Verbrannte Erde. Marie Kastner
»Ich weiß nicht, wie es dir damit geht, aber ich kann jetzt keinesfalls tatenlos rumsitzen und entspannen. Mach’s dir bequem mit Felix, ich fahre jedenfalls zurück ins Revierkommissariat.«
Julia seufzte resigniert.
»Dann iss wenigstens was, bevor du gehst.« Er drückte ihr einen eiligen Kuss auf.
»Ich nehme mir an der Döner-Bude was mit, ich werde schon nicht verhungern.«
Und schon war er aus der Tür. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass sie heute Nacht alleine hier übernachten durfte.
Die innere Unruhe ließ sie nicht stillsitzen. Schließlich griff sie nach der Fernbedienung und schaltete auf Marits Fernseher den gewohnten Nachrichtensender ein.
Rote Breaking News Schlagzeilen zogen sich am unteren Bildrand entlang. Es lief gerade ein News Spezial zum Harz-Inferno, wie sich die Brandkatastrophe inzwischen wohl offiziell nannte. Atemlos starrte Julia auf den Bildschirm, sah, wie sich grell lodernde Flammenwalzen über das bergige Gelände schoben, wie Feuerwehrleute bis zur totalen Erschöpfung dagegen ankämpften, hektisch Feuerschneisen schlugen und Glutnester bekämpften. Starker Wind ließ die Flammen rasant von Baum zu Baum überspringen. Der Brand schien außer Kontrolle zu sein.
An den ortsnahen Waldrändern schickten sich etliche Bauern an, mit wassergefüllten Güllewagen bei den Löschbemühungen zu helfen, um wenigstens ihre Kornfelder und Höfe zu retten. Die teils verwackelten Live-Videos stammten offensichtlich von Handykameras, sie wurden in Endlosschleifen gezeigt und fortlaufend neu kommentiert.
Nach einer Viertelstunde hilflosen Gaffens drückte Julia den Ausschalter des Fernsehers. Sie konnte einfach nicht mehr.
*
Juli 2018, Wernigerode
Stundenlang hatte Julia kein Auge zugetan, obwohl sie fix und fertig gewesen war. Eine nervenzerreißende Mischung aus Eifersucht, Sorge um das Wohnhaus und Ärger wegen des versauten Urlaubs zeichnete hierfür verantwortlich. Irgendwann war orkanartiger Wind aufgekommen und sie hatte in ihrem unruhigen Halbschlaf befürchtet, dass er die Feuersbrunst noch weiter anfachen und womöglich in Richtung von Wernigerode treiben könnte. Es blitzte und grollte zwar unablässig am Horizont, aber es schien sich nur um ein Wolkengewitter zu handeln. Regenfälle blieben vorläufig aus. Die Luft war mitten in der Nacht noch unerträglich schwülwarm.
Bei Marit Schmidbauers Ein-Zimmer-Apartment handelte es sich um eine Dachwohnung. Dementsprechend fielen die Temperaturen aus. Das Wandthermometer neben dem Küchentisch zeigte schweißtreibende neunundzwanzig Grad an. Durchlüften war leider unmöglich, die Dachgauben gingen allesamt zur selben Seite hinaus und die Fenster ließen sich nicht kippen.
Julia verdampfte, jedenfalls gefühlt, unter dem Baumwollbettlaken, das sie wie eine hauchdünne Decke benutzte. Dass Kater Felix schnurrend auf ihrem Unterleib lag, machte die Sache kein bisschen besser.
So gegen sieben Uhr erwachte die Polizistengattin desorientiert, stellte verblüfft fest, dass sie irgendwann offenbar doch eingeschlafen sein musste. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Felix saß auf der Fensterbank einer Dachgaube und versuchte eifrig, die außen an der Scheibe herunterlaufenden Tropfen mit seinen Vorderpfoten einzufangen.
An regnerischen Tagen war dies auch zu Hause seine erklärte Lieblingsbeschäftigung, schon weil der pelzige Geselle äußerst wasserscheu war und nicht einmal unter Gewaltanwendung zu bewegen gewesen wäre, nach draußen zu gehen.
Endlich ließ das müde, von der Hitze weichgekochte Gehirn etwas immens Wichtiges in Julias Bewusstsein durchsickern.
Regen! Ich muss im Revier anrufen und fragen, ob der Brand gelöscht ist! Sie kramte in der Handtasche, stellte jedoch schnell fest, dass sie ihr Mobiltelefon vergessen hatte, vermutlich im Wagen. Im selben Moment sperrte jemand die Wohnungstür auf. Sie fuhr sich hektisch mit einer Hand durch die verschwitzten Haare und steuerte den Flur an. Erst im Vorübergehen gewahrte sie, dass Marit einen riesigen Standventilator besaß. Das Gerät hatte die ganze Zeit über in einer Ecke gestanden und auf seinen Einsatz gewartet. Sie musste es in ihrem Frust übersehen haben. Bernd betrat die Wohnung, er wirkte geradezu euphorisch.
