The Who - Maximum Rock I. Christoph Geisselhart

The Who - Maximum Rock I - Christoph Geisselhart


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soweit gebracht, dass er dafür einen Aushilfsjob beim örtlichen Gemüsehändler annahm. Freilich ohne große Ausdauer. Bald belieferte er für eine Metzgerei die Nachbarschaft; unter anderem soll eine staksige Blondine namens Lesley Hornby, die als Popmodel Twiggy Furore machte, zu seinen Kundinnen gezählt haben. Die banale Wahrheit lautet allerdings eher, dass er sie möglicherweise einmal kurz erblickte, als er ihrem ehemaligen Schwager, der in Keiths Einzugsgebiet lebte, die bestellte Wurst ­aushändigte.

      Angesichts von so wenig unterhaltsamen Gegebenheiten vor Ort zog es Keith immer öfter nach London Town. Das Stadtzentrum mit seinen unzähligen Möglichkeiten, sich zu verlieren, dem Konsum und Müßiggang zu frönen, Träume von Ruhm und Reichtum zu schüren und vage Hoffnungen auf Abenteuer erblühen zu lassen, war mit der U-Bahn schnell erreichbar und für einen verzogenen Wohlstandsjüngling wie Keith der perfekte Nährboden.

      Bald stromerte er jeden Tag durch die pulsierenden Gassen von Soho, wo Musik und Kunst und Mode allgegenwärtig waren und wo man die verrücktesten­ Typen traf; dann weiter über die Old Compton Street, wo man schon viele Stars entdeckt hatte. Oder er marschierte zur Denmark Street, dem Zentrum der Musikindustrie, und hoffte, einen neuen Pophelden oder wenigstens ein Starlet zu sehen. Früher oder später landete er jedoch immer im West End, wo seine Träume handfeste Formen angenommen hatten – und zwar in den Musikgeschäften der Shaftes­bury Avenue.

      Den für ihn wichtigsten Shop, Paramount Music, betrat Keith schon recht selbstbewusst. Wie immer in einen engen braunen italienischen Anzug mit schmalen­ Aufschlägen gekleidet, steuerte er schnurstracks durch die Schlagzeugabteilung auf einen etwa gleichaltrigen jungen Mann zu, der allerdings weitaus reifer­ und gepflegter wirkte.

      Der Junge hieß Gerry Evans und war zufällig im Nachbarviertel Kingsbury aufgewachsen. Keith hatte ihn im Frühjahr 1961 im Paramount Music Shop kennen­gelernt, wo Gerry arbeitete, für vier Pfund zehn Schilling die Woche. Gerry hatte bereits ein Schlagzeug und bediente die besten Jazz- und Popschlagzeuger Englands. Er war ein Drum Maniac, und Keith war begeistert, dass er endlich einen Menschen gefunden hatte, der genauso fühlte wie er. Die beiden verbrachten­ in den nächsten anderthalb Jahren fast jeden Tag zusammen. Keith, der Flaneur und Gammler, und Gerry, der fleißige, strebsame Schlagzeugverkäufer fach­simpelten über ihre enthusiastisch geteilte Liebe, das Schlagzeug. „Wir haben uns nicht ein einziges Mal gestritten in achtzehn Monaten. Irgendwie kam es mir vor, als wäre ich der Bruder gewesen, den er nie hatte“, erklärte­ Gerry später. Auch ihm fiel auf, dass Keith keine anderen engen Freunde besaß, stattdessen aber mit jedem Bewohner Wembleys zwischen vierzehn und fünfundzwanzig Jahren leutselig Schwätzchen hielt: „Alle mochten ihn, weil er witzig­ war. Auch die harten Burschen.“

      Die traf man beim abendlichen Streifzug durch die Vorstädte Londons, und während Gerry instinktiv in Deckung ging, um drohenden Schlägereien auszuweichen, marschierte der kleine Bursche an seiner Seite geradewegs auf die herumlungernden Gangs zu und begrüßte jeden mit großem Helau. Gerry beeindruckte­ das nicht wenig. Wie überlegen musste Keith erst hinterm Schlagzeug auftrum­pfen, wenn er dieses weitaus gefährlichere Spiel so routiniert beherrschte?

      Gerry lud seinen neuen Freund bald nach Hause ein, um auf seinem Drumkit ein paar Takte zu spielen. Der Schock war immens: „Er hatte keine Ahnung, was er damit anfangen sollte. Er drosch bloß auf alles ein, was in Sichtweite war, und fabrizierte einen Riesenlärm. Für mich war das a) genau das, was man nicht tut, und b) klang es nach Müll. Es war, als hätte ich mit einem Bekloppten zu tun … Keine Chance, dass dieser Typ jemals ein professioneller Drummer werden könnte … Er war der schlechteste Schlagzeuger, den ich im ganzen Leben gesehen habe.“

      Keith selbst gestand später in der im eigenen entwaffnenden Offenheit ein: „Ich sagte den Leuten immer, dass ich ein Schlagzeuger sei, noch bevor ich ein Schlagzeug hatte – ich war ein Psychodrummer.“ Gerry hingegen war ein realer Drummer, und er riet dem Bruder im Geiste dringend, sich baldmöglichst eine eigene Schlagzeugausrüstung zu kaufen und zu üben, zu üben, zu üben …

      Keith schien diesem Vorschlag nicht abgeneigt; in der praktischen Umsetzung jedoch hakte es merklich. Anstatt sich ernsthaft einen Job zu suchen, mit dessen Verdienst er das erträumte Instrument auf kurz oder lang hätte erstehen können, nahm der Mentalmusiker Moon seine Flanierstunden im Londoner West End wieder auf und fantasierte weiter, was er lediglich mit weiteren Versuchsläufen zum bestmöglichen Practical Joke unterbrach.

