You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson. Jermaine Jackson

You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson - Jermaine  Jackson


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verlegen. Michael spielte gern Einkaufsladen: Er bastelte sich einen Ladentisch, indem er ein Brett über ein paar aufgestapelte Bücher legte, darüber breitete er ein Tischtuch, und dann packte er seine Süßigkeiten aus. Der „Laden“ befand sich entweder in der Tür zu unserem Kinderzimmer oder auf dem untersten Etagenbett, und er kniete dann immer dahinter und wartete auf Kundschaft. Wir handelten und tauschten viel miteinander, dazu nahmen wir entweder das Wechselgeld, das wir von Mr. Long bekommen hatten, oder kleine Münzen, die wir auf der Straße gefunden hatten.

      Aber Michael war zum Entertainer geboren, nicht zum gewieften Geschäftsmann. So viel wurde klar, als unser Vater ihn eines Tages fragte, wieso er so spät von der Schule nach Hause komme. „Wo warst du?“

      „Ich habe Süßigkeiten gekauft“, antwortete Michael.

      „Wie viel hast du dafür bezahlt?“

      „Fünf Cent.“

      „Und für wie viel willst du sie jetzt verkaufen?“

      „Für fünf Cent.“

      Joseph gab ihm einen harten Klaps auf den Hinterkopf. „Man verlangt doch nicht nur denselben Preis, den man selbst bezahlt hat!“

      Das war typisch Michael: Immer viel zu fair, nie gerissen genug. „Wieso kann ich die Sachen nicht für fünf Cent weggeben?“, fragte er später im Kinderzimmer. Die Logik dahinter blieb ihm verschlossen, und der unverdiente Klaps hatte ihn verletzt. Ich ließ ihn auf dem Bett sitzen, wo er vor sich hin murmelte, während er seine Süßigkeiten sortierte und offenbar immer noch im Kopf Einkaufsladen spielte.

      Ein paar Tage später erwischte ihn Joseph hinten im Garten, wo er anderen Kindern aus der Straße Süßigkeiten durch den Zaun reichte. Kindern, die es nicht so gut hatten wie wir. Natürlich war er umlagert. „Für wie viel hast du ihnen den Kram verkauft?“, fragte Joseph.

      „Ich habe nichts verkauft. Ich habe es ihnen so gegeben.“

      Knappe dreitausend Kilometer entfernt vom Ort unserer Kindheit besuchte ich Michael mehr als zwanzig Jahre später auf seiner Ranch, Neverland Valley, bei Santa Ynez in Kalifornien. Er hatte viel Zeit und Geld darauf verwandt, das riesige Grundstück in einen richtigen Freizeitpark zu verwandeln, und die Familie war nun eingeladen, sich die fertige Märchenwelt anzuschauen. Neverland wurde in den Medien stets als verrücktes Produkt einer überbordenden Phantasie beschrieben, das sich stark an Disneyworld orientierte. Teilweise mag das stimmen, aber die Wahrheit liegt wesentlich tiefer, und das erkannte ich sofort, als ich mit eigenen Augen sah, was er hier geschaffen hatte.

      Es war eine Reise zurück in meine Kinderzeit: Weiße Weihnachtslichterketten säumten den Bürgersteig und die Pfade, beleuchteten die Bäume, das Dach und die Regenrinnen des im Tudorstil erbauten Hauses. Sie blieben das ganze Jahr über angeschaltet, damit es tatsächlich „jeden Tag Weihnachten“ war. Eine riesige Dampflok mit mehreren Wagen verkehrte zwischen den Läden und dem Kino, und ein ­Miniaturzug umrundete das ganze Anwesen und den Zoo. Wenn man im Haupthaus an der Tür am lebensgroßen Modell eines Butlers vorbeigekommen war, die breite Treppe nach oben nahm und dann einen langen Flur entlangging, kam man ins Spielzimmer. In diesem Raum, dessen Tür von lebensgroßen Superman- und Darth-Vader-Figuren bewacht wurde, befand sich ein enorm großer Tisch, auf dem eine alte Lionel-Eisenbahnlandschaft aufgebaut war. Zwei oder drei Züge drehten voll beleuchtet ihre Runden durch eine Miniaturwelt aus Hügeln, Tälern, Städten und Wasserfällen. Drinnen wie draußen hatte sich Michael die größten Spielzeugeisenbahnen gegönnt, die man sich vorstellen konnte.

      Auf dem Außengelände hatte er eine professionelle Go-Kart-Bahn mit allen Schikanen und engen Kurven konstruieren lassen und ein hübsches Karussell mit prachtvoll ausstaffierten Pferdchen aufgestellt, die sich zur Musik drehten. Es gab einen Süßigkeiten-Laden, in dem die Leckereien nichts kosteten, und einen Weihnachtsbaum, der das ganze Jahr über geschmückt blieb. 2003 sagte Michael, er habe sich die Ranch so eingerichtet, um alles zu haben, was er als Kind nie besaß. Aber er baute sich auch die Sachen nach, die ihm kurzzeitig durchaus viel Spaß gemacht hatten, nun jedoch in einer viel größeren, überdimensionierten Version. Er selbst bezeichnete sich als „Phantasie-Fanatiker“, und Neverland war seine ewige Phantasie.