»Ich bringe gute Nachrichten, auch wenn es für Entwarnung noch viel zu früh wäre. Der Waldbrand ist mancherorts eingedämmt. An etlichen Stellen brennt es allerdings weiter. Die Feuerwehr meint aber, dass die ausgiebigen Regenfälle ein Wiederaufflammen der bereits gelöschten Stellen verhindern, weil Wasser die Hitze im Boden eindämmt und unterirdische Glutnester eliminiert. So weit, so gut.
Trotzdem der Hammer, was für eine ausgedehnte Fläche den Flammen zum Opfer gefallen ist, und dies innerhalb einer derart kurzen Zeitspanne! Man geht in Feuerwehrkreisen nach vorläufigen Erkenntnissen davon aus, dass es sich höchstwahrscheinlich um Brandstiftung gehandelt hat. Dieses Phänomen ist nämlich nur zu erklären, wenn an mehreren Stellen gleichzeitig, oder zumindest kurz hintereinander, Feuer gelegt wurde. Ein sachkundiger Brandermittler ist schon vor Ort.«
»Unfassbar, dass in unserer ruhigen Ecke ein Feuerteufel umgehen soll. Und unser Haus?«
»Das steht noch, wir haben unglaubliches Schwein gehabt! Ein Feuerwehrmann, der im Gebiet rund um Elend zur Brandwache abkommandiert ist, hat auf Marits Drängen extra nachgesehen. Er gab vorhin durch, dass der Wind gestern gerade noch rechtzeitig auf Nordwest gedreht haben muss. Die Flammenwand ist zirka bis auf hundertfünfzig, zweihundert Meter ans Wohnhaus herangerückt, inzwischen in diesem Bereich jedoch vollständig gelöscht.
Schon möglich, dass die brachiale Hitzeeinwirkung auf unserem Grundstück dennoch so einiges in Mitleidenschaft gezogen hat, aber wir müssen künftig wenigstens auf keiner Brandruine leben«, grinste Bernd schwarzhumorig.
»Hurra! Das hatte ich kaum mehr zu hoffen gewagt.«
Ihr kamen vor Erleichterung unwillkürlich Tränen. Erst jetzt bemerkte sie seine dunklen Augenringe. Die vergangene Nacht musste ihm einiges an Kraft abverlangt haben. Und sie grämte sich hier, nur wegen ein bisschen Schweiß und ein paar Stunden Schlafdefizit. Auf einmal fühlte sie sich irgendwie schuldig.
»Mensch, ist das eine Bruthitze hier drin! Wieso hast du denn die Fenster nicht aufgemacht?«, wunderte sich Bernd und holte das Versäumte nach. Frische, feuchte Luft strömte ins Zimmer. Der charakteristische Geruch nach Regenwasser, das auf heißem Asphalt verdampft, erfüllte den Raum.
Die wochenlange Hitzewelle im Harz war scheinbar vorüber.
»Weil … ach, das ist jetzt auch schon egal. Wann kommt denn Marit, wird sie im Revier bald abgelöst?«
»Die besorgt uns gerade beim Bäcker frische Brötchen, müsste jeden Moment eintreffen. Und sie besteht darauf, dass wir unsere Flitterwochen heute Abend planmäßig antreten.«
In Julia keimte ein kleines Fitzelchen Hoffnung auf. Sie wusste aus leidvoller Erfahrung, wie suggestiv Bernds Lieblingskollegin sein konnte. In diesem Fall wäre das allerdings sogar hilfreich.
»Dann schlage ich vor, dass wir deine Kollegin nicht verärgern und der Aufforderung besser Folge leisten. Vorher sollten wir aber noch mal schnell daheim nach dem Rechten sehen und die Gartenmöbel in den Schuppen räumen. Wir haben ja alles liegen und stehen lassen«, schlug Julia vor.
»Das geht leider nicht. Die Brandwache dauert drei Tage. Das ist anscheinend eine strikte Vorschrift bei der Feuerwehr, Regenguss hin oder her. Solange darf leider keiner der Bewohner in sein angestammtes Zuhause zurückkehren. Die Straße bleibt einstweilen abgesperrt, nicht zuletzt wegen möglicher Plünderer. Marit hat mir versprochen nach dem Rechten zu sehen, sobald es wieder möglich ist. Sie wird deine heißgeliebten Gartensachen schon in den Schuppen räumen, wenn du sie darum bittest. Was man mit Geld kaufen kann, ist ohnehin ersetzbar.«
»Apropos … sind alle anderen Bewohner ebenfalls rechtzeitig weggekommen, gab es Tote oder Verletzte?«
»Das ist noch nicht sicher. Vor bösen Überraschungen ist man bei Waldbränden eines solchen Ausmaßes