Der Fluch der Dunkelgräfin. Simona Turini

Der Fluch der Dunkelgräfin - Simona Turini


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ihre Begleiter ließen keinen Zweifel daran, dass zwar die Frau wieder mit ihnen nach Hause fahren würde, ihr Baby aber nicht.

      Solche Fälle kamen immer wieder vor, dann benachrichtigten wir gemeinhin das Waisenhaus in N., damit jemand das Kind abholte.

      In dieser Nacht rief der Doktor dort jedoch nicht an.

      Er schickte die Schwestern weg und kümmerte sich persönlich um die Versorgung des Neugeborenen. Dass er das kleine Mädchen mit nach Hause nahm, statt es wie behauptet zum Waisenhaus zu bringen, sollte niemals jemand erfahren.«

      »Aber Sie wussten es?«

      »Nun ja, es sollte niemand erfahren, bis ich begann, ihn bei seiner Mission zu unterstützen. Natürlich informierte er mich über alles, was wichtig war. Schließlich sollte ich ihm helfen, ihm und Maria. Unsere Beziehung war etwas ganz Besonderes.

      Wie dem auch sei, hier hätte alles enden können, alle hätten friedlich weiterleben können, liebendes Ehepaar, liebende Eltern, glückliches Kind. Und auch ich wäre glücklich gewesen.

      Doch etwas in Maria muss mit dem Tod ihrer Tochter zerbrochen sein. Sie nahm das kleine Mädchen, das der Doktor ihr als Melissa in die Arme legte, und wiegte es, sang ihm ein Lied vor, ging mit ihm auf und ab, um es zu beruhigen.

      Dennoch hätte der Doktor gewarnt sein müssen: Maria sang für die Kleine, aber sie sprach nicht mit ihr oder ihrem Mann, sie war immer noch weit, weit weg, in ihrer eigenen geheimnisvollen Welt.

      So kam es, dass Dr. Bromer die beiden allein ließ. Ich weiß nicht, was er getan hat oder wo er hingegangen ist, vielleicht war er nur im Bad, aber die kurze Abwesenheit genügte, denn als er wiederkam, saß Maria im Kinderzimmer und wiegte Melissas Puppe. Das Baby war nirgendwo zu sehen. Der Doktor fragte seine Frau, wo es denn sei, warum sie es nicht bei sich habe, aber sie reagierte nicht. Er fand es schließlich in einer Waschschüssel in der Küche, unter Wasser.«

      »Hat sie das Kind ertränkt?«

      »Nein, es war nicht ertrunken.

      Maria hatte ihm die kleinen Ärmchen verdreht, bis seine Schultern ausgekugelt waren, sie hatte sein linkes Bein am Knie gebrochen und umgedreht, sie hatte an seiner Unterlippe gezerrt, bis sie ganz dick und blau geworden war, und schließlich hatte sie wohl sein Köpfchen traktiert, denn Melissa hatte zu allem anderen auch einen unnormal platten Schädel gehabt, wie er bei Kindern ohne Gehirn vorkommt.

      Die neue Melissa hatte diese Behandlung selbstverständlich nicht überlebt, und als Maria das Kind schließlich baden wollte, war es nicht mehr Kind gewesen, sondern ein blutiges kleines Ding, umgeformt zu einem Zerrbild der behinderten Tochter. Damit war sie wohl uninteressant geworden und Maria hatte sie einfach in der Wanne liegen lassen und getan, was sie immer tat: Sie setzte sich mit Melissas Puppe in Melissas Zimmer.«

      »Was hat Dr. Bromer daraufhin getan?«

      »Er konnte es sich natürlich nicht leisten, den Leichnam eines entführten Babys in seinen privaten Räumlichkeiten aufzubewahren, also vergrub er die Überreste in dem alten Gewölbekeller unter seinem Haus und versuchte zu vergessen, was er gesehen hatte.

      Als könnte man solch ein Erlebnis vergessen! Als könnte man den Anblick eines geschundenen Kindes vergessen! Ich habe selbst einige von Marias Kindern im Arm gehalten, wenn ich neben dem Doktor gewartet habe, bis das Loch tief genug war, um es zur letzten Ruhe zu betten.«

      »Was hat sie mit diesen Kindern gemacht?«

      »Es war immer das Gleiche: Die verdrehten Ärmchen, die starr vom kleinen Körper abstanden, die blauen, geschwollenen Schultern, das kaputte Bein und der eingeschlagene Schädel, mit aller Kraft auf eine Tischplatte oder den Boden geschmettert, platt gedrückt, eine einzige blutige Masse.

