Operation Terra 2.0. Andrea Ross
er größtenteils selber daran schuld. Solaras predigte als Jesus unablässig Liebe und Sanftmut, ging dabei aber ziemlich ungeschickt vor, machte sich mit seiner larvierten Aggressivität viele Feinde.
Nein, im Grunde sorgte sich Gabriel ausschließlich um jene Frau mit den sanften braunen Augen, in die er seit langer Zeit insgeheim verliebt war. Solange sie als Maria Magdalena an Jesus‘ Seite weilte, war sie höchstwahrscheinlich selbst in Gefahr.
Wütend schleuderte der Außerirdische Steine gegen einen Baumstamm, um seinen überschäumenden Frust zu kanalisieren. Balthasar hatte soeben sein blindes Vertrauen, seine Loyalität verraten. Was Gabriel über Jahrzehnte hinweg für eine gelungene Männerfreundschaft gehalten hatte, war in Wirklichkeit wohl keinen Pfifferling wert. Wie sehr musste er sich in seinem vermeintlichen Weggefährten getäuscht haben!
Sollte er noch heute desertieren, mit Kalmes untertauchen und für immer mit ihr auf Terra zurückbleiben? Aber was geschähe, falls Kalmes ihm seine selbstlose Rettungsaktion nicht danken und lieber mit dem lebenden oder toten Solaras brav nach Tiberia zurückkehren würde? Liebte sie diesen langhaarigen Hänfling etwa immer noch?
In diesem Falle säße er hinterher alleine hier in der Wüsteneinöde dieses rückständigen Planeten herum und würde sich bis an sein Lebensende wegen der verpassten Chancen und seiner fatalen Fehleinschätzung grämen!
Während Gabriel einen Stein nach dem anderen zur Kompensation seiner Ratund Machtlosigkeit zerschellen ließ, eilte Balthasar aufgewühlt ins Commudrom. Die schneidenden Vorwürfe seines Kollegen hatten ihn stärker verletzt, als er sich anmerken lassen durfte.
Ungeachtet dessen kam er zuverlässig seinen Pflichten nach, fügte der Missionsdokumentation einen neuen Eintrag hinzu. Er wägte seine Wortwahl ungewöhnlich lange ab, bevor er zu sprechen begann.
Balthasar 209/13.3.6.1.4, terrestrische Zeit: 7.19.10.8.3, Donnerstag
Es ist vorbei. Der Traum, dem manche Crewmitglieder in romantischer Verkennung der Realität nachhingen, ist vorüber. Aus einer verschworenen Gemeinschaft von ziegenzüchtenden Wahl-Terranern ist nun von einer Sekunde zur anderen wieder die tiberianische Missionscrew geworden, und zwar mit sämtlichen Rechten, Pflichten und Hierarchiestrukturen. Unsere Tage auf Terra sind gezählt.
Wir haben alle gewusst, dass es eines Tages soweit kommen wird. Und doch kann auch ich keinen Hehl aus meiner Betroffenheit machen, denn dieses unzivilisierte Terra hat unsere Seelen schon kurz nach der unsanften Ankunft gefangen genommen. Der Planet ist uns trotz oder gerade wegen seiner Unvollkommenheit zur zweiten Heimat geworden. Aber das erwähnte ich sicher bereits in einem meiner früheren Berichte.
Ich weiß, das ist eine seltsame Sichtweise für einen rational erzogenen Tiberianer; ihr Daheimgebliebenen werdet sie sicherlich sehr schlecht nachvollziehen können. Aber folgendes solltet ihr bedenken, bevor ihr euch über meine Gedanken wundert oder mich dafür an den Pranger zu stellen gedenkt:
Tiberia ist im Grunde genauso viel oder wenig unsere »Heimat« wie Terra … diese Bezeichnung verdient eigentlich einzig und allein der Mars, auch wenn er leider schon vor unvorstellbar langer Zeit unbewohnbar geworden ist.
Am schwersten fiel mir die Entscheidung, Jesus hier seinem vorgezeichneten Schicksal zu überlassen. Mir kam zu Ohren, dass er vom Sanhedrin zum Tode verurteilt worden sein soll; sofern der Statthalter Pontius Pilatus diesem Beschluss innerhalb der kommenden Tagen folgt und den Hinrichtungsbefehl antragsgemäß erteilt, werden wir unseren Gefährten verlieren.
Als wir einst auf Tiberia über die erfolgversprechendste Vorgehensweise für einen solchen Fall diskutierten und berieten, fiel es mir leicht, den Sinn und Zweck eines Märtyrertodes zu erkennen. Solaras‘ Leben galt mir als kleines Opfer, verglichen mit dem Effekt, den sein Tod bei den Gläubigen auslösen müsste. Auch ich habe dafür gestimmt, den Dingen ihren Lauf zu lassen, falls man ihm nach dem Leben trachten sollte.
