You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson. Jermaine Jackson
den anderen verbanden, zu einer wurden. An jenem Abend verfolgten wir vermutlich ein paar Dutzend und zählten laut mit, bevor wir irgendwann verstummten.
Michael sah traurig aus. Wenn ich mich heute an diesen Moment erinnere, dann sehe ich mich als großer Bruder mit meinen acht Jahren neben ihm stehen und auf ihn hinunterblicken, während ich die gleiche Traurigkeit empfand. Dann begann er zu singen:
„Jingle bells, jingle bells, jingle all the way
Oh what fun it is to ride,
On a one-horse open sleigh …“
Das war das erste Mal, dass ich seine Stimme mit ihrem engelsgleichen Klang bewusst wahrnahm. Er sang leise, damit Mutter es nicht hörte. Ich fiel ein, und wir sangen zweistimmig, ein paar Strophen von „Silent Night“ und „Little Drummer Boy“. Zwei kleine Jungen, die an der Schwelle ihres ausgegrenzten Daseins Weihnachtslieder sangen, die wir in der Schule aufgeschnappt hatten, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, dass die Musik eines Tages unser Beruf sein würde.
Während wir sangen, lag ein breites Lächeln auf Michaels Gesicht, denn wir hatten uns ein kleines Stück Magie stibitzt. Für einen kurzen Augenblick waren wir glücklich. Aber dann hörten wir auf, weil dieses kurzlebige Gefühl uns umso stärker verdeutlichte, dass wir ja nur so taten, als ob wir an dem Fest teilnähmen. Der nächste Tag würde bei uns so sein wie jeder andere. Ich habe oft gelesen, Michael habe Weihnachten nicht gemocht, weil es in unserer Familie nie gefeiert wurde. Das stimmt nicht. Spätestens seit dem Augenblick nicht, an dem er mit vier Jahren zum Haus der Whites hinübersah und sagte: „Wenn ich mal groß bin, will ich Lichter haben. Jede Menge. Dann ist jeden Tag Weihnachten.“
„Schneller! Schneller!“, kreischte Michael mit seiner glockenhellen Stimme. Er saß vorn in einem Einkaufswagen, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, während Tito, Marlon und ich das Gefährt im vollen Lauf die 23. Avenue hinunterrattern ließen, ich hinter der Stange, meine beiden Brüder links und rechts des Wagens, weil sich die Räder auf dem Straßenbelag wild drehten und sprangen. Wir nahmen noch einmal richtig Fahrt auf und rasten los wie ein Schlittenbob-Team. In unserer Phantasie fuhren wir allerdings einen Zug, den wir uns gern auch mit zwei oder drei aneinandergereihten Einkaufswagen zusammenstellten. Sie stammten aus dem Giants-Supermarkt drei Straßen weiter, auf der anderen Seite des Sportplatzes, der hinten an unser Grundstück grenzte, aber die Wagen wurden oft irgendwo im Viertel stehen gelassen und waren deshalb leicht aufzutreiben. Michael war der „Lokführer“.
Er war ganz verrückt nach den Spielzeugeisenbahnen der Firma Lionel – kleine, solide Dampfmaschinen oder Lokomotiven, die in orangefarbenen Schachteln verpackt waren. Wenn wir mit Mutter zum Geschäft der Heilsarmee gingen, um Kleidung zu kaufen, rannte er immer sofort nach oben in die Spielzeugabteilung und sah nach, ob jemand vielleicht gerade eine gebrauchte Lionel-Bahn abgegeben hatte. In seiner Phantasie wurden unsere Einkaufswagen jedenfalls zu einem Zug mit zwei oder drei Waggons und die 23. Avenue zu einem schönen, geraden Gleis. Der Zug war zu schnell, um weitere Passagiere zusteigen zu lassen, und donnerte die Strecke entlang, während Michael die entsprechenden Geräusche machte. Dort, wo die 23. Avenue in einer Sackgasse endete, etwa fünfzig Meter von unserem Garten entfernt, kam unser Zug dann an einem imaginären Prellbock zum Stehen.
Wenn Michael nicht gerade auf der Straße Eisenbahn spielte, lag er mit seiner geliebten Lionel-Lok auf dem Teppich in unserem gemeinsamen Kinderzimmer. Unsere Eltern hatten ihm kein neues Modell kaufen können, und eine elektrische Eisenbahn mit Gleisen, Bahnhof und Signalen konnten sie sich schon gar nicht leisten. Der Traum von einer Spielzeugeisenbahn war jedenfalls weitaus früher in seinem Kopf verankert als der Traum, eines Tages auf der Bühne zu stehen.
Geschwindigkeit. Alles, was uns Kindern besonders aufregend erschien, hatte irgendwie mit dem Speed-Kick zu tun. Egal, was wir machten, es ging immer darum, schneller zu sein, uns gegenseitig zu überholen. Hätte unser Vater um diesen Hunger nach Tempo gewusst, hätte er es uns sicherlich verboten: Die Gefahr von Verletzungen betrachtete er stets als großes Karriere-Risiko.
