Live dabei - Mein Leben mit den Rolling Stones, Grateful Dead und anderen verrückten Gestalten. Sam Cutler
Bear
Kapitel 39 Auf Tour mit den Dead
Kapitel 40 Wo schwebt Jimi?
Kapitel 41 Vorsicht! Nichts anfassen!
Kapitel 42 Bitte alle einsteigen
Kapitel 43 Schnappschüsse für das mentale Fotoalbum
Kapitel 44 Wie ein Uhrwerk
Kapitel 45 Endstation
Kapitel 46 Wilde Spekulationen
Kapitel 47 Mineralwasser mit Schuss
Kapitel 48 Das Fillmore East
Kapitel 49 Europa
Kapitel 50 Out of Town Tours
Epilog Schau niemals zurück?
Zitat
Every day
We murder our dreams;
Then pick them up,
Dust them down,
Adjust their silly hats upon their heads,
Kiss them on the cheeks,
And tell them how glad we are
That they’re still alive
Sam Cutler, 1974
Prolog: Let ’Em Bleed
Anfang Dezember 1969 hatten die Rolling Stones die bis dato profitabelste Welttournee beendet und in den USA vor Tausenden von Fans gespielt. Die Tour war ein phänomenaler Erfolg gewesen, doch die Band musste sich mit einer Medienschelte auseinandersetzen, weil die Preise für Konzertkarten viel zu hoch gewesen seien. Als Antwort darauf erklärten sich die Stones bereit, ein abschließendes und kostenloses Konzert in San Francisco zu geben. „Free Concert“ lauteten die magischen Worte, denn es konnte kaum einen geschickteren Schachzug geben, um die Anschuldigungen ungezügelter und maßloser Gier zu widerlegen. Als Abschiedsgeschenk und Dank an ihr Publikum sollten die Fans die Musik genießen, ohne dafür einen Cent zu zahlen.
Und so führte uns das Schicksal zum Altamont Speedway, gelegen in dem hügeligen Gelände südöstlich von San Francisco, wo wir mit der Creme der West-Coast-Bands auftraten – und plötzlich ganz tief in der Scheiße steckten.
Wie auch die anderen Bands stürzte über die Rolling Stones eine wahre Welle der sinnlosen und brutalen Gewalt herein, denn Tausende von Fans, die wegen der Musik und der Riesenparty gekommen waren, wurden von einer kleinen Gruppe Möchtegern-Hells-Angels ohne erkennbaren Grund angegriffen.
Die ursprüngliche Intention und der gleichzeitige Traum jedes Beatniks – ein gemeinsamer Auftritt der Stones und der Grateful Dead – verwandelte sich in einem Albtraum, der einige Menschen das Leben kostete und vielen anderen einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügte. Darüber hinaus entlarvte sich die der West Coast zugeschriebene liebenswerte und hippieske Atmosphäre als Illusion und offensichtliche Absurdität einer bereits vergangenen Ära.
Das Altamont-Konzert wurde weder von den Rolling Stones noch von mir, ihrem Tourmanager, organisiert, sondern von einem losen Zusammenschluss engagierter, jedoch letztendlich verantwortungsloser Menschen aus der Community San Franciscos.
Als der Auftritt im tobenden Chaos endete, wurde den Stones zu Unrecht die Schuld daran gegeben. Ich muss seit über 40 Jahren mit dieser Schmach leben.
Es ist höchste Zeit, alle Missverständnisse aus dem Weg zu räumen und mich zu Wort zu melden. Die 300.000 Zuschauer in Altamont können sich auf einige Überraschungen gefasst machen, denn die tatsächlichen Ereignisse unterschieden sich stark von dem, was sie später aus der US-Presse erfuhren. Doch meine Geschichte endet nicht mit Altamont. Ich beschreibe in diesem Buch mein Leben als Tourmanager von zwei der größten Bands der Welt – der Rolling Stones und der Grateful Dead.
1. Kindheitstage
Ganz im Gegensatz zu Michael Philip Jagger, der in einem ganz normalen Krankenhaus geboren wurde, erblickte ich das Licht der Welt in einem prunkvollen Anwesen. Mick mag jetzt zwar einige Nobelvillen besitzen, aber nein, er wurde in keiner geboren!
Zur Welt kam ich 1943 in Hatfield House, in einem nördlichen Randbezirk Londons in der Grafschaft Hertfordshire. Das Gebäude wurde 1608 von Robert Cecil, dem ersten Earl of Salisbury, gebaut und befand sich seit diesen Tagen ununterbrochen im Besitz seiner aristokratischen Nachfahren. Allerdings fließt in meinen Adern kein blaues Blut!
Meine Ankunft in solch hochherrschaftlichen Gemäuern hatte einen einfachen Grund. Die Regierung hatte Hatfield House während des Zweiten Weltkriegs beschlagnahmt und in eine provisorische Entbindungsklinik umgewandelt, denn dieser Teil Großbritanniens interessierte die deutsche Luftwaffe kaum.
Ich wurde in das heillose Durcheinander einer Welt der zerstörten Häuser, zerrütteten Leben, Millionen von Toten und des allgemeinen Tumults geboren. Mick beschrieb die Situation in dem Song „Jumpin’ Jack Flash“ als „crossfire hurricane“. Als Reaktion auf das überall tosende Chaos herrschte eine sexuelle Freizügigkeit, die zu einem steilen Anstieg der Geburtenrate führte, während gleichzeitig viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Es lässt sich mit einer Lotterie des Wahnsinns vergleichen, bei der ein Soldat und ein Baby ungefähr dieselben Überlebenschancen hatten.
Erst mit 15 Jahren erfuhr ich, dass meine Mutter Irländerin war und aus einer Roma-Familie aus Cork stammte. Sie hatte als Schreibkraft für die Regierung gearbeitet, während mein jüdischer Vater seinen Militärdienst bei der Royal Air Force als Mathematiker ableistete. Meine Eltern verschwanden im industrialisierten Gemetzel des Krieges. Ein Mal Pech gehabt – und schon war man raus! Durch meine Adern floss also irisches und jüdisches ebenso wie Roma-Blut.
Die Blutlinien dieser drei verfolgten ethnischen und religiösen Gruppen vermischten sich in mir und bildeten die perfekte Kombination für eine Karriere in der Unterhaltungsindustrie. Allerdings konnte ich in der Kindheit noch nichts davon ahnen. Mein kulturelles Erbe und die ungewöhnliche Abstammung waren schon immer eine Quelle der Zufriedenheit und des Stolzes für mich gewesen, denn seit frühster Kindheit wusste ich – egal, wo denn nun meine Wurzeln lagen: Ich war auf gar keinen Fall Brite!
In den Irrungen und Wirrungen der Pubertät klärte mich ein Freund der Familie über meine frühste Jugend auf. Mutter hatte alles unternommen, um das Beste aus ihrer schwierigen Lage zu machen. Sie war ein junges, strenggläubiges katholisches Mädchen, hatte ein uneheliches Kind zur Welt gebracht und lebte weit von der Familie entfernt, die mich vermutlich mit Abscheu betrachtet und ihre Tochter verstoßen hätte. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte sie den Eltern in Irland nichts von der Schwangerschaft oder der Geburt verraten.
Meine Mutter versuchte mich in London allein und im Geheimen groß zu ziehen. Doch sie konnte den gleichzeitigen Druck eines wütenden Krieges und des Überlebenskampfes mit nur wenig