Ein mildtätiger Mann, der mutig und selbstlos für das Heil seiner Welt stirbt, dürfte den Menschen Terras für eine ganze Weile im Gedächtnis haften bleiben. Vielleicht überlebt auf diese Weise zumindest sein Andenken.
Alanna, es war Euch damals mühelos gelungen, mich vollends von Euren wohldurchdachten Plänen zu überzeugen! Doch heute, da ich inmitten des tragischen Geschehens sitze und voller Nervosität unserem Abflug entgegenfiebere, quälen mich Zweifel. Mein Gewissen meldet sich unüberhörbar mit ätzenden Vorwürfen.
Mich vermag derzeit nur der Gedanke ein wenig zu trösten, dass Jesus nun höchstwahrscheinlich ein schwerer Schock erspart bleibt. Die Erkenntnis, dass er in Wirklichkeit gar kein Terraner, sondern ein tiberianischer Messias ist, wäre bestimmt weit über sein Begriffsvermögen gegangen! Hätte er sich nach dem Rückflug jemals akklimatisieren können? Ich weiß es nicht zu sagen!
Ich kenne diesen Solaras persönlich, habe ihn in seiner zweiten Identität aufwachsen sehen und viele TUN in seiner Nähe verbracht.
Ich musste mitansehen, wie sehr er manchen Kollegen am Herzen lag und immer noch liegt. Allen voran gilt das natürlich für Kalmes, die ihr eigenes Leben als Maria Magdalena ohne Zögern für ihn hingeben würde, wenn sie nur den leisesten Hauch einer Chance sähe, ihn dadurch retten zu können.
Sie hat im Grunde vollkommen Recht: Jesus‘ Verurteilung ist zweifellos ein himmelschreiender Akt der Ungerechtigkeit, selbst nach unseren zumeist abweichenden Maßstäben! Die Fähigkeit zu selbstlose Liebe fehlt uns auf Tiberia, wir sind bei aller Fortschrittlichkeit viel zu kopflastig geworden. Haben wir die falschen Werte geopfert, damit wir unsere kulturellen Errungenschaften um jeden Preis erhalten konnten?
Trotz dieser sentimentalen, in euren Augen vermutlich höchst unangebrachten Überlegungen – die finale Entscheidung über unser weiteres Vorgehen ist nach terrestrischen Termini schon vor Jahrzehnten gefallen, auch wenn sie für euch auf Tiberia erst wenige Tage zurückliegt. Ich werde mich den Vorgaben unter von vorneherein fruchtlosem Protest beugen und zusehen, dass ich die Mission zu einem gelungenen Abschluss bringe. Plangemäß, genau wie es von mir erwartet wird.
So kann ich unserem künftigen Helden nur wünschen, dass ihm wenigstens ein schneller Tod beschieden sein möge. Für den Fall, dass man ihn mit Spott und Häme zur Schau stellt oder ihn irgendwelchen Qualen aussetzt, kann ich nämlich nicht dafür garantieren, dass hier keine Meuterei ausbricht.
Womöglich könnte es Kollegen geben, die unbefugt Rettungsversuche unternehmen und sich strikt weigern würden, durch den Zeittunnel zurückzukehren. Ich könnte eventuellen Renegaten bei wohlwollender Betrachtung nicht einmal einen Vorwurf machen, und doch würde ich bei einer solchen Entwicklung hart durchgreifen müssen, um die Heimreise der restlichen Crew nicht zu gefährden. Mir steht eine gefährliche Gratwanderung bevor.
Wir mögen damals bestens geschult und auch auf Traumata aller Art vorbereitet worden sein … dennoch sind und bleiben wir Menschen, deren psychische Belastbarkeit Grenzen kennt. Wir neigen aufgrund der ausgedehnten Aufenthaltsdauer genau wie die Terraner zu unüberlegten, recht spontanen Handlungen, sobald wir an unsere Grenzen gelangen. Stellt euch besser beizeiten darauf ein.
Wie auch immer es am Ende kommen wird – der Raumgleiter ist jedenfalls repariert und abflugbereit. Es stellt sich nur die Frage, ob ich am Tag X eine ausreichend große Crew für den Start zur Verfügung habe. Die nächsten KIN werden es erweisen.
Balthasar 209/13.3.6.1.4, Ende
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Eine Woche später wirkte Jesus von Nazareth plötzlich wie ausgewechselt. Er schien seine Emotionen jetzt besser unter Kontrolle zu haben, fokussierte sich offenbar konzentriert auf ein neues Ziel.