The Who - Maximum Rock I. Christoph Geisselhart
Godfrey Townsend, der Mann, der sich trotz fehlendem „h“ im Nachnamen von 1994 bis 2002 mit John Entwistle auf der Bühne feurige Gitarrenduelle lieferte, verdient ebenfalls allergrößten Dank. Seine engagierte Unterstützung über viele Monate hinweg war ungeheuer wertvoll für dieses Buch. Unter den vielen Musikern, Anhängern und Geschäftspartnern der Gruppe, die mir mit wichtigen Auskünften zu Diensten standen, möchte ich vor allem auch Simon Phillips erwähnen, den Who-Schlagzeuger zwischen 1989 und 2000; ferner Shel Talmy, den Produzenten der frühen Who-Platten; Klaus Voormann, der Keith Moon in seiner irrwitzigsten Phase erlebt hat und davon immerhin genug Bruchstücke in Erinnerung behielt, um mir einen nächtlichen Liebesbrief zum verrücktesten Trommler der Welt zu entlocken; sowie Dave Snowdon und Lawrence Ball, die mir zu guter Letzt noch das Mysterium jener Software erklärten, mit der Pete eines Tages seinen Traum von einem Konzert verwirklichen will, das aus der individualisierten Musik seiner Zuhörer eine universale Sinfonie erzeugt (siehe Band 2 dieser Biografie). Oliver Baumann, Bassist der deutschen Coverband Whoareyou, der alles über Johns instrumentale Geheimnisse weiß, und Stefan Jahnke, Manager von Sweety Glitter & The Sweethearts, haben von deutscher Seite aus versucht, wichtige Fragen für mich zu klären.
Es bleibt spannend, The Who zu verfolgen, und ich bin mir sicher, dass das letzte Kapitel in der Geschichte der größten Rockband aller Zeiten noch nicht geschrieben ist. Ein kluger Mensch hat einmal gewarnt, wir Sterbliche sollten den Göttern besser nicht zu nahe kommen. Da scheint mir viel Wahres dran zu sein, wenn ich die vergangenen vierundzwanzig Monate an mir vorüberziehen lasse. Trotzdem hoffe ich, dass es mir gelungen ist, dem Leser jene vier Unsterblichen so nahe wie möglich gebracht zu haben, die einst in den grauen Vierteln von Nordwest-London geboren wurden und heute wie für alle Zeiten aus dem Olymp der Rockgötter grüßen: Long live Rock!
Christoph Geisselhart, 17. Oktober 2008
Teil 1: Overture (1944 bis 1964)
„Warum sind wir vier zusammengekommen und haben diesen ganzen Krach gemacht?“
Roger Daltrey
„Der Anfang war der aufregendste Abschnitt unserer Karriere“, schrieb Pete Townshend 1997 im Buch The Who Concert File von Joe McMichael und „Irish“ Jack Lyons, ohne den Zauber zu erklären, den eben jene sagenumwobenen Gründerjahre auf einen Rockmusikfan ausüben, der sie nicht selbst erleben durfte.
Der Autor dieser Biografie wurde 1963 geboren, als Roger Daltrey, John Entwistle und Pete Townshend unter dem Namen The Detours bereits auf ihrer Ochsentour durch die Klubs und Tanzsäle von West-London waren und ein faunenhafter Jüngling namens Keith Moon mit einer abgeblichen Surfsoundcombo namens The Beachcombers durch die Kneipen entlang des Themse-Ufers tingelte…
Und schon sind wir mitten im Mythos.
Doch wie war es wirklich? Oder um mit Roger Daltrey zu fragen: Wie konnte es geschehen, dass vier so unterschiedliche junge Männer aus West-London, die außer ihrer Musik scheinbar nichts verband, die sich zeitweise sogar hassten, prügelten, bekriegten – dass diese vier Männer zu Weltruhm gelangten und fast ein halbes Jahrhundert lang Musikgeschichte schrieben?
Um den Zauber und das Wunder ihrer Zusammenkunft zu erklären, muss man weit zurück blicken.
Die Geschichte der trommelfellbetäubenden und für ihre exzessive Bühnenshow berüchtigten Rockband The Who beginnt im Kriegsjahr 1944, als Europa unter Bomben und Granaten erzitterte und die Schreie der Todgeweihten und Verwundeten in Rauch und Gas erstickten.
An seinem zweiundsechzigsten Geburtstag erklärte der im Krieg geborene Roger Daltrey, es sei wohl fraglich, ob die erstaunlich lange Phase des Friedens in Europa ohne Rock’n’Roll so ruhig verlaufen wäre, weil „der Rock’n’Roll diese ganze finstere Energie beanspruchte. Es sah vermutlich so aus, als würden wir die Kids anheizen; aber in Wirklichkeit haben wir eher einen Weltkrieg verhindert.“
Betrachtet man den Anfang der existenziellen Gratwanderung, die Roger Daltrey, John Entwistle, Keith Moon und Pete Townshend zu Ikonen der Rockmusik werden ließ, erscheint ihr gewaltiges Lärmen, Grollen, Zürnen, Toben wie ein donnerndes, episches Echo auf das Zeitgeschehen.
