The Who - Maximum Rock I. Christoph Geisselhart

The Who - Maximum Rock I - Christoph Geisselhart


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konnte; auf dem Klassenfoto mimte er seinen Lieblingshelden Long John Silver, der als wild grimassierender Pirat durch die Fernsehserie Treasure Island hampelte; im Unterricht zappelte er ständig herum, lachte, blödelte, furzte … zur Freude­ seiner Mitschüler, zum Ärger seiner Lehrer.

      Namensvetter Keith Cleverdon, der um die Ecke wohnte und unter der Namensgleichheit immer dann zu leiden hatte, wenn ein Missetäter namens Keith gesucht wurde, erinnert sich sehr genau, dass sein aufgedrehter Mitschüler ständig­ Probleme hatte. Aber: „Es war ihm egal. Er dachte, es schert eh ­keinen,­ ob ich was lerne.“

      Mutter Kit, obschon in heimlicher Sorge, dass ihr Sohn in der Schule anecken musste, nachdem er sich zuhause oft unbeherrscht und sprunghaft verhielt, wollte­ von Problemen nichts wissen. In ihrer Vorstellung blieb Keith der fröhliche Wonne­proppen, den alle liebten, auch wenn er den kleinen Fehler hatte, immer im Mittel­punkt stehen zu wollen. Die ganze Familie Moon schloss sich dieser Beurteilung an. Linda, die nach Keith in die gleiche Grundschule ging, glaubte, dass alle Lehrer­ ihren Bruder liebten, „weil er so ein liebenswertes Kind war“.

      Doch die Stunde der Wahrheit rückte näher. Keith war erst zehn, als im Frühjahr 1957 das Examen der Elfjährigen anstand. Unglücklicherweise waren die Schülerzahlen in seinem Jahrgang auch noch besonders hoch, so dass strenger gesiebt wurde und Grenzfälle eher negativ bewertet wurden als in den geburtenschwachen Jahren zuvor. Zusammen mit seiner Unreife und der Konzentrationsschwäche, die man heute bei Schulkindern als ADHS-Syndrom (Aufmerksamkeitsdefizit-Störung) erkennt und frühzeitig zu behandeln versucht, war das Unheil vorhersehbar: Keith rasselte durch die Prüfung und verpasste damit unwiederbringlich den Anschluss ans höhere Bildungssystem. Reaktionen seitens der Familie­ sind nicht bekannt. Mutter Moon billigte anscheinend die Herabstufung ihres zweifellos intelligenten, aber schwer zu führenden Sohns, indem sie darüber­ hinwegsah – ein Muster, das über Keiths Tod hinaus durchgehalten wurde. In Interviews nach der Tragödie verwiesen die Moons stets auf die nüchterne, bodenständige Atmosphäre in ihrem Haus, die keine Anhaltspunkte bieten sollte für Speku­lationen. „Er hatte ein bisschen was von einem Einzelgänger“ gab Kitty Moon zwar zu, „und er langweilte sich schnell.“ Aber echte Schwierigkeiten ihres verwöhnten Söhnchens wollte sie nicht bemerkt haben.

      Paul Bailey, der heute als Musikmanager eine Veranstaltungsagentur betreibt und in der Nachbarschaft der Moons aufwuchs, behauptet dagegen, dass Keith schon als Junge in der Klinik von St. Bernard’s, bei Southall, behandelt wurde, nachdem er seine Mutter mit den Fäusten traktiert haben soll. Auf Empfehlung der dortigen Ärzte soll Moon gar erst mit dem Schlagzeugspielen begonnen haben.

      Diese Darstellung darf tatsächlich nur als Fama gelesen werden, bis glaubwürdige Dokumente das Gegenteil beweisen. Zudem wäre eine solche psychische Stigmatisierung ganz im Sinn des gewieften Exzentrikers und Medienprofis „Moon the loon“ gewesen, der später nichts ausließ, was ihm die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sicherte. Sicher ist jedoch, dass in der ganzen Familie wenig Neigung zu entdecken ist, das immer erkennbarer werdende Problemverhalten des Stammhalters wahrzunehmen und offensiv anzugehen. Es wurde versäumt, dem labilen Jungen Grenzen zu setzen, und für Keiths auffällige Hyperaktivität und Lernschwäche wären stärkere Eltern vermutlich hilfreich gewesen.

      Nach seiner verpatzten Prüfung musste Keith an die Alperton Secondary Modern School, eine tatsächlich nur als sekundär zu betrachtende Bildungseinrichtung südlich von Wembley an der Ealing Road. Die Schule war erst kürzlich erweitert und nach Geschlechtern getrennt worden. Fantasievolle, unbändig rastlose und verhaltensauffällige Kinder wie Keith dürften in einem so antiquierten System wenig positive Anregung empfangen haben.

      Unter den Lehrern der Alperton Secondary School – das „Modern“ wurde bald wieder gestrichen – kursierten bald die tollsten Episoden über ihr neuestes Mündel. Keith wurde von seinen Lehrern inoffiziell „Sputnik“ getauft, nach jenem russischen Satelliten, der zeitgleich mit dem Schulstart ins All katapultiert worden war und im luftleeren Raum um sich selbst und die Erde kreiselte, unablässig ­sendend, funkend, unsichtbare Wellen ausstrahlend: im Grund ein recht zutreffen­des Bild von dem heranwachsenden Moon.

