Im Gespräch mit Morrissey. Len Brown

Im Gespräch mit Morrissey - Len  Brown


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und der New Yorker New Wave-Szene, die um den Club CBGB entstand und der Künstler wie die Ramones, Blondie und insbesondere Patti Smith angehörten.

      Wie die New York Dolls kann auch die Rolle von Patti Smith in Morrisseys künstlerischer Entwicklung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ihr außergewöhnliches Album Horses war einer der wichtigsten gemeinsamen Nenner mit Johnny Marr. Die gemeinsame Verehrung ihrer Arbeit führte schließlich zur Wahl des Bandnamens The Smiths. Songs wie „Piss Factory“ und „Radio Ethiopia“ hinterließen gewaltigen Eindruck bei Morrissey, und ihre enge Verbindung zu Leuten wie Allen Ginsberg und Robert Mapplethorpe machte sie zu einer schillernden Gestalt der New Yorker Szene.

      „Ich reiste nach Birmingham, um sie zu sehen – eine absolut faszinierende Frau“, erinnerte sich Morrissey 2003. „In der Drogerie Boots in Macclesfield kaufte ich ihr Album Horses, es war eine Importplatte. Da muss wohl ein ziemlich seltsamer Typ in der Einkaufsabteilung gesessen haben. Tagelang hörte ich mir das Album immer wieder an – ich war gerade sechzehn Jahre alt und vollkommen hin und weg davon.“

      Morrissey coverte später Pattis „Redondo Beach“ und trat ein weiteres Mal in Smiths Fußstapfen, als er Leben und Arbeit von Pier Paolo Pasolini Tribut zollte. Mapplethorpe fotografierte Patti Smith einmal vor einem Bildnis Pasolinis, auf das jemand geschrieben hatte „Pasolini est vie (Pasolini ist Leben)“. In „You Have Killed Me“ erwies Morrissey mit dem Satz „Pasolini is me (Pasolini bin ich)“ dem ermordeten Regisseur des Films Accatone die Ehre. Auf seiner Tournee zu „Ringleader Of The Tormentors“ im Jahre 2006 verwendete er ein fast wie ein Heiligenbild anmutendes Foto von Pasolini als Bühnenhintergrund.

      Patti Smith gehörte noch einem anderen Dunstkreis an, der Morrissey faszinierte: Andy Warhols Factory, welche die Kunstszene New Yorks in den Sechzigern und Siebzigern beherrschte. Interessanterweise hieß einer der engsten Mitarbeiter Warhols ebenfalls Morrissey – Paul. Im Hinblick auf Morrisseys 1993 veröffentlichtes Soloalbum Beethoven Was Deaf bleibt an dieser Stelle noch anzumerken, dass Paul Morrissey bei einem Film mit dem Titel Beethoven’s Nephew Regie führte, in welchem der taube Komponist als unsympathischer Onkel dargestellt wurde. In einem anderen Film von Paul Morrissey, Women In Revolt, trat die transsexualle Candy Darling auf (Cover-Star der Smiths-Single „Sheila Take A Bow“).

      Die brodelnde Musikszene New Yorks, die der britischen Punkbewegung fast zwei Jahre voraus war, hatte auch Malcolm McLaren, den künftigen Manager der Sex Pistols, angezogen, der von dort viele Eindrücke mit nach London nahm. Besonders beeindruckt hatte ihn Richard Hell von Television, der erste „Punk“, der seine Überzeugung mit stacheligem Irokesenschnitt, zerrissenem T-Shirt und leerem Gesichtsausdruck nach außen trug. McLaren versuchte, ihn dazu zu überreden, nach London umzuziehen. Als ihm dies nicht gelang, drückte er den Pistols 1975 denselben Look auf. Unter den mutigen Besuchern des Sex-Pistols-Konzerts in der Lesser Free Trade Hall in Manchester am 4. Juni 1976 war auch Morrissey. (Später traten dort auch die Smiths auf – am 13. März 1984, gemeinsam mit Sandie Shaw, und am 30. Oktober 1986.)

      „Es war ein fantastischer Abend. Niemand bewegte sich. Die Leute saßen starr vor Ehrfurcht da. Diese ersten Auftritte der Sex Pistols und der Buzzcocks in Manchester waren wirklich … Ich hasse das Wort ‚magisch‘, aber ich muss es hier wohl verwenden, denke ich … Ich glaube, ich habe praktisch alle wegweisenden Konzerte in der Entwicklung der Bewegung besucht, besonders die im Norden.“

      Abgesehen von der enormen Wirkung der Sex Pistols beeindruckten Morrissey auch die Ramones und insbesondere die Buzzcocks, da diese „die Einzigen waren, die sich vorher hinsetzten und sich überlegten, was sie spielen wollten“. Insgesamt betrachtete er den Punk zwischen 1976 und 1977 als „musikalische Bewegung ohne Musik“, als „nette Abwechslung, verdammt kurz und sehr nützlich“.