      Neverland brachte uns die verlorenen Kindertage zurück, denn so stufte er seine frühen Jahre ein – als Verlust. Er, das ewige innere Kind, das durch seine Vergangenheit streifte und versuchte, sich irgendwie zukünftig mit seiner Vergangenheit zu versöhnen. Es war dabei nicht die Weigerung, erwachsen zu werden, denn wenn man ihn fragte, dann sagte er, dass er sich niemals wie ein kleiner Junge gefühlt habe. Von Michael war stets erwartet worden, dass er sich auch schon als Kind erwachsen verhielt, und daher verwandelte er sich in ein Kind, als er eigentlich ein Erwachsener hätte sein sollen. Er war eher Benjamin Button als Peter Pan, auch wenn er letzteren Vergleich selbst gern heranzog.

      Während ich mich durchaus daran erinnere, dass wir in unserer Kindheit viel lachten, empfand er diese Zeit völlig anders, was höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen war, dass ich vier Jahre älter war als er.

      Mit einem Freund und einem unserer Neffen nahm ich mir ein Quad, um die Ranch zu erkunden, die uns mit ihren über tausend Hektar Fläche riesig erschien. Grüne Hügel, mit Eichen bestanden, erstreckten sich bis weit in die Ferne. Eine staubige Schotterstraße führte uns abseits der bebauten Fläche auf ein Plateau, den höchsten Punkt des Geländes, der uns einen Rundumblick auf das ganze Anwesen bot. Meine Augen fingen alles ein – das Haus, den Freizeitpark, den See, das Riesenrad, die Züge, die Bepflanzung –, und Stolz und Ehrfurcht überwältigten mich. Sieh dir an, was du geschaffen hast, sagte ich zu meinem Bruder, erst im Geiste und dann, als ich zurück war, auch direkt.

      „Einen Ort völligen Glücks“, erwiderte er.

      Die verzerrte Darstellung von Neverland zeigt vor allem, dass Michael in den Medien nach dem äußeren Schein seiner Welt beurteilt wurde, und nach Hörensagen. Stets schien man ein grelles, oberflächliches Bild seiner Person und seiner Ranch zu zeichnen, ohne sich je die Mühe zu machen, nach dem komplexeren „Warum?“ zu fragen. Wie jeder andere Mensch war er durch seine Herkunft geprägt. Aber der Ruhm – und vor allem der Ikonenstatus, der meinem Bruder aufgedrückt wurde – errichte eine Barriere des öffentlichen Interesses um ihn und wirkte seinem Bedürfnis, verstanden zu werden, entgegen. Aber um ihn zu verstehen, müssen wir uns in ihn hineinversetzen und das Leben aus seinem Blickwinkel betrachten. Wie sagte Michael 2003 in einer Botschaft an seine Fans, die er von Ed Bradley von CBS übermitteln ließ: „Wenn man wirklich etwas über mich wissen will, dann sollte man sich einen meiner Songs anhören. Er heißt ‚Childhood‘ …“

      Michael offenbarte in diesem Text, dass er sich durchaus bewusst war, ein erwachsener Mann mit der Wahrnehmung eines Kindes zu sein: „People say I’m strange that way because I love such elementary things … but have you seen my childhood?“ Damit wollte er sagen: So wurde ich geprägt. So bin ich.

      Viele Menschen haben versucht, durch das Fenster unserer Kindheit zu spähen, hinter die Fassade der übermächtigen Pop-Ikone zu schauen und die Berichte verleumderischer Medien kritisch zu überprüfen. Aber ich habe das Gefühl, man muss es wirklich erlebt haben, um es zu begreifen und zu verstehen. Denn unsere Welt, wie wir in unserer großen Familie als Brüder und Schwestern unter einem Dach aufwuchsen, war einzigartig. Wir hatten ein kleines Haus in der Jackson Street – die nach dem Präsidenten Andrew Jackson benannt worden war, nicht nach uns –, und wir teilten Erinnerungen, Musik und einen Traum. Hier ist der Ausgangspunkt unserer Geschichten und seiner Texte, und hier, hoffe ich, kann man dem wahren Michael Jackson zumindest ein wenig auf die Spur kommen.

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      Alles fing damit an, dass wir eines Tages um die Spüle in der Küche herumstanden und unsere Stimmen entdeckten. Das Abwaschen, Abtrocknen und Einräumen wurde bei uns sozusagen wie am Fließband erledigt und war ein allabendliches Ritual nach dem Essen. Diese Arbeit wurde paarweise im wöchentlichen Wechsel übernommen: Zwei Kinder trockneten ab, zwei andere stellten das Geschirr weg, und unsere Mutter stand in der Mitte, eine Schürze über ihrem Kleid, die Hände tief im


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