The Who - Maximum Rock I. Christoph Geisselhart
in der elektrischen Musik statt. War es da ein Wunder, dass sich die kreativsten Talente lieber mit einer E-Gitarre um den Hals oder mit dem Mikrofon in der Hand an die Hochspannung des gesellschaftlichen, technischen und kulturellen Aufbruchs anschlossen, statt einsam im Atelier oder in muffigen Schreibstuben über die Phänomene ihres Zeitalters zu grübeln?
Für Pete jedenfalls lieferte die brodelnde, quicklebendige Atmosphäre an der Kunstakademie ganz sicher das fehlende Element in seiner Entwicklung. Sein wacher, vielseitiger Intellekt erhielt jede Menge Nahrung, endlich schien er unter Gleichgesinnten angekommen, die seine Originalität schätzten, und seiner oft etwas überinspirierten, kuriosen Denkweise kam das experimentelle Ausbildungskonzept des neuen Rektors entgegen. Pete genoss es, sich für diese mannigfaltigen Einflüsse zu öffnen.
Und wieder einmal bahnte er sich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe durch Musik – ein Schema, das sich in Petes Leben und seinem musikalischen Werk wiederholt. In den Gemeinschaftsräumen der Kunstakademie spielte immer irgendwer Gitarre, und als Pete in einer Pause nach der Klampfe griff und seine mittlerweile recht beachtlichen Fähigkeiten demonstrierte, sprach sich das schnell herum. Ein amerikanischer Student namens Tom Wright näherte sich dem Neuling und bat Pete, ihm einige der abgefahrenen Licks zu zeigen, von denen man ihm berichtet hatte.
Pete erzählte Jahre später, Tom sei der erste Mensch gewesen, mit dem er an der Kunsthochschule gesprochen habe. Die beiden mussten nur über die Straße gehen, um in Toms kleiner Wohnung neue Gitarrengriffe einzustudieren. Was Pete dort im Gegenzug erhielt, sollte sich für ihn und seine Band bald als wahrer Schatz erweisen.
Tom war ein begeisterter Musikfan und besaß eine fantastische Plattensammlung, sowohl vom Umfang her wie von der Stilrichtung. Viele Titel und Interpreten von Jazz bis Blues und R&B waren in England seinerzeit kaum oder gar nicht erhältlich. Tom hatte viele Platten aus den USA mitgebracht und sich die neuesten nachsenden lassen, weswegen er als Trendsetter galt. Sein Apartment, das er mit Campbell McLester teilte, einem weiteren Auslandsstudenten aus Oklahoma, wurde zum Anlaufpunkt für alle an neuer Musik interessierten Kunststudenten. Chronist Richard „Barney“ Barnes, der oft zugegen war, wenn Pete seinem amerikanischen Freund in der Sunnyside Road Gitarrenstücke beibrachte oder dessen Schallplatten lauschte, listet die Zuckerstücke in Toms beeindruckender Sammlung auf:
„Alles von Jimmy Reed, alles von James Brown, Chuck Berry, Bo Diddley, John Lee Hooker, Mose Allison, Jimmy Smith, Muddy Waters, Howlin’ Wolf, Slim Harpo, Buddy Guy, Sonny Terry & Brownie McGhee, Joe Turner, Booker T, Little Richard, Jerry Lee Lewis, Carl Perkins, Fats Domino, The Coasters, Ray Charles, John Patton, The Drifters – eine komplette Werkschau der damals heiß diskutierten US-amerikanischen Bluesmusik und R&B-Szene. Ergänzend dazu hortete Tom zahlreiche Jazzalben progressiver Musiker wie Charlie Parker, John Coltrane, Miles Davies, Wes Montgomery oder Dave Brubeck und gut dreißig Klassikschallplatten.“
Diesen Schatz „erbten“ Pete und Barney, als ihr Freund Tom wegen Marihuanabesitzes angezeigt wurde und das Land verlassen musste. Er fragte die beiden, ob sie das verwaiste Apartment in der Sunnyside Road Nummer 35 beziehen und auf seine Sammlung aufpassen wollten – keine Frage, dass sie wollten. Pete musste dringend von zu Hause ausziehen. Die Beziehung zu seiner Mutter war trotz ihrer Unterstützung für die Detours nicht zuletzt deshalb nie frei von Spannung, weil sich Mutter und Sohn in ihrem Temperament sehr ähnelten. Hinzu kamen die um viele Jahre jüngeren Brüder Paul und Simon sowie Bettys Antiquitätenladen, womit ihre ganze Aufmerksamkeit eigentlich beansprucht war.
„Es war Zeit für ihn, selbstständig zu werden“, befand Betty, die Petes Faulenzerdasein und zunehmende Künstlerattitüde gar nicht guthieß, sondern einen ernsthaft an seiner Musikerkarriere arbeitenden Sohn sehen wollte.