      Die Punk-Bewegung schien ihm das Selbstvertrauen gegeben oder zumindest die Hoffnung genährt zu haben, dass auch ihm eines Tages der Schritt aus dem Publikum auf die Bühne gelingen könnte. Trotzdem sollte es noch weitere sechs Jahre dauern, bevor er einen musikalischen Seelenverwandten traf. Nach der Scheidung seiner Eltern ging Morrissey von zu Hause fort und miete ein Zimmer in Whalley Range (siehe „Still Ill“), das er mit der Künstlerin und Ludus-Sängerin Linder Sterling teilte. Ohne weiter über die Natur ihrer Beziehung zu spekulieren, schrieb Nick Kent später in The Face, Sterling habe „auf den jungen Ästheten einen gewaltigen Einfluss gehabt“. Kent vermutete sogar, sie habe Morrissey zu zweien seiner ersten Texte angeregt, „Wonderful Woman“ und „Jeane“, konnte dies aber nicht weiter belegen.

      Linder Sterling wurde zu einem wichtigen Einfluss in Morrisseys künstlerischer Entwicklung; 25 Jahre später, als er für seinen Sampler Under The Influence das Stück „Breaking The Rules“ von Ludus auswählte, bescheinigte er Linder „sehr direkte sexuelle Aussagen … Ich finde diesen Text bemerkenswert, weil er andeutet, dass alle Formen der Liebe wunderbar sind, gleich, ob nun drei Frauen oder vier Männer zusammen sind – warum auch nicht?“

      Daneben dokumentierte Sterling Morrisseys Karriere als Fotografin. Zu ihren bekanntesten Aufnahmen zählen unter anderen die Covers von Your Arsenal und des Samplers Morrissey Shot. Außerdem sang sie die Hintergrundstimme auf „Driving Your Girlfriend Home“ und war sowohl an der South Bank Show 1987 als auch an der Dokumentation The Importance Of Being Morrissey (2003) beteiligt. Im Jahre 2004 kamen Ludus für einen Auftritt bei Morrissey’s Meltdown noch einmal zusammen.

      Unter den wenigen engen Freunden, die Morrissey Ende der Siebziger hatte, befand sich auch James Maker. Dieser beschrieb ihn rückblickend einmal mit folgenden knappen Worten: „Im Alter von siebzehn Jahren besaß er bereits einen starken Intellekt und einen großartigen Humor. Er lebte für die Kunst. Er verließ sich ausschließlich auf sich selbst.“ Dies stand jedoch in einem gewissen Widerspruch zu Morrisseys späterem Selbstportrait des Künstlers als junger Mann: „Der traurige, besessene Einzelgänger. Die Vorstellung, dass ich einmal werden würde, was ich schließlich wurde, war undenkbar … Ich war ein sehr in sich gekehrter Teenager, um es ganz vorsichtig zu sagen.“

      Inzwischen hatte er in wahrhaft Wilde’scher Manier seinen Taufnamen abgelegt. „Steve der Depp“ war tot, und von nun an war er für die Leute nur noch „Morrissey“. „Ich fühlte mich einfach ungemein erleichtert, dass man mich nicht mehr Steven nannte“, erklärte er, als würde ihn dieser Akt an sich schon von dem schüchternen Jugendlichen aus Stretford, dem unglücklichen Jungen aus Salford abgrenzen. Möglicherweise verlieh ihm der Name Morrissey größere Autorität und mehr Selbstvertrauen, als er zu seinem Angriff auf die Musikszene Manchesters ansetzte. Offenbar hielt er den Postpunk – in Manchester vertreten durch solch seltsame Gestalten wie Howard Devoto und Vini Reilly – für den besten, wenn nicht einzigen Ausweg aus seinem persönlichen Ghetto. Traditionelle Möglichkeiten des Entrinnens wie Boxen, Profifußball, Billard oder Darts standen jedenfalls nicht zur Debatte.

      Inspiriert durch die demokratische oder anarchische Grundauffassung des Punk, dass man auch ohne die geringste musikalische Vorbildung einfach auftreten, spielen und sogar die Charts stürmen konnte, stieg Morrissey kurzfristig bei den Nosebleeds ein (mit denen er im Frühjahr 1978 im Vorprogramm von Magazine im Ritz in Manchester auftrat – an der Gitarre: Billy Duffy, der später mit The Cult bekannt wurde) – und sang erfolglos bei Slaughter & The Dogs vor. Devoto, der ehemalige Bandleader von Buzzcock und Magazine, erinnerte sich daran, dass er Morrissey einmal „Needle In A Haystack“ von den Marvellettes hatte singen hören.

      Morrissey bemerkte später: „Eine der Schattenseiten der Arbeit eines Popkünstlers ist, dass sie bis zu dem Punkt, wo man seine Obsessionen befriedigt, stets als Wahnsinn wahrgenommen wird. Schallplatten zu machen, scheint nur den eigenen Wahnsinn zu legitimieren, was im Grunde natürlich


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