Der Fluch der Dunkelgräfin. Simona Turini

Der Fluch der Dunkelgräfin - Simona Turini


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merkwürdigen Traumbildern nichts anfangen. Sie spürte ihnen nach, wartete darauf, dass sie verblassten, aber das geschah nicht. Ihr Badewasser war längst kalt geworden, sie fröstelte. Also erhob sie sich widerwillig, trocknete sich ab und begab sich zu Bett.

      Schlafen konnte sie nun jedoch nicht mehr, zu sehr hing ihr die grauenhafte Szene in jenem Schlafzimmer nach, klar und deutlich, aber nach wie vor rätselhaft. Sie spürte eine merkwürdige Vertrautheit, wenn sie an die Hebamme dachte, an die Gebärende, an den verzweifelten Vater. Reiche Leute in einem reichen Hause – das kannte sie eigentlich nur aus ihrer Gefangenschaft. Ihre Eltern hatten bescheiden in einer kleinen Hütte gelebt. Und ihr Bewacher – ganz und gar nicht bescheiden – führte kein offenes Haus. Im Gegenteil, die Villa mit den üppigen Ländereien war nahezu verwaist.

      Ansonsten kannte sie niemanden.

      III

      Sofia hatte versucht, mit ihrem Bewacher über den merkwürdigen Traum zu sprechen. Doch er hatte sie angewiesen, zu schweigen. Sie würde nun einige Tage nicht das Wort an ihn richten dürfen. Erst, wenn er sie wieder ansprach, war die Zeit der Stille vorbei. Diese Art der Züchtigung fürchtete sie am meisten: das Schweigen.

      Der unheimliche Dienstbote ihres Bewachers sprach sowieso niemals mit ihr. Es war, als verlöre er seine Zunge, sobald sie den Raum betrat. Doch sei es, wie es sei: Für die nächsten Tage, wenn nicht gar Wochen, würde sie in Stille leben müssen.

      Zum Glück hatte ihr Wächter eine beeindruckende Sammlung an Schriften der modernen Denker zusammengetragen, mit denen er sich die Zeit vertrieb und aus denen er ihr Unterricht erteilte. Auch ihr war es erlaubt, sich damit zu zerstreuen, und so wollte sie die trüben Stunden damit verbringen, über ihre Träume nachzusinnen, in der Hoffnung, zwischen all den Büchern eine Antwort auf die Rätsel zu erhalten, die sie so plagten.

      Also begab sie sich in die Bibliothek des Herrenhauses. Es war ein weitläufiger Raum mit großen Fenstern, rundum gesäumt von deckenhohen Regalen voller Bücher: Dicke Bände, in Leder gebunden, wechselten sich ab mit kleineren Werken in Leinen, Texten auf dünnem Papier und stapelweise Briefen. In einem Schrank in einer Ecke lagerten Karten, säuberlich zusammengerollt und beschriftet.

      Nachdenklich schritt sie die Regalreihen entlang und ließ die Finger über die Buchrücken gleiten. Ein tröstliches Gefühl überkam sie, als ihr wieder einmal gewahr wurde, dass dies ihre Gefährten waren. Bücher, so hatte sie es längst gelernt, eröffneten dem Leser die Welt, eröffneten viele Welten. Jedes Buch ein Freund gegen die Einsamkeit. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht.

      Wahllos zog sie einen Band aus dem Regal. Sie kannte das Buch nicht und konnte auch die alte, geschwungene Schrift nicht entziffern. Dennoch blätterte sie ein wenig darin, stellte es dann zurück und schlenderte weiter. Wo sollte sie nur beginnen?

      Es war ein trüber und kühler Nachmittag, daher hatte der Dienstbote am Morgen den Kamin angefeuert. Sie ließ sich in einem der großen Ohrensessel am Feuer nieder, um ihr weiteres Vorgehen zu planen. Da fiel ihr Blick auf ein Buch, das auf dem kleinen Beistelltisch lag. Es war sch­m­al und abgegriffen, gebunden, aber ohne Titel. Neugierig nahm sie es und wollte es aufschlagen, doch es war mit einem winzigen Schloss gesichert.

      Ihr Blick wanderte zurück zum Tischchen. Kein Schlüssel. Sie stand wieder auf, begab sich an die Regale, prüfte die wenigen Schubladen im Zimmer, fand aber bei ihrer halbherzigen Suche nichts.

      Irgendetwas an dem Buch faszinierte sie. Es mochte ein altes Tagebuch sein. Vielleicht hatte ihr Bewacher darin geschrieben und es dann vergessen?

      Sie wollte es lesen, koste es, was es wolle. Und um das tun zu können, musste sie es gut verstecken. Als Sofia sich umwandte, um in ihr Schlafzimmer zurückzukehren, stand vor ihr der unheimliche Dienstbote ihres Bewachers. Er blickte ruhig auf das kleine Buch in ihrer Hand, dann in ihre Augen, wieder mit dieser seltsam anstößigen Trauer im Blick. Schnell versteckte sie das Bändchen in den Falten ihres Kleides, straffte die Schultern, hob trotzig das Kinn und stolzierte an ihm vorbei. Er sollte es bloß nicht wagen, ihr ihren Schatz abzunehmen!