Petes Vater hielt sich dagegen weitgehend aus allem heraus. „Er war immer sehr beschäftigt“, erzählt Pete, „sehr einfach, sehr liebevoll, sehr gradlinig und ungeheuer stolz, wenn ich mit irgendwas Erfolg hatte. Ich erinnere mich an den Tag, als er mir sein musikalisches Erbe übertrug. Er sagte: ‚Die Dinge haben sich verändert, Pete. Jetzt bist du an der Reihe.‘“
Laut Pete soll dieses Gespräch am gleichen Tag stattgefunden haben, an dem The Detours das Engagement im Douglas House antraten – und dort „die Band meines Vaters vom Spielplan verdrängten“. Nach den Recherchen von Christian Suchatzki war diese abgelöste Formation aber nicht Cliffs Squadronaires, sondern die Lesley Douglas Dance Band, in der sowohl Betty als auch Cliff mitwirkten.
Jedenfalls musste Cliff Townshend bald erkennen, dass sein Sohn in einer Hinsicht kein gleichgesinnter Nachfolger war: „Mein Vater hatte nichts gegen Rockmusik. Er mochte nur nicht, dass die Szene nach seiner Ansicht nicht besonders ehrbar war; er hasste die Drogen“, erzählt Pete. Diese Abneigung teilte Pete nicht. Durch Tom, den Musikfreak aus Alabama, war er auch auf Pot – Marihuana – gestoßen und konsumierte das weiche Rauschmittel im Kreis der Kommilitonen in der Sunnyside Road gern und reichlich.
„Es war weniger Pot selbst, was mich anzog, als das ganze Drumherum“, erzählt er später. „Da war das Neue um die Kunstakademie, hübsche Mädchen, das erste Mal in meinem Leben, die ganze Musik um mich herum … alles war sehr aufregend. Obwohl mir Pot wichtig war, war es doch längst nicht am wichtigsten: Es war nur wegen der Tatsache wichtig, dass all die unglaublichen Dinge um mich herum noch unglaublicher wurden.“
Keiner seiner Bandkollegen interessierte sich zunächst für Marihuana; Pot war allein Teil von Petes Erfahrungen als Kunststudent und Famulus der neuen Musik, die er, sich lümmelnd auf dem Bettsofa und nach allen Seiten hin offen, aufnahm. Pete, der abgehobene Musikhörer haschte gern; aber als Gitarrist der Detours, mit denen er fünf- bis sechsmal pro Woche im Einsatz war, konnte er sich larmoyantes Schweben und Träumen nicht erlauben. Sein Mitbewohner Richard Barnes erinnert sich:
„Die Arbeit mit der Band hatte immer Priorität, vor Freundinnen, vor Geburtstagen, vor Pokalendspielen im Fernsehen oder Hochzeiten von Freunden. Wenn Pete von einem Auftritt gegen Mitternacht zurückkam, war es nicht ungewöhnlich, dass die gleichen Freunde immer noch da saßen, Männchen kritzelten oder Platten hörten, und er machte dort weiter, wo er aufgehört hatte.“
Die Tatsache, dass Pete und The Detours praktisch jede Nacht unterwegs waren, sorgte ironischerweise dafür, dass sie von den revolutionären Entwicklungen in der englischen Musikszene zunächst nicht viel mitbekamen, sondern auf Berichte lebensfroher Nachtkundschafter wie Barnes angewiesen waren. Die aufstrebenden Londoner R&B-Bands wollten zu der aus Liverpool einsickernden Beatlemania einen rauen, hauptstädtischen Kontrapunkt setzen, wilde, laute, unkonventionelle Gruppen als Gegenbewegung zum allgemeinverträglichen Merseybeat. Zumeist waren diese Bands Ableger der stilprägenden Keimzelle um Alexis Korner wie The Rolling Stones, The Yardbirds oder Cyril Davies Allstars mit Long John Baldrey am Mikrofon. Diese Szeneattraktionen des Londoner Nachtlebens blieben für The Detours unbekannte Größen, bis Rogers Truppe sich ab 1963 in Bob Druces Tourzirkus durchsetzen und als Vorgruppe oder Pausenfüller für Hauptattraktionen wie Rolling Stones oder Kinks leibhaftig von der neuen Bewegung Kenntnis nehmen konnte.
Die Detours galten zwar schon kurz nach ihrer Verpflichtung als die beste und begabteste der West-Londoner Hausbands, vor den Bel-Airs, den Riversides, den Corvettes oder den Beachcombers; doch an das Format der neuen Wilden aus der Schule von Blues Incorporated im Ealing Club, die längst auch die führende Musikkneipe, den einstmals streng jazzorientierten Marquee Club, erobert hatten, reichten sie nicht heran.
Bis Anfang 1963 waren The Detours kaum mehr als eine sehr flüssig und kraftvoll aufspielende Tanzkapelle, ohne Bühnenshow und ohne eigenes Repertoire. Sie boten ein fast beliebig zu nennendes Programm aus Jazz, Pop, Blues und Rock’n’Roll und hoben sich auch äußerlich kaum von anderen Combos der Gegend ab. Druce hatte als erstes ihren unordentlichen Aufzug bemängelt und ein smartes Äußeres zur Voraussetzung für ihre Verpflichtung gemacht, worauf Pete modische kastanienbraune Bühnenanzüge entwarf, die Roger nur unter Druck anzog – er war schließlich nicht von der Schule geflogen, um als Konformist auf der Bühne zu stehen. Mit weißen Hemden, schmalen Krawatten und gewienerten Halbschuhen passten sich die Detours sehr deutlich an das zeitgemäße Beatles-Image an. Ihr ganzer Auftritt