Operation Terra 2.0. Andrea Ross
Geschichte und Schrift im einzigen Waggon jenes Magnetzugs, der sie zum Raumbahnhof transportieren sollte, gegenüber. Beide hingen mit einem flauen Magengefühl ihren Gedanken nach, welche sich ausnahmslos um die unmittelbar bevorstehende Rückkehr der Zeitreisenden drehten.
Noch stand nicht einmal mit hinreichender Sicherheit fest, ob sich überhaupt ein Raumgleiter auf den weiten Weg durch den Zeittunnel gemacht hatte … beziehungsweise in Kürze erst machen sollte!
Ganz egal, zu welcher Zeit das Raumfahrzeug dort starten mochte – der Endpunkt in den räumlichen Koordinaten wäre der zirka 2.700 Lichtjahre entfernte Planet Tiberia. Und zwar heute, am KIN 13.5.6.13.12, pünktlich um Mitternacht. Etwas anderes würde schon das künstlich generierte Wurmloch, dessen Eintrittsfenster über einem wüstenähnlichen Gebiet in Galiläa lag, überhaupt nicht zulassen.
Doch würde das Team der Crew 1 denn tatsächlich zurückkommen? Crew 2 wusste nach ihrer Rückkehr von beunruhigenden Tendenzen zu berichten; die Verhöre der einzelnen Mitglieder dauerten derzeit noch an. Sämtliche bis dato bereits gesammelten Aussagen ließen besorgniserregende Rückschlüsse darauf zu, dass auf dem fernen Planeten Terra beileibe nicht alles nach dem ausgeklügelten Plan zu Operation Terra 2.0 verlaufen sein konnte.
Sowohl Kiloon als auch Alanna hätten mit bitteren Konsequenzen zu rechnen, falls man die Mission bei der Abschlussbesprechung als gescheitert einstufen müsste.
Natürlich, in den Geschichtsarchiven hatte sich durch das Eingreifen der tiberianischen Protagonisten Solaras und Kalmes bereits jetzt so einiges verändert, Kleinigkeiten zumeist … aber würde das am Ende ausreichen, um einer ganzen Planetenbevölkerung neue Hoffnung für die Zukunft zu geben?
Ein genauer Überblick, inwieweit Ereignisse auf Terra, die bis einschließlich des heutigen Vormittags in der Vergangenheit stattgefunden hatten, durch die neu implizierte Lehre Jesus‘ von Nazareth in die richtigen Bahnen umgelenkt worden waren, ließ sich auf die Schnelle sowieso nicht realisieren.
Da würden in den nächsten UINAL zwei zeitversetzt arbeitende Computersysteme einen Totalabgleich durchführen und sich dabei durch wahre Unmengen von Daten wühlen müssen. Es galt, die Geschichtsschreibung von mehr als 2.000 terrestrischen Jahren auf Veränderungen hin zu durchleuchten.
Danach wäre eine ganze Sektion von Geschichtsschreibern damit beschäftigt, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, eine Kurzanalyse der bahnbrechendsten Ergebnisse zusammenzufassen und die Prognose für die folgenden hundert Jahre zu erstellen. Jene fiktive Vorschau sollte es hoffentlich ermöglichen, das Eintreten künftiger Ereignisse nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorherzusehen und entsprechend zu handeln.
Allein diese Prozeduren würden bestimmt ewig dauern, auch wenn sie in fieberhafter Eile durchgeführt wurden!
Die ehrgeizige Alanna war absolut kein geduldiger Mensch. Speziell für sie würde die Zitterpartie durch die Ungewissheit zur gefühlten Höllenqual werden! Schon jetzt im Vorfeld kaute sie ihre gepflegten Fingernägel bis zum Anschlag herunter.
»Kiloon, Liebster … ich habe ein wenig Angst bekommen! Wie du weißt, kann niemand genau abschätzen, welche Auswirkungen Eingriffe in die Raum/Zeitstruktur haben. So habe ich mir überlegt, dass dies die vielleicht allerletzten Augenblicke unserer gemeinsamen Existenz sein könnten!«
Der designierte Regent unterbrach seine eigenen Grübeleien, die nicht viel erfreulicher ausgefallen waren. Er hatte sich nämlich zum x-ten Male gefragt, weshalb er sich auf diesen Wahnsinn überhaupt eingelassen hatte. Mit aufmerksamen Augen musterte er jene schöne Frau, welche der Drehund Angelpunkt seiner Probleme war. Sie saß verkrampft in den Polstern und wirkte ungewöhnlich blass.
»Wie meinst du das, Alanna? Denkst du, man könnte dich als Vorderste absetzen und mich in der Nachfolge für den Regentschaftsposten übergehen, falls auf Terra nicht alles zur vollen Zufriedenheit abgelaufen sein sollte?