      Zurück in ihrem Zimmer wollte sie das kleine Schloss öffnen, scheiterte aber bei all ihren Versuchen und gab es schließlich auf, um das Buch nicht zu beschädigen.

      IV

      Der dunkle Herr lachte, ein Laut, der Sofia Schauer durch den ganzen Körper jagte. Sie presste ihre Hände auf die Ohren, aber das Lachen des Herrn ebbte nicht ab, wurde nicht gedämpft, dröhnte nur noch lauter in ihrem schmerzenden Schädel.

      Sie kniff die Augen zusammen, wollte fliehen, und stand doch starr und wie angewurzelt vor der Szene, die sich ihr bot. Jedes Detail brannte sich auf ewig in ihre Erinnerung.

      Da standen sie, zwei Männer, einer groß, schlank, ganz in Schwarz gewandet und unheimlich anzusehen; einer kleiner, rundlich, offenbar vor Angst bebend. Der Kleinere, der Vater, wie sie erkannte, hielt ein Kind im Arm, ein Baby noch, und doch nicht, es schien in Wahrheit ein älteres Kind zu sein, schaute mal mit blassen Säuglingsaugen in die Welt, mal mit den dunkleren eines Schulkindes. Seine Gestalt schien zu wabern und sich stetig zu verändern. Ein verwirrender Anblick, den Sofia nicht lange ertrug. Klein und nackt schmiegte es sich in den Arm des Vaters und lutschte seelenvoll am Daumen.

      Zwischen den beiden Männern lag eine Frau am Boden, vollkommen reglos und so bleich wie eine Statue. Um sie herum ein See von Blut. Keiner der Männer beachtete die Frau, Sofia fürchtete, jeden Moment könnte einer von ihnen einen Schritt machen und auf sie treten.

      Der Vater reichte dem dunklen Herrn das Kind, das auf dessen Arm endgültig kein Säugling mehr war, sondern nun ganz und gar und beständig ein Mädchen von vielleicht sechs Jahren.

      Das Mädchen schaute sie an, blickte mit großen wasserblauen Augen direkt in Sofias. Dann wandten sich auch die Köpfe des dunklen Herrn und des Vaters ihr zu. Auf dem Gesicht des Herrn breitete sich ein hämisches Grinsen aus, auf dem des Vaters eine verzerrte Grimasse der Angst.

      Ein Geräusch weckte sie aus dem wirren Traum und erschrocken stellte sie fest, dass es bereits heller Tag war. Sonst schlief sie niemals so lange. Sie richtete sich auf und blickte sich nach der Quelle des Geräusches um, das sie aufgestört hatte.

      Ein neuer Schreck durchfuhr sie: Es war der Dienstbote, der unheimliche Alte. Er stand neben der Tür, die er offenbar gerade geschlossen hatte und blickte sie stumm an. Sie zog die Decke bis zu ihrem Hals, ein schwacher Versuch, sich zu schützen.

      Der Alte kam langsam näher, trat an ihr Bett, wo er erneut stehen blieb und auf sie herabschaute. Sie bebte innerlich. Was ging denn nun schon wieder vor? Sollte er sie holen, sie zum Bewacher bringen? Oder wollte er ihr gar selbst etwas antun? Sie straffte sich und machte sich bereit, ihn ihrer Rolle gemäß anzuherrschen – und sei es nur gespielt, um ihre Furcht nicht nach außen dringen zu lassen. Da streckte er die Hand aus und hielt ihr einen kleinen Schlüssel hin, ein winziges Ding aus Silber, das an einer feinen Kette hing.

      Sie zögerte, starrte wie hypnotisiert auf das Schmuckstück. Da legte der Dienstbote den Schlüssel auf ihr Nachtkästchen, verbeugte sich kurz und verließ ihr Zimmer.

      Hastig sprang sie aus dem Bett. Das Frühstück würde heute ausfallen müssen, sie hatte zu lesen. Mit zitternden Fingern klaubte sie das Tagebuch aus dem kleinen Schubfach an ihrem Schreibpult. Kein sehr gewitztes Versteck, das wusste sie selbst, aber da ihr Bewacher ihre Räume niemals betrat, hatte sie angenommen, dass es genügen würde.

      Sie legte das Buch auf das Pult und schloss es auf. Seite um Seite war eng beschrieben, die Schrift einfach, schmucklos und klein. Sie hatte keine Mühe, sie zu entziffern. Dennoch blätterte sie das Büchlein erst rasch durch, ehe sie zu lesen begann. Ein paar Zeichnungen waren eingestreut, roh und dilettantisch ausgeführt, aber das Motiv klar erkennbar: Eine Frau, die melancholisch in die Ferne blickte, ein Halbprofil, dessen Proportionen nicht stimmten. Die Frau kam ihr merkwürdig bekannt vor, doch sie konnte sie nicht zuordnen.

      Das war nicht das Buch ihres Bewachers. Zumindest hatte er es nicht geschrieben: Seine Schrift war verschnörkelt und kunstvoll, mit großen Buchstaben und weiten Abständen, eine ausladende Schrift, die ganz seinem Wesen entsprach. Auch die Zeichnungen


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