Lou Reed - Transformer. Victor Bockris
ein neues Blatt in der Geschichte der Popmusik auf, ein für alle Mal. Aber es waren nicht nur die Texte. Bei ‚Heroin‘ und ‚Venus In Furs‘ waren Musik und Thema genau aufeinander abgestimmt, und das klang wie etwas völlig Neues. Die Blueselemente und die afroamerikanischen Rhythmen, bis dahin die Grundelemente jeglicher Rockmusik, verschwanden. Vorherrschend war nun der knirschend-kreischende Sound von Cales elektrischer Viola und Reeds Gitarre, die ihn aufnahm und zurückwarf, während das Tempo schneller oder langsamer wurde, je nach den Erfordernissen des Texts.“
Der Austausch dieser beiden Persönlichkeiten war jedoch sehr zerbrechlich. Einmal spielte Lou einen neuen Song vor, den er geschrieben hatte, und John improvisierte einen Violapart dazu. Sterling murmelte irgendwas in der Art, das sei gut. Lou sah hoch und blaffte: „Ja, ich weiß. Ich hab den Song nur für die Viola geschrieben. Ich kannte jede einzelne Note im Voraus.“ Obwohl er Lou an Redegewandtheit unterlegen war, setzte sich Cale musikalisch gegen ihn durch. Einige Beobachter des Geschehens glauben sogar, dass es mehr als das war – dass er Lou Reed sozusagen machte, ihn vervollständigte. Und manche meinen, dass es ohne John Cale nicht jenen Lou Reed gegeben hätte, der zu einer Legende wurde. „Es ist eine faszinierende Beziehung“, kommentiert ein Freund. „Dass John mit Cage und LaMonte Young zusammengearbeitet hat, wäre schon an sich bemerkenswert genug, selbst wenn seine Karriere da aufgehört hätte, aber dann traf er Lou und fand ihn interessant, obwohl Lou einen ganz anderen Hintergrund hatte. Ich glaube, er wusste das und hat viel dazu beigetragen, um es voranzutreiben, und für ihn war das auch Anlass genug, sein Leben zu ändern.“
Sterling Morrison war ein liebenswerter Clown, der die totale Nervensäge, aber ebenso gut der beste Freund der Welt sein konnte. Unsicher, was seine Fähigkeiten als Musiker betraf, hielt er sich im Hintergrund und murmelte provisorisch die Refrains vor sich hin, die er singen sollte. Ein Freund erinnert sich, dass „es typisch für Sterling war, ein wundervolles Solo zu spielen und dann so zu tun, als sei es ihm egal. Aber nach einer Stunde kam er dann an und fragte: ‚Wie fandest du das Solo?‘“ Wenn irgendetwas schief lief, verbarg Morrison seine Nervosität unter einem Mantel des Schweigens. Seine Persönlichkeit diente oft als nützlicher Blitzableiter zwischen Reed und Cale, aber es brachte auch Probleme mit sich, wenn er, ohne jemandem zu sagen, dass ihm etwas nicht passte, einfach verstummte.
Das Bindeglied des Unternehmens war Angus MacLise. Die Band zog nicht nur den Hauptanteil ihres Strombedarfs aus seiner Wohnung, sondern Angus war auch ein liebenswerter Mensch, dem der Schalk im Nacken saß. Er war inspiriert, inspirierend und ein echter Speedfreak. Als Schlagzeuger war er intuitiv und vielseitig, er beherrschte eine erstaunliche Vielfalt von Rhythmen und Figuren, die aus allen Kulturen dieser Welt stammten. Seine vielen Reisen hatten ihn stark beeinflusst, seien es die Derwische, die er im Nahen Osten kennen gelernt hatte, oder die Leute, denen er in Indien und Nepal begegnet war. Er war ein visionärer Poet und Mystiker und gehörte ebenfalls zu der Truppe um LaMonte Young. Für ihn war es wichtig, zum Kerngedanken der Musik vorzudringen und ihn mit seinem eigenen tiefsten Inneren zu verbinden. „Angus’ Vorstellungen von Kunst waren träumerisch – und ich meine wirklich träumerisch“, kommentiert Sterling. „Aber wir waren auch nicht viel anders, sonst hätten wir viel mehr Geld machen können. Wir haben niemals für Geld gearbeitet, wir hatten einen starken Bezug zu unserer Arbeit, und wir wollten sie so gut wie möglich machen. Wir sagten: Scheiß auf das Marketing.“
Sowohl Cale als auch MacLise spielten 1965, parallel zu den Proben der Warlocks, weiterhin beim Theater of Eternal Music, obwohl sie damit Lous Wunsch nach völliger Ergebenheit und Hingabe nicht entsprachen. Dadurch wurde LaMonte Young fast zum dritten Mann im Konzept der Band. Damals war es in New York – besonders im East Village – durchaus üblich, dass gewisse Persönlichkeiten, wie LaMonte Young, Andy Warhol, Robert Rauschenberg oder Allen Ginsberg, von einer schülerhaften, ehrerbietigen Menge von Anhängern und Mitarbeitern umgeben waren. Und es ist auch bezeichnend, dass Lou Reed kein einziges Mal während seiner ganzen Karriere mit den Velvet Underground auf LaMonte Young traf – obwohl zwei Mitglieder der Band mit Young eng verbunden waren. Reed hatte begriffen, dass Leute, die es allein schaffen wollen, Stars zu werden, sich von der Sogkraft solcher Gruppen fern halten müssen.
