Live dabei - Mein Leben mit den Rolling Stones, Grateful Dead und anderen verrückten Gestalten. Sam Cutler

Live dabei - Mein Leben mit den Rolling Stones, Grateful Dead und anderen verrückten Gestalten - Sam Cutler


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in mein Bewusstsein, und ich sah mich als im Geiste als einen ins britische Königreich zurückkehrenden Piraten, der einen kostbaren Schatz mit sich führte; er stammte von den spanischen Galeonen, die ich geentert und versenkt hatte. Ich übergab Königin Elisabeth die Hälfte der Beute; sie schlug mich zum Ritter und verlieh mir ein 40 km² großes Anwesen in Buckinghamshire. Oh ja, so war das damals, in jenen glorreichen Tagen. Ein anständiger Kerl konnte es im Elisabethanischen Zeitalter zu etwas bringen. Aber auch genauso schnell seinen Kopf verlieren!

      Ken und Joan wussten nicht, dass ich als Kind durch die Jagdhütte streunte, da ich jeden Abend wieder zu ihnen zurückkehrte. Ich wieder­um hatte nichts davon erfahren, dass meine verwitwete Mutter einen Mann namens Mel, ein Waliser aus Merthyr im Rhonda Valley, immer häufiger traf.

      Mel hatte die Universität in Southampton besucht und war bei Ausbruch des Krieges zur Armee gegangen. Er verbrachte die Kriegsjahre damit, während der Gefechtsausbildung Maschinengewehrsalven über die Köpfe verängstigter Soldaten zu feuern, die verzweifelt versuchten, die Cliffs in Ilfracombe zu erklimmen. In dieser Zeit brachte er es bis zum Sergeant.

      Nach 1945 engagierte sich Mel in der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaft, wo er meiner Mutter begegnete. Kurz darauf gaben sie ihre Heiratsabsichten bekannt, was Mum als Gelegenheit sah, die Familie wieder zu vereinen. Ich sollte Ken und Joan verlassen und nach Hause zurückkehren. Sie und Mel planten, in einen der Vororte Londons zu ziehen. Ich sträubte mich gegen Mums Umzugspläne, die eine Trennung von Buckhurst Hill und den Menschen, die ich so innig liebte, bedeuteten. Ich entwickelte mich zu einem verdrießlichen Typen, einem jungen Mann, der nur wenig sprach – halt ein typischer Teenager.

      Teenager zählten damals zu einer gerade neu entdeckten „Spezies“. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es sie noch nicht als soziologisch definierte Gruppe. Wir waren ein neuer „Stamm“, dessen Balzverhalten und dessen zwischenmenschliche Beziehungen das uneingeschränkte Interesse der Gelehrten auf sich zogen. Man studierte uns ausgiebig und aufmerksam, und unsere „soziopathologischen Auffälligkeiten“, wie zum Beispiel die Partys, sorgten im Parlament für viel Gesprächsstoff. Wir hatten unseren eigenen, verschrobenen Dialekt, den wir aus den Mundwinkeln herauspressten, so dass nur Eingeweihte sich untereinander verständigen konnten. Wir entdeckten sogar unsere eigene Musik, die unter Garantie die Erwachsenen anwiderte. Aus uns wurden Philosophen, die über die Zeitgeschehnisse diskutierten, aber nie zu einer gemeinsamen Haltung fanden, und wenn uns jemand nicht glich, war er für uns tot – oder sollte vor die Hunde gehen. Eigentlich hatte sich nicht viel geändert, doch wir „erfanden“ den Teenager.

      Dora und Mel versuchten ihr Bestes, um den gegen jegliche Vernunft argumentierenden Marsmenschen in ihren Haushalt zu integrieren, doch ich verachtete meinen neuen Vater, der mir nichts recht machen konnte. Er war eigentlich ein ganz anständiger Kerl und hatte meinen Widerstand nicht verdient – bis auf die Tatsache, dass er morgens beim Teekochen ständig das alte Varieté-Lied „Martha, Rambling Rose Of The Wildwood“ singen musste. So was war doch nicht zum Aushalten!

      Jeden Morgen um genau sieben Uhr hörte ich ihn in seinen Hausschuhen die Treppe hinunterschlurfen, wonach er Wasser in den Teekessel füllte und dabei dieses höllische Lied sang. Wutschnaubend zog ich mir die Bettdecke über den Kopf – immer dasselbe Liedchen zur genau gleichen Zeit. Monströs! Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich so lange wie möglich im Bett blieb, um weder Mum noch Mel zu begegnen, die glücklicherweise schon bald zur Arbeit gingen.

      Meist zog ich mich in mein Zimmer zurück, um nicht die Farce, die Mum eine Ehe nannte, mitzuerleben und das ach so idyllische Familienleben, das sie mir bieten wollten. Wie alle Frischvermählten verhielten sie sich übermäßig aufmerksam, was die Zipperlein oder Wünsche des anderen anbelangte. Sie bei dem spießigen Rollenspiel zu beobachten kotzte mich nur an.