      Aber am schlimmsten waren die Gesichter: Die Gewalt, mit der Maria die Köpfe der Kinder umzuformen versuchte, drückte auch ihre Augen heraus, sodass wir ihnen im Tod oft nicht einmal die Lider schließen konnten. Blicklos starrten sie uns an, anklagend. Und ihre kleinen, puppenhaften Münder klafften auf, wenn Maria ihnen die Lippen abgerissen hatte, oder schwollen zu Schmollmündern, wenn ihr das nicht gelungen war.

      Der Doktor hatte recht: Maria wollte kein neues Kind, sie wollte ihre Melissa zurück.«

      »Wie konnten Sie diese grausamen Morde zulassen? Waren Sie nicht entsetzt, erschüttert?«

      »Natürlich war ich das. Aber es war doch möglich, dass wir eines Tages Melissa finden würden, und dann wäre doch alles gut gewesen.

      Ist das nicht ein schöner Gedanke? Wie sehr diese Mutter ihr Kind liebte, trotz all seiner Unzulänglichkeiten, trotz der schrecklichen Behinderung, die auf die meisten Menschen sicherlich abstoßend gewirkt hatte? Eine solche Mutterliebe hat etwas Heiliges, und genau deshalb versuchten wir auch weiterhin, Maria ein Kind zu bringen, eine neue Melissa, die sie umsorgen konnte.

      Welch ein wundervolles Leben die Kleine hätte haben können!«

      Die Zeugin beginnt zu weinen.

      »Lassen Sie uns eine halbe Stunde Pause machen.«

      Pause

      »Ab wann waren Sie in die Verbrechen involviert?«

      »Warum nennen Sie es immerzu Verbrechen? Ich habe doch versucht, Ihnen zu erklären, warum wir das taten!«

      »Lassen Sie mich die Frage anders stellen. Ab wann … halfen Sie Dr. Bromer mit den Kindern?«

      »Nachdem ich die Sache mit dem Diebstahl der Medikamente – das ist übrigens ein echtes Verbrechen! – vertuscht hatte, wollte ich natürlich wissen, warum das notwendig geworden war.

      Ich vertraute vollkommen auf die Einschätzung des Doktors und war sicher, dass er einen guten Grund für sein Tun gehabt hatte, aber ich musste ihn mit meinen Fragen konfrontieren. Er dachte lange nach und bat mich schließlich, ihn am Abend in seinem Haus zu besuchen. Dort lernte ich Maria und Melissa kennen.«

      »Melissa? Meinen Sie eines der entführten Kinder?«

      »Nein, ich meine Melissa. Maria zeigte mir ihr Bild, der Doktor erzählte mir von ihr. Maria sah so glücklich aus, als wir über die Kleine sprachen.«

      »Was hat Dr. Bromer Ihnen alles erzählt?«

      »Er hatte nach der Katastrophe mit dem Baby, das er Maria aus dem Hospital mitgebracht hatte, lange nicht gewusst, was er nun tun sollte. Doch einige Monate später – mittlerweile hatte ich meine Arbeit in St. Maria aufgenommen – kam wieder eine Schwangere, eine Frau mittleren Alters. Sie überlebte die Geburt nicht.

      Sie schien keine Verwandten in der Gegend zu haben, und da die Frau krank gewesen war, ging es dem Neugeborenen zu schlecht, um es sofort dem Waisenhaus übergeben zu können.

      Dieses Kind hatte keine Chance auf ein normales Leben. Es erholte sich nur langsam von den Strapazen seines Eintritts in die Welt, konnte oder wollte nicht schreien, aß nur wenig und wuchs kaum. Eines Abends verkündete Dr. Bromer traurig, das Kleine sei gestorben, er habe es bereits abholen lassen, auf dass es in einem der Armengräber hinter dem Kloster bestattet würde.

      Später erzählte er mir, dass das eine Lüge gewesen war, er hatte das Kind mit nach Hause genommen, schließlich war es offensichtlich behindert, genau wie seine kleine Melissa. Maria würde es vielleicht annehmen.«

      »Das tat sie aber nicht?«

      »Natürlich nicht. Das neue Kind bekam die gleiche Behandlung wie das erste, und ebenso wie das erste starb es daran.

      Der Doktor wollte sich seiner Verzweiflung nicht einfach hingeben, es musste doch eine Möglichkeit geben, einem Kind mit den Beschwerden seiner Tochter ein annähernd normales Leben zu gewähren!

      Diesmal dauerte es nur wenige Wochen, bis die nächste Frau bei uns ein Kind gebar, das sie nicht haben wollte. Der Doktor musste nicht einmal lügen, um es zu bekommen: Alles lief vollkommen glatt und schon nach wenigen Tagen konnte er Mutter und Kind gesund und munter nach Hause schicken.

      Nun, eher nicht munter, denn offenbar hatte


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