Der große Widerspruch in Lous Karriere bestand jedoch darin, dass er sich für das – ganz besonders in den Sechzigern – wettbewerbsorientierte, schnelle Rockbusiness entschied; und damit auch für jene Kunstform, deren Grundbedingung bedingungslos intensive, schnelle und häufig nervenzerfetzende Zusammenarbeit mit anderen Menschen war, etwas also, für das Lou überhaupt kein Talent besaß. Bald machten die Mitglieder der neuen Band die gleichen Erfahrungen wie zuvor auch die Eldorados in Syracuse: Lou konnte der netteste, charmanteste Mensch sein, aber er entwickelte sich zum größten Arschloch, sobald man mit ihm zusammenarbeitete. Abgesehen davon, dass er alles kontrollieren wollte und über ein Ego vom Ausmaß des Himalaja verfügte, bestand sein Problem darin, dass er den Anteil der anderen an der gemeinsamen Arbeit nicht anerkannte.
Genauso, wie es die Rolling Stones gemacht hatten, als sie ihre Musik entwickelten, arbeiteten auch die späteren Velvets alle ihre Songs gemeinsam aus. Reed, der sich die Grundakkorde ausdachte und die skizzenhaften Texte beisteuerte, war jedoch der Ansicht, er habe ganz allein Meisterwerke wie „Heroin“, „Venus In Furs“, „I’m Waiting For The Man“, „The Black Angel’s Death Song“ und so weiter zustande gebracht. Obwohl Reed zweifellos die brillanten Texte und Akkorde beisteuerte, wurden die verschiedenen und größeren Instrumentalparts der Musik – Cales Bratsche, Morrisons Gitarre, MacLise’ Schlagzeug – von den Musikern individuell entwickelt. Kurz gesagt: Reed hätte sich seine Verdienste im Textbereich mit den musikalischen Verdiensten der anderen teilen sollen. Am Anfang stellte sich die Frage natürlich noch nicht, da es auch keine Verträge gab, die man hätte unterzeichnen müssen, alles war eitel Sonnenschein, es gab noch keinen Grund, sich groß zu streiten. Außerdem war die Gruppe davon überzeugt, dass ihre Werke sowieso niemals bei einer Plattenfirma herauskommen würden. Zu gegebener Zeit würde jedoch diese wichtige Grundlage der künstlerischen Zusammenarbeit, die gegenseitige Anerkennung und Klärung der Veröffentlichungsrechte (mit denen langfristig das meiste Geld im Rockgeschäft gemacht wird) die schmerzhaftesten Konflikte in der Band auslösen, die in ihrer Geschichte noch so manchen anderen Kampf austragen würde.
Anfang 1965 entwickelte sich Angus jedoch zu einem treuen, wenn auch etwas verrückten Freund von Lou und trat damit die Nachfolge von Lincoln Swados an. Durch Angus kam Lou auch mit der leicht erhältlichen pharmazeutischen Substanz Methamphetamin-Hydrochlorid in Berührung; dies war auch die bevorzugte Droge des besonders intensiv nach Erleuchtung suchenden Kreises um Jack Smith und später auch von Andy Warhol. Methamphetamin-Hydrochlorid – oder auch Speed – ist der Schlüssel zum Verständnis dessen, was den Sound von Reed und Cale so stark vom musikalischen Mainstream-Pop Amerikas in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre abhob, der hauptsächlich durch softe, halluzinogene Drogen beeinflusst war. Eine Zeit lang produzierte Tony Cox, der damalige Ehemann von Yoko Ono, im gleichen Gebäude in der Ludlow Street, in dem auch John und Lou wohnten, Speed en masse für die Mafia. Sie befanden sich also mitten im Herzen der Speedszene. Lou und Angus arbeiteten zusammen an einem Essay mit dem Titel „Über das Gerücht, dass China den Methedrin-Markt erobert und durch das Hinzufügen von Paranoiatropfen versucht, die USA aus dem geistigen Gleichgewicht zu bringen“, ein völlig absurdes, zugeknalltes Credo der inhaltlichen Richtlinien der Band. In einem Teil hieß es beispielsweise: „Die Grundlagen der westlichen Musik sind der Tod, die Gewalt und das Streben nach Fortschritt … Die Wurzel der universellen Musik ist der Sex. Westliche Musik ist genauso gewalttätig wie westlicher Sex … Unsere Band ist das westliche Gegenstück zu Shivas kosmischem Tanz. Wir spielen, während Babylon in Flammen aufgeht.“
Die Spannungen zwischen den vier unterschiedlichen Persönlichkeiten wurden der emotionale Motor ihrer Musik. Zwanzig Jahre später sollte Reed heftig abstreiten, dass besonders die Spannungen zwischen ihm und Cale so fruchtbar waren. Aber das ist nur einer seiner vielen Versuche, die eigene Geschichte nach seinem Willen zu schreiben. Morrison erinnert sich: „Ich mag Lou wirklich sehr gern, aber er ist wohl das, was man eine fragmentarische Persönlichkeit nennt. Man weiß nie, mit wem man es unter welchen Bedingungen eigentlich zu tun hat. Manchmal ist er jungenhaft charmant und naiv – Lou kann sehr charmant sein, wenn er will. Oder er ist boshaft und gemein – und wenn er so ist, muss man erst