Operation Terra 2.0. Andrea Ross
Jesus den Jünger Thomas bat, die Kerzen anzuzünden, kehrte allmählich Ruhe an der Festtafel ein. Aller Augenpaare hefteten sich nun gespannt auf den Meister, der aufgestanden war, um zur Feier des Tages höchstpersönlich den Rotwein auszuschenken.
Sobald endlich jeder einen gut gefüllten Kelch vor sich stehen hatte, erhob der Messias seinen eigenen, um den bestens gelaunten Jüngern freundlich zuzuprosten.
Als gläubige Juden erwarteten sie, dass Jesus nun der Tradition gemäß aus der Haggada vorlesen müsste. Am Sederabend wurde normalerweise jedes Jahr die alte Geschichte, wie Gott sein Volk einst unter ärgsten Entbehrungen aus Ägypten errettet und ins gelobte Land geführt hatte, von neuem erzählt. Man pflegte anschließend einen Segen über den koscheren Speisen auszusprechen und dann scherzend und schwatzend mit dem üppigen Festmahl zu beginnen.
Doch Jesus tat zu ihrem Erstaunen nichts dergleichen. Er hielt lediglich eine kleine Dankesrede, dann brach er das Brot.
»Nehmt es und esst nach Herzenslust, denn das Brot symbolisiert meinen Leib. Ihr könnt dasselbe später zu meinem Andenken tun, da ich in Kürze nicht mehr unter euch weile! Denn dies ist unser letztes gemeinsames Abendmahl.«
Ein Raunen ging durch die Gesellschaft. Wie hatte Jesus das gemeint? Wollte er mit diesen vagen Andeutungen etwa ankündigen, dass er sie bald zu verlassen gedachte?
Niemand fand Gelegenheit, genauer hierüber nachzudenken. Denn nun griff Jesus mit weit aufgerissenen Augen nach dem Kelch, erhob ihn feierlich und bat seine zwölf Getreuen und Maria Magdalena, es ihm gleichzutun.
»Seht, dieser vorzügliche Wein ist wie mein Blut. Damit besiegle ich meinen festen Bund mit euch und zahlreichen anderen Menschen, denn ich werde es für euch vergießen. Wann immer ihr in Zukunft Wein trinkt, verkündet ihr zugleich eures Herrn Tod. Tut auch das zu meinem Andenken, bis ich eines Tages am Ende der Zeit wiederkehre!«
Nun waren die Apostel endgültig verunsichert. Simon Petrus schluckte, fasste sich ein Herz und fragte zaudernd:
»Herr, wie meinst du das? Willst du uns im Stich lassen oder befürchtest du gar dein baldiges Ableben?«
Jesus seufzte tief und verkündete mit todernster Miene: »Einer ist unter euch Aposteln, der mich noch im Verlauf dieser Nacht verraten wird!«
Rufe der Empörung wurden laut. Jeder beeilte sich zu versichern, dass er so etwas Niederträchtiges ganz bestimmt nicht im Schilde führe! Die Einen schmeichelten dem Nazarener, andere kamen ihm mit galligen Vorwürfen. Wie konnte er nur allen Ernstes annehmen, dass ausgerechnet jemand von ihnen zu solch einer hinterhältigen Gräueltat imstande sei!
Wieder war es Simon Petrus, der dem lautstarken Geplapper Einhalt gebot und Jesus mit fester Stimme geradeheraus fragte:
»Von wem glaubst du denn überhaupt so felsenfest, dass er dich verraten wird? Ich könnte mir beim besten Willen keinen Verräter in dieser Runde vorstellen!«
Jesus nahm ein Stück Brot, tauchte es tief in den Weinkelch ein. Mit dieser Geste bemühte er erneut die Symbolik, dass es hier im übertragenen Sinne um seinen Leib und sein Blut gehe.
»Es ist einer, der mit mir am heutigen Abend scheinheilig aus derselben Schüssel isst. Und zwar derjenige, welchem ich jetzt einen blutgetränkten Bissen meines Leibes überreichen werde. Dieses kleine Stück ungesäuerten Brotes hier, das ich zuvor eingetunkt habe, wird ihn entlarven. Ich bitte diesen Mann jedoch nicht um Gnade, sondern appelliere hiermit an ihn:
Was du tun willst, das tu bald!«
Mit diesen Worten überreichte er das Brot in einer demütigen Geste seinem Jünger Judas Iskariot, welcher es erschrocken in Empfang nahm und wortlos nach draußen in die Nacht entschwand. Ein deutlicheres Eingeständnis seiner Absicht hätte der potentielle Verräter gar nicht abliefern können.
»Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist in ihm verherrlicht!«, rief Jesus zufrieden aus und setzte sich in aller Seelenruhe nieder, um weiter zu essen.
Den Jüngern war der Appetit jedoch zur Gänze vergangen. Wie konnte der Meister jetzt einfach sein Märtyrerschicksal akzeptieren und zur Tagesordnung übergehen, wenn er aufgrund Judas‘ gemeiner Heimtücke mit seiner baldigen Ermordung rechnen musste? Er wirkte sogar, als sei gerade eben eine schwere Last von ihm abgefallen!
»Was ist mit euch los? Ist es die unvollkommene Natur des Menschen, die euch so zu schaffen macht? Ich habe stets darüber gepredigt und darauf hingewiesen, dass wir uns im Namen des Herrn selbst verleugnen und notfalls unser Leben für ihn hingeben müssen. Für mich scheint dieser Tag gekommen zu sein. Mein Schicksal muss sich nun erfüllen!
Kommt, lasst euch von dem Zwischenfall nicht länger stören, esst und trinkt mit mir zum allerletzten Mal! Es war leider notwendig, euch mit der unangenehmen Realität zu konfrontieren, damit sie euch nicht unvorbereitet ereilen kann.
Aber bedenkt bitte, noch bin ich lebendig wie ein Fisch im Wasser und wir sitzen hier gemeinsam zu Tisch. Genießen wir den Augenblick, solange es noch geht! Danach möchte ich euch alle mit einer Fußwaschung segnen, zum Ölberg zurückkehren und mich im einsamen Gebet auf den schweren Weg ans Kreuz vorbereiten.«
Doch die Jünger saßen nur regungslos da, als wäre ein Blitz in sie gefahren. Manch einer vergoss bittere Tränen um dieses unschuldige Lamm, das offenbar wirklich für die Sünden der Welt geopfert werden sollte. Jeder von ihnen forschte verstört in der eigenen Seele nach einem eventuellen Schuldanteil.
Hätten sie den Verräter erkennen, ihn bloßstellen und rechtzeitig etwas gegen ihn unternehmen müssen? Wie hatte der Teufel überhaupt in einen streng gläubigen Mann fahren und von seinem Wesen vollständig Besitz ergreifen können? Würden sie, die übrigen Jünger, etwa ebenfalls von einem Moment zum anderen in eine ähnlich missliche Lage geraten?
Nach wenigen Minuten beendete auch der Messias sein Mahl und hielt eine ausführliche Abschiedsrede. Er schmückte sie mit theologischen Philosophien und einer deutlichen Warnung vor dem Endgericht aus. Erneut wies Jesus zum Trost darauf hin, dass er nicht für immer von ihnen gehen, sondern eines Tages wiederkehren werde.
Am Ende versicherte er mit tränennassen Augen gegenüber Gott, seinem Herrn:
»Solange ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in Deinem Namen, den Du mir gegeben hast. Und ich habe sie behütet und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllt!«
Jesus schenkte sich ein letztes Mal den Weinkelch randvoll, bis kein Tropfen mehr hineingegangen wäre. Für ihn würde es nach Lage der Dinge ohnehin kein lebenswertes Morgen mehr geben. Was musste es ihn also kümmern, ob er einen Kater davontrug? An seine geliebten Jünger gerichtet, fuhr er in geradezu poetischer Wortwahl fort:
»Wahrlich, ich sage euch: Ich werde fortan nicht trinken vom Gewächs des Weinstocks bis zu dem Tag, an dem ich neu trinke im Reich Gottes.«
Maria Magdalena fühlte sich indessen einer Ohnmacht nahe. Sie hatte doch die ganze Zeit über gewusst, dass mit diesem verdammten Judas etwas faul gewesen war! Aber sie würde tapfer um Jesus‘ Leben kämpfen, damit sie hernach mit Solaras auf Tiberia endlich eine gemeinsame Zukunft haben könnte. Koste es, was es wolle!
Wenn doch bloß endlich die angeforderte Verstärkung eingetroffen wäre … bei diesem Gedanken angekommen, fiel Jesus‘ treuer Gefährtin siedend heiß ein, dass die tiberianische Crew ja eigentlich gar nicht wissen konnte, wo sie sich derzeit aufhielten! Wie hatte sie vorhin nur vergessen können, den Standortwechsel durchzugeben?
Eilig entschuldigte sich die Jüngerin mit einem unaufschiebbaren menschlichen Bedürfnis, stellte sich draußen hinter einen Baum und setzte ihre Mitteilung an Balthasar über den Augor ab. Die Sache begann allmählich, ihr gewaltig über den Kopf zu wachsen!
Tiberia, KIN-Zeit 13.5.6.13.12, kurz vor Mitternacht