Die qualmenden, quietschenden, heulenden Verstärkerwände am Ende eines Who-Konzerts in den sechziger und siebziger Jahren erzeugten etwa den akustischen Eindruck eines Fliegerangriffs; die enthemmten Aktionen der Figuren auf der Bühne, die geisterhaft und wie fremdgesteuert zwischen Rauch und durch irrlichternde Lichtkegel über die Trümmer ihrer ehemals glorreichen Instrumente stolperten, erinnerten an die letzten Zuckungen auf einem Schlachtfeld. Jawohl, ein künstliches, in Musik getränktes, mit Ton und Note gemaltes Schlachtfeld war es, das diese vier britischen Jünglinge anrichteten, brutal, faszinierend, spektakulär, kraftvoll, respektlos. Und immer etwas lauter als alle anderen.
Ihre Schicksalsgemeinschaft begann im Krieg; und es blieb über viele Jahre ein Krieg, den The Who nach innen genauso vehement ausfochten, wie sie ihn mit harter Musik und unberechenbarer Bühnenpräsenz nach außen trugen. Die Generation der Väter hatte alles daran gesetzt, jede Beteiligung am wirklichen Krieg zu verdrängen. Ein Ersatzkrieg, ein künstliches Inferno musste her, um einer wirklichen Aufarbeitung und Heilung den Weg zu bahnen.
Keine Band der Welt hat diesen Aspekt der Rockmusik ernsthafter, erregender und unterhaltsamer aufgegriffen und in ihrem Werk verarbeitet als The Who.
Aus diesem Grund soll der Anfang ihrer Karriere auch besonderen Raum erhalten und wirklich am Anfang beginnen: im bis heute furchtbarsten Krieg der Menschheitsgeschichte, und zwar mit einer ganz und gar unglaubwürdigen Geburt, die es nach medizinischem Wissen nie hätte geben dürfen – mit einem Mythos also, wie es sich für eine Biografie über die verrückteste Rockband der Welt gehört.
1.: Geboren unter Blitz und Donner: Der erste Auftritt des Überlebenskünstlers Roger Daltrey
„Alle Häuser brannten.“
Rogers Mutter Irene Daltrey
Harry und Irene Daltrey dachten nicht daran, Shepherd’s Bush zu verlassen, nachdem sie geheiratet hatten. Das war erstaunlich; denn „The Bush“ war alles andere als ein paradiesischer Ort. Die übrigen Bewohner dieses typisch englischen Arbeiterviertels im Westen von London unterließen kaum eine Anstrengung, um anderswo ein besseres Leben führen zu können.
Nicht so Harry und Irene. Die bodenständigen Daltreys, beide gerade Anfang zwanzig, mieteten ein Häuschen in der Percy Road Nummer 15 und waren mit ihrem Dasein zufrieden. Harry arbeitete seit seinem vierzehnten Lebensjahr in der örtlichen Sanitärfabrik Armitage Shanks, wo unter anderem die damals aufkommenden Wasserklosetts hergestellt wurden. Seine Stellung erschien ihm nach zehn Jahren ausreichend sicher, um mit Irene an die Gründung einer eigenen Familie zu denken.
Was sich um diese Zeit, 1936, auf der anderen Seite des Ärmelkanals an politischen Umwälzungen ankündigte, beschäftigte ihn weit weniger als die Vorkommnisse, mit denen seine dreiundzwanzigjährige Frau bald zu kämpfen hatte. Denn neun Monate nach der Hochzeit wurde Irene – nein, nicht schwanger, wie man es erhofft und erwartet hatte, sondern sehr, sehr krank. Eine Niere musste in größter Eile entfernt werden. Noch schlimmer aber war: Die Ärzte erklärten der zu Tode Betrübten, dass sie in Folge dessen niemals Kinder bekommen werde. „Das brach mir fast das Herz“, erzählte Irene später; „ich hatte vier Schwestern, und alle konnten Kinder kriegen, nur ich nicht.“
Und es sollte für die Daltreys noch tragischer kommen. Irene erkrankte nach dem Eingriff an Polyneuritis, einer Form von Polio mit akuter Lähmung der Muskulatur und Störung des Nervensystems. Ein langes Jahr lag sie hilflos in der „Eisernen Lunge“, einem damals entwickelten Holzkasten, mit dem Patienten maschinell beatmet wurden; ohne jedes Gefühl im Körper starrte sie an die Krankenhausdecke. Nach ihrer Entlassung aus dem Hospital war sie weitere fünf Jahre, 1937 bis 1942, an den Rollstuhl gefesselt.
Doch die kleine, hübsche Frau war eine Kämpfernatur. Selbst als ihr Mann gleich nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zur Armee eingezogen wurde und sie nicht mehr pflegen konnte, blieb sie zuversichtlich – und hartnäckig. Ihr größter Wunsch war ein Baby,