Als uns die Einkaufswagen-Zugfahrten irgendwann langweilig wurden, bauten wir uns „Go-Karts“ aus Kisten, Kinderwagenrädern und Brettern, die wir auf einem Schrottplatz in der Nähe besorgten. Tito war der „Ingenieur“ unter uns Brüdern und für die Konstruktion zuständig. Er bastelte auch ständig an Uhren und Radios herum, nahm sie auf dem Küchentisch auseinander und setzte sie wieder zusammen, und er sah Joseph gern dabei zu, wenn der an seinem Buick herumschraubte, der neben dem Haus geparkt war. Dadurch wusste er natürlich auch, wo der Werkzeugkasten unseres Vaters stand. Wir nagelten drei Bretter zusammen, um ein Fahrgestell in I-Form mit Achsen zu bekommen, befestigten darauf eine Holzkiste als offenes Cockpit und zogen ein Stück Wäscheleine als eine Art Zügel vorn um die Räder, um den fahrbaren Untersatz lenken zu können. Angesichts ihrer Bauweise hatten die Karts natürlich ungefähr den Wendekreis eines Öltankers, und so fuhren wir die meiste Zeit geradeaus.
Der breite Weg hinter unserem Haus, der zwischen grasbewachsenen Gärten auf der einen und einem Maschendrahtzaun auf der anderen Seite verlief, war unsere „Rennstrecke“, und nur darum ging es, um das „Rennen“. Oft ließen wir zwei Go-Karts nebeneinander laufen: Tito schob Marlon, und ich schob Michael die fünfzig Meter lange Bahn entlang. Wichtig war der Wettstreit zwischen uns, wer schneller fuhr und wer gewinnen würde.
„Los, los, LOS!“, kreischte Michael und beugte sich vor, damit wir in Führung gingen. Marlon verlor auch nicht gern, und deshalb hatte Michael einen ernstzunehmenden Konkurrenten. Marlon war jemand, der nie verstand, wieso er nicht endlich seinen eigenen Schatten überholen konnte. Ich sehe ihn heute noch vor mir, wie er über die Straße rannte und dauernd zur Seite sah, erst voll wilder Entschlossenheit und schließlich ganz frustriert, weil ihm sein Schatten unüberwindlich auf den Fersen blieb.
Wir schoben die Go-Karts über die Piste, bis die Metallkrampen über den Asphalt kratzten und die Räder blockierten oder abfielen, so dass Michael in seinem Gefährt auf die Seite kippte und ich so lachen musste, dass ich kaum noch stehen konnte.
Auf einem Spielplatz nahe der Schule gab es ein kleines Karussell, auf dem wir unsere Lust am Geschwindigkeitsrausch ebenfalls auslebten. Man kauerte sich ziemlich in der Mitte hin, hielt sich an den Eisenstangen fest und brachte seine Brüder dazu, das Ding so schnell zu drehen, wie es irgend ging. „Schneller! Schneller! Schneller!“, rief Michael, die Augen fest geschlossen und vor Begeisterung lachend. Er setzte sich meist rittlings auf die Haltestangen und ließ sich dann herumwirbeln. Die Augen zugekniffen. Den Wind im Gesicht.
Wir alle träumten davon, eines Tages einmal mit einem richtigen Zug zu fahren, ein echtes Go-Kart-Rennen zu bestreiten und bei Disney in einem großen Karussell zu sitzen.
Noch bevor wir je etwas von Roald Dahl und seiner Geschichte von Willy Wonkas Schokoladenfabrik hörten, kannten wir schon dessen afro-amerikanische Version, Mr. Long. Er war wie ein Zauberer, mit weißem Haar, runzligen Gesichtszügen und lederartiger dunkler Haut, der in der nächsten Straße, der 22. Avenue, Süßigkeiten verkaufte. Sein Haus lag auf dem Weg zu unserer Grundschule am anderen Ende der Jackson Street.
Viele Kinder machten sich wie wir regelmäßig auf zu Mr. Longs Haus, weil sein jüngerer Bruder auf unsere Schule ging. Weil wir Timothy kannten, bekamen wir immer einen guten Preis; für zwei oder fünf Cent gab es eine kleine Papiertüte voller Lakritz, Karamellbänder, Zitronendrops oder Kaubonbons mit Bananengeschmack – Mr. Long hatte einfach alles, ordentlich auf einem Bettgestell im Vorderzimmer ausgelegt. Er sagte nicht viel und lächelte auch nicht, aber wir freuten uns trotzdem jedes Mal darauf, ihn morgens vor der Schule zu besuchen; wir zeigten auf das, was wir haben wollten, und er packte es in unsere Tüte. Michael war verrückt nach Süßigkeiten, und dieses morgendliche Ritual ließ den Tag immer gleich viel freundlicher erscheinen. Wie wir an das nötige Kleingeld dafür kamen, ist eine andere Geschichte, die ich später erzählen will.
Wir alle bewachten unsere Papiertüten mit den Süßigkeiten wie einen Goldschatz, und zu Hause, in unserem Zimmer, hatten wir alle unsere eigenen Verstecke, die natürlich die anderen Brüder aufspüren wollten. Ich bunkerte meine Sachen unter dem Bett oder unter der Matratze, und man kam mir immer auf die Schliche, aber Michael war wie ein Eichhörnchen und fand sehr clevere Verstecke, die nie einer von uns