      Ich sehnte mich danach, endlich erwachsen zu werden, und versank zwischenzeitlich in tiefem Selbstmitleid. Als besonders abscheulich empfand ich das neue Haus, in das ich gegen meinen Willen eingezogen war. Den Traum meiner Eltern von einem Eigenheim teilte ich sicherlich nicht – damals wie heute. Obwohl in all den Jahren so viel Geld durch meine Hände geflossen war, dass mir einige dieser Buden hätte anschaffen können, bin ich nie stolzer Hausbesitzer geworden.

      Wir hatten uns in einer kleinen Kiste mit einem erstickend kleinen Grundstück niedergelassen. Das Gebäude verfügte über drei Zimmer und lag in einer Sackgasse im vorstädtischen Croydon, im Süden Londons. Die anliegenden Häuser standen nur einen Meter weit entfernt. An der kurzen, ansteigenden Straße lagen beidseitig fünf dieser Miniaturpaläste mit kleinen Auffahrten, die mich an die Zitzen einer säugenden Sau erinnerten. Ich hasste den Ort mit all meinem ungebändigten Zorn. Ich hasste das Zuhause, die Schule, Großbritannien und konnte es nicht erwarteten, alle drei hinter mir zu lassen.

      Jedes Buch bestärkte mich in der Absicht, dorthin zu flüchten, wo Menschen im Genuss und mit Leidenschaft lebten, wo sie Ideen aus dem geschmolzenen Stahl ihrer Überzeugung schmiedeten. Bücher wie Roter Stern über China: Mao Tse-tung und die chinesische Revolution [Edgar Snow], Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen [Robert Tressell] und Willie Gallachers Rise Like Lions [es liegt keine deutsche Übersetzung vor] stellten für mich eine Art Ruf der Sirenen dar, der mein sich entwickelndes politisches Bewusstsein ansprach.

      Ich verschlang immer mehr Bücher, wurde immer deprimierter und äußerte mich nur noch zynisch über Großbritannien. Amerikanische Musik und amerikanische Literatur standen bei mir an oberster Stelle, und ich wollte so dringend in dieses Land meiner Träume, dass ich beinahe körperliche Schmerzen verspürte.

      Auch Mutter liebte die Werke amerikanischer Autoren. Obwohl wir kaum mehr miteinander redeten, verband uns wenigstens der Trost, dass wir über diese Bücher diskutieren konnten.

      „Lies das doch mal“, riet mir Mum und gab mir Bücher wie zum Beispiel Straße zur Freiheit [Peekskill USA] von Howard Fast. Ich ging auf mein Zimmer, wo ich mich für verdammt clever hielt, Zigaretten bei geöffnetem Fenster zu paffen, im Irrglauben, dass Mutter den Tabakqualm nicht riechen werde. Ich wollte endlich den Dschungel, die Schlachthöfe Chicagos, sehen, dorthin gehen, wo Upton Sinclair gewesen war, die Weißen treffen, die sich in Peekskill selbstlos vor dem Sänger und Aktivisten Paul Robeson aufgestellt hatten, damit ihm die Faschisten keinen Schaden zufügen und er für die Menschen singen konnte. Ich wollte endlich lautstark „Hallelujah, ich bin ein Penner“ singen und meine Freiheit auskosten. Ich wollte „Auf welcher Seite steht du?“ schreien und für mich herausfinden, zu wem ich eigentlich gehörte, denn in Großbritannien gab es rein gar nichts, das mich anzog.

      Doch vor allem wollte ich nach Kalifornien reisen und mir all die Schauplätze ansehen, die Woody Guthrie in seinen Songs besang – das unermesslich große Land der Träume erleben, diese „Pastures Of Plenty“. Doch erst mal steckte ich im miefigen Croydon fest.

      2. Hinter dem Beat

      Als meine Schamhaare zu sprießen begannen und die Hormone ihren wilden Tanz in meinen Blutkreislauf veranstalteten, begann ich von Mädchen zu träumen. Wenn ich nicht las, masturbierte ich, und wenn ich mal nicht masturbierte, hörte ich Musik und spielte Gitarre. Bücher, Musik und Sex waren ein ständiger Freizeitspaß, und das Zimmer wurde zu meinem Refugium. Ich sehnte mich vom ganzen Herzen danach, endlich auszuziehen, doch zuerst – ob ich es mochte oder nicht – musste nach dem Gesetz die Schule beendet werden.

      Alkohol und Jazz retteten mir den Verstand. An Samstagabenden traf ich mich mit meinem älteren Kumpel Kelly in einem Pub in West Croyden, wo wir uns Interpreten wie zum Beispiel die beiden bekannten britischen Jazz-Musiker Humphrey Lyttelton und Ken Colyer anhörten. Als Spezialität des Hauses servierte man uns das „tödliche“ Mixgetränk aus Guinness und Cidre, auch bekannt als „Black Velvet“, und nachdem ich einige gehoben hatte, ging es auf die Tanzfläche, um mit Mädchen eine flotte Sohle aufs Parkett zu legen. Kelly hatte mit dem Tanzen nichts am Hut, und wenn er mit Mädchen reden sollte, wurde er total nervös. So hing er an der Bar und „holte alles ran“, wie er es nannte. Das passte mir natürlich gut in den Kram, da ich wegen meines Alters noch keine alkoholischen Getränke bestellen durfte, obwohl mich das nicht davon abhielt, an diesen Abenden einige Bier zu kippen. In dem Pub in West Croydon, an dessen Namen ich mich um alles in


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