      Zwei besonders gesegnete Varianten aus dieser Zeit sind dank Gerry Evans eindrücklich überliefert: „An der U-Bahnstation Baker Street gab es eine lächerliche Rolltreppe mit roten Lämpchen am Armlauf. An diesem speziellen Tag tauchten­ wir dort während der Hauptverkehrszeit auf, und als wir oben standen, leerte­ Keith seine Tüte mit Kaffeebohnen über der Rolltreppe aus.“ Bald pfiffen hunderte­ von Kaffeebohnen durch die Luft, und die Leute auf dem Weg nach oben stolperten schimpfend übereinander.

      Ein andermal wurde Keith auf der Rückfahrt vom Piccadilly Circus, wo sie ihre Lieblings-Sandwichbar hatten, in der völlig überfüllten U-Bahn unvermittelt schlecht, „sehr schlecht“, wie er dauernd betonte, während er in der stickigen Luft immer bleicher wurde. Die gut gekleideten Geschäftsleute in seiner Nähe rückten besorgt auseinander. Keith starrte sie direkt an: „Ich glaube, ich bin krank.“

      Er wurstelte eine braune Papiertüte hervor und erzeugte damit die erbärmlichsten Geräusche, die je in einer U-Bahn vernommen wurden. Die Passagiere blickten betreten zur Seite, und selbst Gerry fragte sich besorgt, ob dem Freund wirklich übel geworden war. Schließlich tauchte Keith mit feuchten Lippen aus seiner Papiertüte wieder auf, einen tiefen Rülpser hervorpressend, und hielt die offenbar zum Platzen gefüllte Tüte weit von sich, mitten hinein in die zurückweichende Menge der Mitreisenden, so dass eine komfortable Raumsituation um die beiden heimfahrenden jungen Männer entstand, die sich durch gelegentliches Aufstoßen oder schwankende Armbewegungen mit der bedrohlichen Tüte jederzeit noch verbessern ließ.

      Dieser Auftritt wirkte so erfolgreich, dass Keith ihn gern wiederholte, wenn es ihm in der U-Bahn zu eng wurde. Auf dem Bahnsteig zauberte er dann oft einen Schokoriegel aus seinem braunen Anzug, den er vor ihrem Besuch in der Sandwichbar noch nicht besessen hatte.

      „Hast du den etwa mitgehen lassen?“ fragte Gerry entgeistert.

      „Keine Sorge“, meinte ein vergnügter Keith, „für dich hab ich auch einen ­mitgenommen.“

      Diese kleinen Aufmerksamkeiten häuften sich zeitweise, so dass Gerry sich bald schämte, mit einem Taschendieb befreundet zu sein. Bei seinen Besuchen im Hause Moon lernte er Keiths Eltern kennen: „Sie waren so furchtsam und still, dass er wahrscheinlich als Reaktion darauf extrem anders wurde.“

      Gerry bemerkte noch eine weitere Besonderheit: Das Wohnzimmer in der Chaplin Road 134 war durch einen dicken, schweren Vorhang in der Mitte getrennt. Auf der einen Seite wurde nur gegessen, auf der anderen Seite befand sich der tatsächliche Wohnraum. Keith benutzte diesen merkwürdigen Behang wie einen Theatervorhang, indem er seinen Kopf hindurch streckte und Grimassen schnitt: „Allen erschien das ganz normal.“

      Gerry, der praktisch veranlagte Drummer, trat bald in eine Band ein, die sich Lee Stuart & The Escorts nannte und jeden Sonntag im Hinterzimmer des Prince Of Wales, eines Pubs in Kingsbury, probte. Lee Stuart war das Pseudonym für den Sänger Tony Marsh, dem Keith Moon später mit The Who wieder begegnete,­ als er einer der vielen Tastenspieler war, die Lord Sutch im Lauf der sechziger Jahre verschliss. Bei den Escorts machten neben Marsh und Drummer Gerry Evans noch die beiden Gitarristen Rob Lemon und Roger Painter sowie Bassist Colin Haines mit. Alle waren in der gleichen Straße, Brook ­Crescent in Mill Hill, aufgewachsen.

      Keith durfte manchmal mit den älteren Jungs jammen, wenn er Gerry half, das Schlagzeug zu transportieren und dort aufzubauen. Großes Talent versprühte er dabei laut Augenzeugenberichten nicht – wie sollte er auch, besaß er doch kein Schlagzeug, auf dem er üben konnte. Insofern ließ sein Taktgefühl sehr zu wünschen übrig, und er schien die Hälfte der Zeit wie ein Phantombild seines Idols Krupa über Trommeln zu wirbeln, die gar nicht vorhanden waren. Trotzdem waren die anderen von Keiths Enthusiasmus, Charme und Witz begeistert.

      Im Herbst 1961 unternahm Keith den letzten Versuch, einen


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