Verbrannte Erde. Marie Kastner

Verbrannte Erde - Marie Kastner


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bis er in Höhe des Wormsgrabens ein Stück querfeldein lief und auf einen anderen Forstweg traf. Diesem folgte er anschließend in westlicher Richtung. Sein betagter Hund Henry ging heute ordentlich bei Fuß, anstatt – wie sonst immer – ungeduldig an der Leine zu zerren. Die totale Veränderung seiner gewohnten Umgebung war wohl auch ihm unheimlich.

      Immer wieder blieb Strunz seufzend stehen, fotografierte und fragte sich, wie weit es noch bis zum Steinbruch am Knaupsholz sein mochte. Ihm fehlten wohlbekannte Landmarken zur Orientierung. Die schöne, völlig gleichmäßig gewachsene Tanne am Wegrand, die verwitterte Holzbank neben dem Weg, auf deren Lehne Liebespaare Schwüre und Herzchen eingeritzt hatten … all dies und noch viel mehr war ein Raub der gefräßigen Flammen geworden.

      Verbrannte Erde, soweit man schauen konnte.

      Er hätte das gewissenlose Arschloch, das für den verheerenden Waldbrand verantwortlich war, zweifellos mit eigenen Händen – und ohne Skrupel – erwürgen können. Unter den Feuerwehren herrschte Einigkeit, dass es sich bei der Ursache nur um fortgesetzte Brandstiftung handeln konnte.

       Vom Knaupsholz aus gehe ich dann im Zickzack Richtung Norden bis zur Stempelstelle 17 der ›Harzer Wandernadel‹, dem Trudenstein und von dort aus steige ich zum Hohnekopf hinauf. Wird ganz schön anstrengend werden. Mal sehen, wie viel ich heute noch schaffe, die Landschaft ist hier ziemlich steil und unwegsam. Morgen wäre dann wahrscheinlich die Gegend um die Hohneklippen dran, bevor ich mich, kreuz und quer durchs Vogelschutzgebiet, nach Schierke durchschlage.

      Und zum Schluss muss ich noch bis zum Auto zurück. Wie sollte ich da jeden Quadratzentimeter nach irgendwelchen Auffälligkeiten absuchen, die sich hernach der werte Brandermittler genauer ansehen kann? Das ist schier unmöglich, eine Sisyphos-Aufgabe, grübelte der Förster entmutigt.

      Wie zum Hohn schien nach der Auflösung des Morgennebels die Sommersonne heiß auf geschwärzte Baumskelette, auf graue Aschefelder und verkohlte Tierkadaver. Alle paar Minuten bellte sich Henry schier die Seele aus dem Leib, meldete seinem Herrn ein weiteres gut durchgebratenes Opfer. Man konnte manchmal kaum mehr erkennen, worum es sich einst gehandelt hatte.

      Er tätschelte dem aufgeregten Hund beruhigend den Hals.

      »Ist ja schon gut, mein Alter, AUS! Wenn du weiterhin wegen jedem toten Hasen anschlägst, bist du heute Abend heiser.«

      Die armen Tiere, sie hatten offenbar keinerlei Chance auf Entkommen. Und wie lange wird es wohl dauern, bis hier alles wieder aufgeforstet ist? Der alte Baumbestand ist sowieso nicht ersetzbar, er ist unwiederbringlich verloren, haderte der erklärte Naturliebhaber mit dem Gesehenen. Er empfand es geradezu als obszön, wie exponiert der einstige, seines wunderschönen Kleides aus Heidelbeerkraut, Farnen und Pilzen beraubte Waldboden jetzt seinen Blicken ausgesetzt war. Wo bisher Buche, Eberesche und Fichte wohltuenden Schatten und Kühle gespendet hatten, stand jetzt nichts mehr zwischen ihm und der gleißenden Sonne. Angerußte Felsformationen und tiefschwarze Fichtenzapfen zeugten von einer höllischen Hitze, die dem Wald den Garaus gemacht hatte.

      Ein Jammerbild, das sich hier seinen entsetzten Augen darbot. Dabei wären schon jene Schäden besorgniserregend genug gewesen, welche Borkenkäfer und saurer Regen in diesem Nationalpark angerichtet hatten. Dazu sorgte seit einigen Jahren das veränderte Klima für Wetterextreme und diese wiederum für halb ausgetrocknete Bäche und einen sinkenden Grundwasserspiegel – oder zwischendurch für das andere Extrem, wie zum Beispiel Orkane und Überschwemmungen. Auch das zählte zu den Negativeffekten, die der Mensch in seiner rücksichtslosen Profitgier zu verantworten hatte.

      Wieder schlug Henry an. Dieses Mal hatte er einen verendeten Luchs gefunden. Schade um das scheue, edle Tier, das in dieser Region bereits ausgestorben gewesen war, bis man erste Exemplare nachgezüchtet und gezielt im Nationalpark Harz ausgewildert hatte. Obwohl er tagtäglich im Forst unterwegs war, hatte er bislang erst einen einzigen zu Gesicht bekommen – von diesem gegrillten Exemplar abgesehen. Die Existenz der neu entstandenen Luchspopulation war meistens nur durch kleine GPSSender nachweisbar, die engagierte Tierschützer einigen Exemplaren eingepflanzt hatten, damit sie ihre Wanderungen nachzuvollziehen vermochten.

