Gestalten mit Licht und Schatten. Oliver Rausch

Gestalten mit Licht und Schatten - Oliver Rausch


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ein anderes Mal mit einem Porträt. Daher ist es mir auch nicht wichtig, wie ich ein bestimmtes Motiv ausleuchte, weil es eben dieses bestimmte Motiv ist, sondern ich wähle das Licht (und alle anderen Gestaltungsmittel) entsprechend meiner gewünschten Aussage und Grundstimmung des beabsichtigten Bildes. Für die Wirkung eines Stilmittels ist es unerheblich, ob ich es auf ein Auto, einen Menschen oder einen Baum anwende. Die Lichttheorie lässt sich aber aus meiner Sicht am einfachsten anhand von Porträts erlernen und dann verallgemeinern, da Gesichter ähnlich wie eine Kugel rund sind, aber auch flächige Elemente wie Stirn oder Wange aufweisen. Zudem zeigen sie auch Vorsprünge wie die Nase oder Einbuchtungen in den Augenhöhlen. Auch sind Glanzlichter und Strukturen in unterschiedlichen Ausprägungen wiederzufinden. Das macht Gesichter zu idealen Übungsmotiven, an denen Sie alle Aspekte in Ruhe studieren können.

      Falls Sie Bedenken haben sollten, Modelle aus dem Freundeskreis für Ihre »Fingerübungen« in Anspruch zu nehmen, oder Ihr Interesse einfach nicht beim Porträt liegt, kaufen Sie sich am besten drei oder vier kleine Gipsbüsten (ich habe meine im Musikfachhandel erworben) und üben Sie an diesen. Unterschiedliche Gesichter weisen unterschiedliche anatomische Besonderheiten auf. Eine Büste allein ist zwar schon geeignet, die grundlegenden Arbeitsweisen und damit verbundenen Effekte zu erproben, aber die Feinheiten werden erst im Vergleich der unterschiedlichen Anatomien deutlich. Haben Sie ein Licht für eine Büste »perfekt« eingestellt, so können Sie diese probehalber durch eine andere austauschen und werden meist feststellen, dass ein anders beschaffenes Gesicht auch leicht unterschiedliche Lichtmodulationen benötigt, um die gewünschten Effekte im Bild zu erreichen. In den späteren Kapiteln werden die beschriebenen Methoden und Arbeitsweisen beim Ausleuchten auf Landschaften oder Gebäude übertragen. Diese sehr unterschiedlichen Motive haben ebenfalls individuelle »Gesichter« mit unterschiedlichen »Anatomien«. Üben Sie also an Ihren Freunden oder an Gipsbüsten, um die Effekte des Lichtes den wechselnden Erfordernissen anzupassen. So sind Sie zum Beispiel in einer reportage-artigen Situation, in der Sie eventuell wenig Zeit haben werden, viel schneller in der Lage, das Licht einzuschätzen und bewusster zu nutzen.

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      Abbildung 1–3

      Falls Sie die Lichttheorie nicht am lebenden Modell erlernen möchten, können Sie auch auf Gipsbüsten zurückgreifen.

      Bei einem nicht frontal in die Kamera blickenden Modell wird die eine Seite des Gesichts länger und die andere kürzer im Bild erscheinen, gemessen von der Nasenspitze bis zum linken bzw. rechten Gesichtsrand. Stehen Sie vor einem Modell, so sehen Sie immer die lange Seite des Modells. Die von Ihnen abgewandte Seite ist immer schmal beziehungsweise kurz. Es ist unmöglich, so vor einem Modell zu stehen, dass Sie direkt in dessen »kurze Seite« schauen!

      Gehen Sie um ein Modell herum, so wird die Ihnen zugewandte Seite immer lang sein. Die zunächst noch kurz erscheinende, also abgewandte Seite wird in dem Moment lang erscheinen, wenn Sie die »Nasenlinie« des Modells überschritten haben. Diese »Nasenlinie« verläuft von der Nase aus in die Richtung, wohin die Nase zeigt. Überschreitet der Fotograf diese Nasenlinie, wechseln die kurze und die lange Seite im Gesicht des Modells ihre Position. Die Angabe »kurze Seite« oder »lange Seite« ist immer von der Kamera aus gesehen zu verstehen, also so, wie sie sich vom jeweiligen Standpunkt aus im Bild darstellt.

      Die einzige Ausnahme von dieser Regel ergibt sich, wenn Sie genau mittig vor einem Modell stehen, also direkt frontal vor dessen Nase genau auf der gedachten Nasenlinie, da dann beide Seiten des Gesichts exakt gleich lang im Bild erscheinen. Nur in diesem Sonderfall gibt es keine lange bzw. kurze Seite.