      Im selben Jahr war auch Keiths zweite Schwester Lesley geboren worden. Ein zwölf Jahre jüngeres Mädchen im Haus dürfte selbst für Keith eine unschlagbare Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Eltern gewesen sein. Sicher bezog er daraus weitere Unsicherheit und noch mehr Drang, sich auffällig zu verhalten.

      Immer noch verbrachte er einen Großteil seiner Freizeit vor dem Radio – und war dabei unweigerlich auf The Goon Show gestoßen, Britanniens erste Nachkriegsblödelsendung, die später die Monty Pythons zu ihrem anarchischen Comedykonzept inspirierte und sich auch in der abstrusen Komik der Beatles-Filme wieder­findet. Allwöchentlich sonntags sendeten die Goons – Peter Sellers, Harry Secombe und Spike Milligan, jeweils mit mehreren Sprechrollen betraut – ihren haarsträubenden Nonsense ans Radiovolk. Wenn Keith gewusst hätte, dass Milligan, der Begründer und Hauptautor der Goon Show, manisch depressiv war und sein ganzes­ Leben an dieser Krankheit litt, wäre er vielleicht vorsichtiger gewesen, ausgerechnet diesen Mann zu seinem Vorbild zu erklären. So aber lauschte er andächtig und nahm die aberwitzige, vielstimmige Exzentrik begierig in sich auf, um sie dann am Montag in halböffentlicher Runde auf dem Schulhof als perfekter Imitator wieder­ auszuspucken.

      „Er konnte nicht bloß alle Stimmer nachahmen, sondern erinnerte sich auch genau an das Drehbuch der ganzen Show“, berichtete Bob Cottam, ein Mit­schüler, bei dem die Saat des Wembleystadions übrigens aufging, er wurde ein bekannter Kricketspieler. Zwei Jahre älter als Keith gehörte er zu einer Gruppe größerer Jungs, die den vorlauten Steppke wegen seiner Clownereien schätzten und vor Angriffen beschützten.

      Denn „Sputnik“ Moon blieb auch in der Alperton School ein kurzgewachsener Teenager, der unter normalen Umständen allerhand Demütigungen körperlich überlegener Mitschüler hätte erdulden müssen. Allein sein Status als Witzbold, der bei allem Unfug bereitwillig mitmachte, bewahrte ihn vor der Unterdrückung.

      Dabei schoss er gern übers Ziel hinaus, übertrieb sowohl in der Intensität wie auch in der Wahl seiner Mittel, je älter und selbstbewusster er wurde. Er kleidete­ sich auffällig, begann zu rauchen, legte sich ein rowdyhaftes Image zu und ging auf offene Konfrontation zu seinen Lehren, die angeblich darin gipfelte, dass er seinen Geografielehrer in den Schrank einschloss. „Man hatte bei ihm nie das Gefühl, dass er eines Tages berühmt werden könnte, eher dass er einmal im Gefängnis endete“, meint Namensvetter Keith Cleverdon rückblickend und bezog sich dabei vermutlich auf jene Episode, die erstmals die Polizei vor der Chaplin Road 134 auf den Plan rief. Keith hatte mit einem Freund die Handbremsen einiger parkende Autos gelöst, die daraufhin von ihren Stellplätzen auf die Straße­ rollten. Kein Wunder, dass bei so viel Spaßbedürfnis und Buhlen um die Anerkennung von Kameraden, die selbst nicht zu den Gewinnern des englischen Schulsystems zählten, die Noten von Lehrern für Keith wenig erfreulich ausfielen.

      Dank der im Begleitheft des Who-Box-Sets Thirty Years Of Maximum R&B veröffentlichten Schulzeugnisse und dank Tony Fletchers Recherchen in seiner Moon-Biografie The Life of Keith Moon (1998) kennen wir auch die Sichtweise der Pädagogen. Basil Parkinson, Keiths Klassenlehrer im zweiten Jahr an der Secondary School, erinnerte sich noch nach vierzig Jahren problemlos an seinen ehemaligen Schüler: „Ich kann das Bürschlein noch genau vor mir sehen. Kleiner als die andern, hatte er gleichwohl das Talent, sich immer bemerkbar zu machen.“

      Nicht alle Lehrer urteilten so gnädig über Keith wie Basil Parkinson, der in seinem Fach Mathematik 1959 immerhin „sehr langsame Fortschritte“ bei Keith feststellen konnte. Der Musiklehrer traf den Punkt recht genau, indem er zwar eine „große Begabung“ feststellte, aber zugleich unverblümt warnte, sein Schüler müsse die unübersehbare Neigung, sich aufzuspielen, in den Griff bekommen.

      Am härtesten schlug Kunstlehrer Harry Reed zu. Moon sei „künstlerisch zurückgeblieben, in gewisser Hinsicht idiotisch“. Diese knallharte Note, auf einem offiziellen Schulbogen abgegeben, wirft ein trauriges, kaltes Licht auch auf den beurteilenden Pädagogen. Wie bei Roger Daltrey, der ebenso wenig ins Raster eines normalen Schülers im Nachkriegsengland passte, versagten in Moons Beispiel die Schule als Institution und mancher Lehrer in seiner erzieherischen Sorgfalt. Niemand


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