Live dabei - Mein Leben mit den Rolling Stones, Grateful Dead und anderen verrückten Gestalten. Sam Cutler
kommen durfte, um mit ihm zu kuscheln. Er starb 1951, als ich gerade acht Jahre alt war.
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich nur die Reichen Antibiotika leisten. Menschen aus der Arbeiterklasse war es versagt, am „Luxus“ der fortgeschrittenen Medizin teilzuhaben. Mein Vater starb, da die Behandlung nur den wenigen Privilegierten vorbehalten war. Diese grausame Ungerechtigkeit zerriss Mutter das Herz, denn sie hatte ihren Mann innig geliebt und während aller Qualen und Prüfungen des Lebens begleitet und unterstützt. Durch solche Erlebnisse entwickelte sich meine Mutter zu einer Revolutionärin, doch damals war ich noch viel zu jung, um das zu verstehen.
Noch viele Jahre nach seinem Tod bewahrte ich eine alte Tabaksdose zum Gedenken an meinen Vater auf. Er rauchte Balkan Sobranie in einer langen Holzpfeife, hatte jedoch infolge der Krankheit zunehmend Schwierigkeiten, den Deckel abzuschrauben. Die Dose wurde eins meiner wichtigsten, fast schon geheiligten Erinnerungsstücke aus der Kindheit, die ich sorgsam behütete.
Meine Großmutter mütterlicherseits war die einzige Person in unserem Haushalt, die auf Erfahrungen mit der Kindererziehung zurückblicken konnte, denn sie hatte drei Töchter und einen Sohn. Jeder nannte sie Tillie, eine Kurzform für Matilda. Sie rauchte Capstan Full Strength, die damals stärkste Zigarettenmarke. Ständig steckte eine Kippe zwischen ihren Lippen, und die Asche fiel auf den Boden. Ihre Oberlippe hatte sich leicht bräunlich verfärbt, und auch in dem silbrig grauen Haar zeigte sich genau an der Stelle ein dunkler Streifen, wo der Zigarettenqualm herzog. Ich habe niemals wieder einen Menschen getroffen, der so viel rauchte!
Als ich noch sehr jung war, badete sie mich, und auch während dieser Prozedur hing eine Kippe zwischen ihren Lippen. Sie wurde 96 Jahre alt!
Meine Mutter Dora arbeitete für die Gewerkschaft, die die Angestellten der britischen Regierung vertrat, bekannt als Civil Service Clerical Association (CSCA). Die CSCA setzte als erste Gewerkschaft die gleiche Entlohnung für Männer und Frauen durch, was Mum verdammt stolz machte. Sie verdiente sich den Lebensunterhalt als Sekretärin des Herausgebers der Gewerkschaftszeitung Red Tape. Darüber hinaus organisierte sie die jährliche Versammlung, die in Prestatyn im Norden von Wales abgehalten wurde. Einmal im Jahr verschwand sie für zwei Wochen zu dem Treffen. Dora verschrieb sich mit ganzer Seele der Gewerkschaft und war wohl die radikalste Frau, die ich kannte. Allerdings hatte sie Schwierigkeiten, mir ihre Zuneigung zu zeigen. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mich jemals in die Arme nahm und feste drückte, obwohl ich mir sicher bin, dass sie mich auf eine bestimmte Art liebte. Nach dem Tod meines Adoptivvaters Ernie war sie gezwungen, mich in die Obhut anderer zu geben, weil sie trauerte, aber trotzdem ihrer Arbeit nachgehen musste. Ken und Joan Hoy, Kameraden von Ernie in der Kommunistischen Partei, wurden meine Ersatzeltern. Sie lebten in derselben Straße, der King’s Avenue in Buckhurst Hill, Essex, östlich von London, nur vier Häuser von uns entfernt.
Im Krieg diente Ken als Bomberheckschütze. Er saß im „Arsch“ des Bombers, im hintersten Ausguck, stellte also die ideale Zielscheibe für die deutschen Abfangjäger dar, und bediente das schwere Maschinengewehr. Seine Crew hatte die höchste Todesrate der gesamten Royal Air Force, doch er sprach niemals über seine Erlebnisse. Später las ich mal, dass die Bodenmannschaft die sterblichen Überreste der Heckschützen nach der Rückkehr von den Einsätzen praktisch mit dem Wasserschlauch wegspritzen musste, da die Körper infolge des feindlichen Feuers nur noch – bitterböse und fatalistisch ausgedrückt – als Hackfleisch zu bezeichnen waren! Ken wusste, dass er verdammt viel Glück gehabt hatte, den permanenten Kugelhagel zu überleben. Nach dem Krieg absolvierte er eine Lehrerausbildung. Während er und Joan auf mich aufpassten, musste ich als Testperson für seine Essays herhalten, die er während des Studiums schrieb.
Die Freizeit vertrieb er sich als Hobby-Ornithologe, er konnte mit einem beachtlichen Wissen aufwarten. Wir unternahmen tagelange Spaziergänge durch die Wälder, „bewaffnet“ mit alten Ferngläsern aus dem Zweiten Weltkrieg. Er half mir, Vögel zu erkennen, Dachsspuren zu lesen und die Pflanzen in Hecken zu bestimmen, die dem Kundigen verrieten, wann sie angelegt worden waren. Für einen kleinen Jungen stellte er eine unerschöpfliche Quelle des Wissens dar. Ken lässt sich als ein sanfter und sensibler Mann beschreiben, die Güte in Person, dessen Naturliebe sich auf mich übertrug und meinem ungeregelten Leben Stabilität gab.