Dass wir uns dieser Gefahr aussetzen müssen, war uns doch von vorneherein bewusst gewesen! Es wäre längst nicht das erste Mal, dass Vorgesetzte für die Fehler ihrer Untergebenen ernste Konsequenzen zu spüren bekommen. Auch oder sogar gerade nach Zeitreisen.
Die Vordersten-Versammlung wird uns mit ihren kritischen Fragen ganz schön unter Druck setzen, Alanna! Jene Operation wurde schließlich als äußerst grenzwertig betrachtet und konnte nur gegen einigen Widerstand durchgesetzt werden. Speziell wir beide sind nicht ganz unschuldig daran, dass sich die Dinge so entwickelt haben. Ich muss dich vermutlich nicht erst an unsere gemeinsam begangenen Untaten erinnern, oder?«
Alanna winkte unwirsch ab. »Davon spreche ich doch gar nicht! Falls im Rahmen der Mission ein paar Kollateralschäden zu beklagen wären, könnte man Mittel und Wege finden, sich herauszureden und die Sache mithilfe der richtigen Propaganda in ein anderes Licht zu setzen.
Mir macht eher die Option Sorgen, dass Solaras zu erfolgreich gewesen und übers Ziel hinausgeschossen sein könnte!«
»Du sprichst reichlich verworren und in Rätseln!«, knurrte Kiloon missmutig. Diese vergeistigten Wissenschaftler! Selbst seine hochintelligente Geliebte pflegte mitunter die schlechte Angewohnheit, erst nach zermürbend langer Vorrede auf den Punkt zu kommen.
»Na schön, für den Herrn Regenten also ganz konkret, kurz und bündig: Stelle dir doch nur einmal vor, Solaras hätte als Jesus die Weltgeschichte gleich dermaßen verändert, dass die auf Terra ansässige Menschheit in den darauf folgenden BAKTUN eben nicht andauernd damit beschäftigt gewesen wäre, sich gegenseitig auszurotten. Wenn die Vernunft über niedere Triebe obsiegt hätte, vor allem auch bei der Geburtenplanung. Was wäre wohl die logische Folge hiervon?«
Kiloon musste nicht lange überlegen. »Dann hätten sie ihre Energie auf andere Interessen als nur Krieg und Wiederaufbau oder Gelderwerb und Landbesitz verwenden können. Vermutlich wären sie in technischer Hinsicht viel weiter fortgeschritten, als es tatsächlich der Fall ist … äh, zumindest heute Morgen noch war, meine ich natürlich!
Sagen wir einfach pauschal, die Terraner wären heute ungefähr auf unserem hohen tiberianischen Standard. Aber genau das wollten wir mit der Operation Terra 2.0 doch erreichen, wenn ich mich nicht sehr irre! Wir gedachten, die beiden Welten einander anzugleichen, um hernach unser eigenes Siedlungsgebiet dorthin ausdehnen zu können.«
»Grundsätzlich schon!«, bestätigte Alanna. »Aber ihre Kultur hätte sich nicht zwingend in haargenau dieselbe Richtung weiterentwickeln müssen, nicht wahr?
Schon die minimalste Abweichung kann in einem progressiven Prozess vollkommen unterschiedliche Endergebnisse hervorrufen, das beweist jegliches wissenschaftliche Experiment. Terra weist im Vergleich zu Tiberia unbestreitbar einige klimatische, geologische und kulturelle Besonderheiten auf, nur um einige der markantesten Abweichungen zu nennen.
Unter härtesten Bedingungen kommt es früher oder später dazu, dass sich extrem widerstandsfähige und vielseitige Spezies entwickeln. Der Mensch passt sich im Evolutionsprozess allmählich den Erfordernissen an, bis er optimal mit dem zurechtkommt, was er in seiner Umgebung vorfindet!«
»Was in diesem Fall bedeuten würde, dass …?!«, fragte Kiloon seufzend, um die Antwort möglichst noch vor dem Erreichen des Zielbahnhofes im Distrikt 15 zu erhalten.
»Was in unserem Fall bedeuten könnte, dass diese Wilden uns inzwischen weit überlegen wären!«, ergänzte Alanna bereitwillig, verschränkte ihre Arme vor der Brust und sah unglücklich drein.
»Na und?«, wunderte sich Kiloon, der kein ernstes Problem hinter dieser Aussage entdecken konnte.
»Dann würden wir heute eben von ihnen lernen können, und nicht umgekehrt! Was wäre eigentlich so tragisch hieran – außer vielleicht, dass es dich garantiert ziemlich wurmen würde, wenn ein terrestrischer Fachkollege einen höheren Wissensstand besäße als du?«
»Das darf doch nicht wahr sein! Du willst es nicht verstehen, oder?«, schnaubte die Vorderste beleidigt. Ihre blauen Augen schienen gefährliche Blitze zu verschießen.
»Falls