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      Abbildung 1–4

      Gesichter zeigen dem Betrachter, von der Nase aus gemessen, eine lange und eine kurze Seite.

      In Hinblick auf die Plastizität im Bild ist es nicht unerheblich, auf welcher Seite Sie eine Lichtquelle platzieren. Licht, das Sie auf der »kurzen Seite« (linkes Beispiel in Abbildung 1–5) auf ein Modell fallen lassen, erzeugt mehr Plastizität als auf der »langen Seite« (rechtes Beispiel).

      Gesichter erscheinen besonders plastisch modelliert, wenn das Licht auf die »kurze Seite« fällt.

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      Die Beleuchtung von der kurzen Seite erzeugt eine deutliche Plastizität, während eine Beleuchtung von der langen Seite das Gesicht eher flächig erscheinen lässt.

      Von der Kamera aus gesehen, sind bei Beleuchtung von der kurzen Seite die Schattenpartien immer auf der kamerazugewandten, längeren Gesichtshälfte sichtbar. Erst dahinter, in größerem Abstand zur Kamera, folgen die erleuchteten Gesichtspartien auf der abgewandten Seite. Bei Beleuchtung von der langen Seite aus weichen die Schatten nach hinten (von der Kamera aus gesehen) zurück. Somit wird nur die kleinere und zudem weiter entfernte Gesichtspartie von den für die plastische Bildwirkung so wichtigen Schatten erfasst. Oder um es mit einem alten Fotografen-Merksatz zu formulieren: »In einem Foto sollten einem die Schatten entgegenkommen.« Zumindest als erster Anhaltspunkt ist dieser Merksatz recht gut brauchbar.

      Wir werden diesen Merksatz im Weiteren noch deutlich detaillierter hinterfragen müssen. Er ist nur eine erste grobe Stütze, von der viele Fotografen bewusst abweichen. Irving Penn, ein Großmeister des klassischen Porträts, nutzt das Licht zum Beispiel fast immer auf der langen Seite seiner Modelle und erhält dennoch sehr plastisches Licht. Ähnlich ging es bisweilen in der niederländischen Malerei des Barock und einigen anderen Stilrichtungen zu, wo das Licht oft auf der langen Seite des Modells zu finden ist. Es gibt eben neben der Plastizität noch viele andere Aspekte, die bei der Ausleuchtung eines Modells berücksichtigt werden sollten. Zum Beispiel wirkt ein Gesicht mit Licht auf der kurzen Seite deutlich schlanker als eines mit Licht auf der langen Seite. Dadurch ist es zum Beispiel möglich, bei stark asymmetrischen Gesichtern die größere Gesichtshälfte in den Schatten zu legen, wodurch diese kleiner und das Gesicht insgesamt wieder symmetrischer erscheint.

      Beim Porträt eines Modells, das direkt in die Kamera blickt, sind beide Seiten gleich lang. Für die Plastizität der Ausleuchtung ist es in diesem Fall egal, auf welche Seite das Licht fällt.

      In einem Bild sind bestimmte Richtungen und Positionen mit bestimmten Assoziationen verknüpft. Links im Bild verorten wir oft die Heimat, das Zuhause, den Startpunkt, das Bekannte oder die Vergangenheit. Auf der rechten Seite liegt eher die Zukunft, das Unbekannte, das zu Entdeckende oder Neue. Die Zeitachse in einem Foto läuft, wie die Leserichtung von Texten, von links nach rechts. Vergleichen Sie dazu einmal das folgende Porträt mit dem auf der nächsten Seite.

      Wenn das Modell auf der linken Seite im Bild platziert wird und nach rechts blickt, schaut es eher »in Richtung Zukunft«, aus der ihr das Licht bereits »entgegenkommt«. Auf der nächsten Seite ist dasselbe Modell rechts platziert, hat also schon einiges erlebt und schaut nach links »zurück in die Vergangenheit«, wo ihm »das Licht des Heimathafens den Weg weisen soll«, um es einmal etwas poetisch zu formulieren.

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      Abbildung 1–6

      Die Positionierung eines Akzentes auf der linken Bildseite und eine Blickrichtung nach rechts interpretieren wir oft mit einem Blick in Richtung Zukunft.

      Diesen Effekt nutzen zum Beispiel viele Hollywood-Filme. Beobachten Sie einmal aufmerksam, aus welcher Richtung die Personen am Anfang eines Filmes »eingeführt« werden. Ein sehr eindrucksvolles Beispiel dafür liefert die Produktion »Die Reise der Pinguine«: Dort sehen Sie zu Beginn des Filmes die Pinguine,


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