Seine Frau Joan war Mode-Designerin, die junge Leute, die in der Bekleidungsindustrie arbeiten wollten, in Musterkunde unterrichtete. Für mich war sie eine glamouröse Frau, doch auch andere schätzen ihre außergewöhnliche Klugheit und Attraktivität. Ken war schon ihr dritter Ehemann, was mich schlussfolgern ließ, dass sie schon einige Herzen gebrochen hatte. Man kann sie in der Radikalität mit meiner Mutter vergleichen, und vielleicht reagierte sie manchmal noch aufbrausender. Bei hitzigen Debatten mit Kameraden zerwühlte sie sich manchmal die Haare, wenn ein männlicher Kontrahent den Versuch unternahm, sie nur wegen ihres Geschlechts zu belehren.
Joan kämpfte für ihre Ansichten und Ideale. Sie nahm mich mit zu Demonstrationen, bei denen sie immer in der ersten Reihe stand, Kampfparolen schrie, aber mir gleichzeitig auch die Angst nahm. Ich erinnere mich an eine Kundgebung in Whitehall, nahe dem Kenotaph. Es war der Höhepunkt der Suez-Krise, wir beide standen mitten in der Menschenmenge. Die Londoner Dockarbeiter kämpften unter der Leitung des Kommunistenführers Jack Dash mit aller Gewalt gegen die berittene Polizei, und wir liefen Gefahr, von den durchgehendenden Pferden niedergetrampelt zu werden. Joan schloss mich ganz fest in ihre Arme und zerrte mich aus der Menge, weil jeder panisch aus dem Menschenauflauf zu entkommen versuchte. Ich hatte unglaubliche Angst, aber sie lachte und brachte mich dazu, die Dockarbeiter anzusehen – sie hielten zusammen und waren gemeinsam stark. Im ruhigen Ton erklärte sie mir, dass alle Angst verspürten – natürlich! Doch mit einem Kameraden an seiner Seite könne jeder dieses negative Gefühl zugunsten eines größeren Ziels unterdrücken und nicht an sich selbst denken, sondern für die anderen handeln. Sie sagte: „Denke daran, Sam – Geschlossenheit und Einigkeit bedeutet Stärke!“
Ich war zu dem Zeitpunkt zwölf.
Joan war die erste Frau, die ich liebte, und in meinen frühpubertären Phantasien träumte ich davon, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhe. Ich lebte für die Momente, in denen sie mich mit einem frohen und heiteren Lachen ganz fest an ihre Brüste presste und mich herzlich drückte. Ich verehrte Joan und auch Ken, denn die beiden waren das wunderbarste Paar, das ich kannte. Durch ihre liebenswerte Güte gelang mir der schwierige Übergang von einem Jungen zu einem Mann, noch bevor ich die körperliche Reife erlangt hatte.
Man kann mich als einsames Kind beschreiben, und im Rückblick wird mir klar, dass die Erfahrungen vor der Adoption mich zutiefst verstört und traumatisiert hatten. Ich erinnere mich an nichts mehr, trage aber die Narben des früheren Lebens tief in meinem Herzen. Als einziges Kind, fast immer nur von Erwachsenen umgeben, sehnte ich mich nach einem Bruder, einfach jemanden, mit dem ich spielen konnte. Ich erlebte niemals die ganz normale Kindheit, in der die Freizeit und das Spielen im Vordergrund stehen. In vielerlei Hinsicht war ich schon vor der Teenager-Zeit erwachsen geworden, wollte jedoch mit der Welt der Erwachsenen nichts zu tun haben.
Gegenüber von Ken und Joans Haus auf der King’s Avenue stand eine elisabethanische Jagdhütte, die so aussah, als wäre sie seit ihrer Errichtung vor Hunderten von Jahren – als die ganze Gegend noch ein riesiges Waldstück war – noch nie repariert worden. Elisabeth I. hielt sich in Hatfield House auf, dem Ort, an dem ich geboren wurde, als sie die Nachricht erhielt, dass sie den Thron besteigen werde. Sie hatten in den Wäldern gejagt, in denen ich spielte, und sogar in dieser Jagdhütte übernachtet, auf die ich direkt blickte. Dass das Adoptivkind einer ultralinken Familie eine solche Gleichzeitigkeit erlebt, verunsicherte mich in meinen jungen Jahren und gab mir zu denken.
Ich zog mich genau in diese Jagdhütte zurück, wenn ich der Welt entfliehen wollte. Ich kannte jeden Raum bis ins Kleinste, sogar das Gemach, in dem Königin Elisabeth I. geschlafen haben musste. Mich beschlich das Gefühl, dass ich noch vor meiner Geburt in der Hütte gewesen war, was ich nicht verstehen konnte und was mich beängstigte. Ich hielt immer ein Auge auf, um meinen eigenen Geist zu erspähen. Viele Jahre später enträtselte sich das Mysterium, als Königin Elisabeth I. unter eher merkwürdigen Umständen wieder in mein Leben trat! Bei einem erinnerungswürdigen LSD-Trip während eines Grateful-Dead-Konzerts träumte ich von einer früheren Inkarnation.