      Die Anzahl an toten Tieren ist erheblich höher als beim letzten Brand. Wahrscheinlich hat die Feuerwehr Recht. Mehrere Brände müssen ringförmig gelegt worden sein, um im Inneren einen wahren Hexenkessel zu erzeugen. Kein Wunder also, dass sie nicht flüchten konnten, weil sie sehr zügig von den Flammen eingekreist waren. Wer weiß, wie das ausgegangen wäre, wenn es in der Nacht zum Samstag nicht wie aus Eimern geschüttet hätte, sinnierte Strunz angewidert.

      Wenn er sich nicht sehr täuschte, näherte er sich jetzt endlich dem Knaupsholz. Das Waldstück lag unterhalb einer charakteristischen Geröllhalde, welche zu einem alten Steinbruch gehörte. Auf dieser relativ kahlen Fläche fristeten sogar noch einige intakte Bäumchen ihr trauriges Dasein. Die hatten die Flammen anscheinend schlecht erreichen können, weil jeglicher brennbare Bodenbewuchs fehlte, der das Feuer hätte nähren können. Die Blätter der Bäumchen und Büsche waren wegen der immensen Hitzeeinwirkung allerdings trotzdem versengt, sie hingen schlaff von den Ästen.

      Und wieder nervte Henry! Allmählich bedauerte der Förster, dass er den Hund heute mitgenommen hatte, ließ ihn während der Rast kurz von der Leine. Diesmal verbellte er etwas Größeres, genau am Waldessaum des abgebrannten Knaupholzes. Das Tier wollte sich gar nicht mehr beruhigen.

      Seufzend machte sich Hubert Strunz auf den Weg, um Henrys Fund in Augenschein zu nehmen. Worum mochte es sich handeln? Um einen kapitalen Hirschbock vielleicht? Ein merkwürdig süßlicher, ekelerregender Geruch stieg ihm in die Nase.

       Oh mein Gott … das ist kein Kadaver, sondern die Leiche eines Menschen! Mein schlimmster Albtraum ist wahrgeworden, es hat doch ein Opfer gegeben. Könnte sich um einen Mann handeln, Größe und Brustkorb nach zu schließen.

      Es half alles nichts, er musste seinen Ekel überwinden, näher hingehen und den Toten von allen Seiten fotografieren, bevor er die Behörden informierte. Im Anschluss markierte er die GPSDaten des Fundorts und schickte eine Nachricht an die Polizei sowie die Forstverwaltung. Bis hierher reichte zum Glück noch die Netzabdeckung, denn die Schierker Mobilfunkmasten standen nicht allzu weit entfernt.

      Abschließend informierte er seine drei Helfer über Funk von seinem grausigen Fund und erfuhr, dass sie ihrerseits, außer den unüblich zahlreichen Tierkadavern, nichts dergleichen entdeckt hatten. Er atmete auf, wenigstens fürs Erste, aber bislang war ja nur ein klitzekleiner Teil der abgebrannten Fläche begangen.

      Wer konnte schon wissen, was sie andernorts noch erwartete.

      »Komm, Henry, wir gehen weiter. Für diese arme Sau können wir leider nichts mehr tun. Hoffentlich hat der bedauernswerte Kerl nicht allzu lange leiden müssen«, murmelte der Förster und setzte sich in Bewegung. Er wollte sich lieber nicht bildlich vorstellen, wie es sich anfühlen mochte, einen Flammentod zu sterben. Die aufkommende Panik, das Erkennen der Aussichtslosigkeit einer Flucht, das Herannahen des sengend heißen Feuers, dann die ersten Flammen, die gierig nach der Kleidung züngeln … nein danke!

      Er versuchte, diese beängstigenden Gedankenfragmente abzuschütteln und sich wieder voll auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Doch das wollte ihm nicht recht gelingen.

      Am Nachmittag entdeckte er nahe Schierke, dass die Gleisanlagen der HSB-Brockenbahn ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Die Hitze hatte sogar Schienen und Signalanlagen massiv verformt. Hier wurden wohl aufwändige Reparaturen notwendig, bevor die wunderbaren historischen Dampfzüge wieder das Brockenplateau ansteuern könnten. Einige Mitarbeiter der Bahngesellschaft waren bereits vor Ort damit beschäftigt, sämtliche Schäden aufzunehmen, ergo durfte er sich wenigstens hier das detaillierte Fotografieren ersparen.

      Am Abend dieses Tages fühlte er sich körperlich und psychisch erschöpft, so sehr, dass er sich in seiner Stammkneipe die Kante gab. Manches im Leben war zu furchtbar, um es einfach wegzustecken und zur Tagesordnung überzugehen.

      Strunz war Förster mit Leib und Seele, folgte seiner Berufung. Es steckte ein mitfühlender Mensch unter dieser rauen, vom Wetter gegerbten Schale, ein feiner Kerl, der den Anblick einer schwarzroten


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