den Bruder- oder Schwes­ternschaften mit der Gehorsamkeit von Schafen bei. Auf jeden Fall bestand ein tiefer kultureller Graben zwischen den jüdischen und den nichtjüdischen Verbindungen. Die jüdischen Bruderschaften waren zumeist moderner, neuen Entwicklungen und einer neuen Art zu leben gegenüber aufgeschlossener. Obwohl er Sigma Alpha Mu völlig ablehnte und sich vor allem einer kunstorientierten, intellektuellen Gruppe anschloss, deren Mitglieder teilweise sogar außerhalb der Universität lebten, blieb Lou doch immer mit Hyman befreundet und wurde sogar von den Sammies als Maskottchen adoptiert, sozusagen als der Hofnarr. Sie wollten jemanden, dem es bereits im ersten Semester gelungen war, sich einen Ruf als besonders launenhafte und düstere Persönlichkeit zu verschaffen, nicht völlig außer Acht lassen. Aus den jüdischen Bruderschaften in ganz Amerika rekrutierte sich während Lous gesamter Karriere ein besonders empfänglicher Teil seiner Fangemeinde.

      Am Ende des ersten Semesters, so einer der Sammies, unterschied sich Lou besonders durch seine Originalität und Sturheit von allen anderen Studenten, „die ich kannte. Er tickte nach seinem eigenen Rhythmus. Er war schon dafür, irgendetwas für Leute zu tun, aber immer auf seine Art. Er hätte sich niemals so gekleidet oder verhalten, um jemandem zu gefallen. Lou hatte einen unglaublich beißenden, trockenen Humor, er liebte witzige Dinge. Er verstellte sich oft. Oder er verhielt sich sehr provozierend. Er wollte einfach anders sein. Lou war ein lustiger Typ, in einem besonders trockenen, witzigen Sinn. Bestimmt keiner von den Komödian­ten, über die man sich lustig macht. Er machte sich niemals über etwas lus­tig, sondern sah den Witz in den Dingen selbst – das Banale und das Gewöhnliche. Alles, was er tat, war unterschwellig vernünftig. Er war immer etwas durchgedreht, aber das lag an seiner Schizophrenie.“

      Was Lou dringend brauchte, war jemand, dem er seine Ideen anvertrauen konnte und der ihn seinerseits inspirierte. Wie durch ein Wunder fand er diesen Menschen in der zweiten goldenen Periode seines Lebens (die erste goldene Periode war die Entdeckung der Rockmusik). Lincoln ­Swados, brillant, exzentrisch, talentiert, gequält und einem harten Schicksal entgegenschreitend, wurde Lous erster enger Freund, indem er sich wieder erkennen konnte und mit dem er zusammenarbeitete. Die beiden teilten sich in Lous zweitem Jahr an der Uni ein Zimmer. Swados kam aus einer aufsteigenden, sehr jüdischen Mittelschichtfamilie aus dem nördlichen Teil des Bundesstaates New York. Genau wie Lou hatte auch er eine kleine Schwester namens Elizabeth, in die er ebenfalls vernarrt war (und mit der er sich, auch hierin Lou ähnlich, zum Teil identifizierte). Wie Gefangene in einem sibirischen Arbeitslager, die nach Jahren der Einsamkeit endlich einen Kameraden und Seelenbruder gefunden haben, fielen sich die beiden in die Arme. Um die Sache perfekt zu machen – jedenfalls nach Lous Ansicht –, wollte Lincoln ebenfalls Schriftsteller werden (er arbeitete an einem end­losen Roman im Stil Dostojewskis); sein Lieblingssänger war Frank Sinatra; Lincolns Zimmerhälfte sah noch wüster aus als Lous, und – das gab den Ausschlag – er litt unter Platzangst. Er verkroch sich die meiste Zeit in ihrem Zimmer im Erdgeschoss und hing dort über seinem Schreibtisch, der wie ein Schlachtfeld aussah; oder er hörte Platten von Frank Sinatra und diskutierte mit Lou. Wenn Lou jemanden brauchte, dem er seine neuen Lieder vorspielen oder seine Gedichte und Geschichten vorlesen konnte, so war Lincoln immer zur Stelle. Seit Beaumont und Fletcher hatte es keine Schriftsteller gegeben, die so gut zusammenarbeiten konnten.

      Einer der hervorstechendsten Charakterzüge Lous bestand in dem Bedürfnis, alles um ihn herum zu kontrollieren, immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und insgesamt die markanteste Persönlichkeit aller Anwesenden darzustellen. Auch hier erwies sich Lincoln als der perfekte Partner, denn wenn Lou von der Angst verfolgt wurde, noch nicht der hippste Mann der Welt zu sein, so hatte Lincoln sicherlich keinerlei Ambitionen auf diesen Titel. Meistens trug er eine Hose, die irgendwo oberhalb des Knöchels endete und etwa in Brusthöhe gegürtet war. Das Kurzarmhemd, das er für gewöhnlich trug, passte grundsätzlich nicht dazu. Aus einem leichenhaften Gesicht starrten stark hervortretende Augen, die auch Caryl Chessman auf dem elektrischen Stuhl wie einen übermüdeten Junkie aussehen ließen, und schmutziges, ungekämmtes Haar umkränzte seinen Kopf. Lincolns Körper befand sich in dem gleichen Auflösungszustand wie seine Gedanken. Nur höchst selten badete er oder putzte sich die Zähne, und der Geruch, den er manchmal ausströmte, machte jeden engen körperlichen Kontakt unmöglich. Das Bild wurde durch ein etwas geisterhaftes Lächeln vervollständigt, das einem aufmerksamen Beobachter wie Lou verraten musste, wie weit sich Lincoln bereits von der Realität entfernt hatte.

      Ihr gemeinsames Zimmer war eingerichtet wie eine karge Dichterklause, die Kafkas Vorstellungswelt entsprungen zu sein schien. Auf dem grün gestrichenen Betonboden standen zwei schwarze, eiserne Bettgestelle, identische Tische und ramponierte Stühle; die Beleuchtung bestand aus einer kümmerlichen, kalt leuchtenden Glühbirne. Für die Verzweiflung und den Ehrgeiz der beiden Brüder im Geiste hätte man kein besseres Symbol finden können als diesen Raum. Beide verachteten die Welt ihrer Eltern, der sie nun zumindest zeitweise entkommen waren. Beide hatten die Absicht, diese Welt und ihre Wertvorstellungen zu zerstören, indem sie etwas schrieben, das genauso beißend und zerstörerisch war wie Burroughs’ Naked Lunch, das dieser in Tanger auf der kampferprobten Tastatur seiner Schreibmaschine in das Papier hineingefräst hatte. Dieses Zimmer wurde ihr geistiges Waffenlager, ihr Hauptquartier, ihre Höhle des Wissens und der Gelehrsamkeit, ihr Flugkörper für die Reise ins Unbekannte. Nach und nach übernahm Lou fast das gesamte lincolnsche Repertoire an Gesten, Gedanken und Gewohnheiten. Später gestand er: „Ich beobachte die Leute, die ich kenne, ganz genau, und wenn ich denke, dass ich alles verstanden habe, gehe ich weg und schreibe einen Song darüber. Und wenn ich ihn dann singe, verwandle ich mich in diese Menschen. Deswegen bin ich auch leer, wenn ich nichts tue. Ich habe keine eigene Persönlichkeit, ich leihe mir immer die Persönlichkeit der anderen.“

      Er hatte nun sein männliches Gegenstück gefunden, aber um seine männliche und seine weibliche Seite im Gleichgewicht zu halten, benötigte Lou noch eine Freundin. Er erblickte sie, nachdem er eine Woche lang mit Swados zusammenwohnte; sie saß auf dem Vordersitz eines Autos neben einem blonden Footballspieler, der der anderen jüdischen Verbindung des College angehörte. Die beiden fuhren die Marshall Street hinunter, und ihr Begleiter erkannte Reed sofort als den ortsansässigen heiligen Narren. In dem Wunsch, seine Begleiterin, die atemberaubend schöne Shelley Albin aus dem mittleren Westen und frisch am College eingetroffen, zu amüsieren, hielt er an und sagte lachend: „Das ist Lou! Er ist sehr scho­ckierend und böse!“ Er bot dem „verrückten“ Lou an, mitzufahren. Wie sich später herausstellen sollte, war das ein schwerer Fehler.

      Obwohl keineswegs so schwierig und verdreht wie Lincoln Swados, war Shelley ein genauso guter Partner für Lou wie sein Zimmergenosse. Shelley war in Wisconsin aufgewachsen und hatte dort das frustrierende Leben eines Beatnik-Wildfangs geführt. Sie war nach Syracuse gekommen, weil es das einzige College war, auf das ihre Eltern sie gehen ließen. Zusammen mit einer Jugendfreundin hatte sie sich auf ihr neues Leben vorbereitet, indem sie beschloss, sich an die Anforderungen des College und der hiesigen Kultur anzupassen. Sie verwarf die Jeans und Arbeitshemden, die sie zuhause getragen hatte, und kleidete sich nun in knielange Röcke und geschmackvolle Blusen, zu denen sie eine Perlenkette trug, so wie alle Mädchen in den Jahrbuchfotos dieser Zeit. Als Lou – begierig darauf, sie kennen


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