Der Fluch der Dunkelgräfin. Simona Turini

Der Fluch der Dunkelgräfin - Simona Turini


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in Menschengestalt.

      Alle Entscheidungen Fehler, alle Timings beschissen, alle Entschuldigungen müßig.

      Um mich herum sterben alle wie die Fliegen. Auch wenn mich keiner mehr dafür verantwortlich macht – damit haben sie vor ein paar Wochen aufgehört, als mein Leiden allzu offenbar wurde – fühle ich mich nach wie vor schuldig.

      Nur wegen mir mussten Abstriche gemacht werden, Pläne über den Haufen geworfen, Treffen vertagt und Lager verlegt werden. Das war nie meine Absicht, und ich sehe auch jetzt nur bedingt meine Schuld – ich bin es nicht, die diese Krankheit in die Welt gebracht hat.

      Im Gegenteil: Ich bin die, die dagegen gekämpft hat, von Anfang an, und die am nächsten daran war, ein Heilmittel zu finden. Aber dann hat es IHN erwischt, und nun bin ich es, die misstrauisch beäugt und der kein Wort mehr geglaubt wird.

      Weil ER mir so nahe war.

      Weil ER mich verraten hat.

      Die Krankheit hat ihn erwischt, es ging sehr schnell zu Ende. Und sie glauben, dass er sie von mir hat. Weil ich sie jetzt auch habe. Dass es umgekehrt hätte sein können, dass ER es gewesen sein könnte, der mich angesteckt hat, das will nun natürlich keiner in den Raum stellen.

      Es wäre Frevel.

      Zwar habe ich ihn in die Gruppe eingeführt, habe ihn aus dem Wald geholt, als er kurz vor dem Verhungern war, aber dennoch haben sie sich sofort enger an ihn gebunden, als sie es jemals bei mir gekonnt hätten.

      Dabei ist er doch viel bösartiger als ich.

      Wo ich nach den Regeln spiele, bricht er sie mit Genuss. Wo ich Verständnis und Liebe als einzigen Ausweg sehe, wendet er sich hasserfüllt ab.

      Das konnte er immer am besten: Menschen hinter sich lassen.

      In einer Welt, die faktisch längst untergegangen ist, in der jeder gegen jeden kämpft, kommt so etwas einem Todesurteil gleich. Das heißt, eigentlich hat er getötet.

      Glaube ich.

      Beweisen kann ich nichts, denn die anderen haben es durchgezogen, haben verstoßen, haben abgelehnt.

      Jetzt eben mich.

      Weil er es verlangt hat, bevor er starb.

      Dumm nur, dass sie mich ausgerechnet jetzt hier darben lassen, wo ich doch ein Heilmittel gefunden habe.

      Versteht mich nicht falsch: Es geht mir nicht um Rache. Das wäre ja kleinlich. Es geht mir ums Prinzip: Wer Menschen hinter sich lässt, sterben lässt, allein und elend, der verdient keine Rettung. Finde ich zumindest.

      Also, na ja, Rettung sollte man sich nicht verdienen müssen, Mensch sein sollte ausreichen. Aber wie viel Mensch steckt denn noch in diesen Leuten, die andere aus ihrer Mitte verstoßen, sobald die einen Fehler begehen, egal wie klein? Die ganz willkürlich und unfair Urteile sprechen?

      Ich werde das Heilmittel nicht nehmen. Ich habe es getestet, ich weiß, dass es funktioniert. Doch ich werde sterben, und die Lösung unserer Misere nehme ich mit ins Grab.

      Das Prinzip. Ihr versteht.

      Jetzt liege ich hier auf meiner dreckigen Matratze, die so sehr stinkt, dass mir andauernd übel ist, und die von so viel Ungeziefer bewohnt wird, dass ich nicht mehr unterscheiden kann, welcher Teil meines Körpers juckt und welcher nicht, und soll dankbar sein für den Luxus, überhaupt eine Unterlage zu haben.

      In meiner Brust spüre ich die Seuche, wie sie mich übernimmt. Wie sie Besitz von mir ergreift, wie sie meine Brust zusammendrückt, schmerzhaft.

      Ich kann spüren, wie mein Herz schrumpft.

      Der Fluch

      der Dunkelgräfin

      Es gibt zwei Arten von Geschichte: die offizielle, lügenhafte Geschichte, und dann die geheime, wo die wahren Ursachen der Ereignisse liegen.

      Victor Hugo

      I

      Regentropfen sammelten sich in ihrem Haar und liefen über ihr Gesicht. Sie erlaubte sich ein paar Tränen – er konnte sie jetzt nicht sehen. Und selbst wenn: Ihr Kummer brächte ihn höchstens zum Lachen. An einer Weggabelung unter einer Gruppe Erlen blieb sie stehen und schaute zurück zu dem großen Haus. Da stand er, lauerte regelrecht, mit seinem Fernglas und dem Gewehr.

      Sie beschützen – ha! Welche Farce! Nicht beschützen wollte er sie. Er bewachte sie. Ein Beschützer würde nicht all die Dinge tun, die er ihr Abend für Abend antat, egal, wie sehr sie bettelte und flehte, egal, wie sie sich verhielt: Er tat es, wenn sie ruhig und gefügig war, er tat es, wenn sie sich zur Wehr setzte. Er tat es, wenn sie ihrer Verzweiflung freien Lauf ließ, und er tat es, wenn sie ihr Schicksal resigniert annahm.

      Niemals veränderte sich dabei seine steinerne Miene, niemals variierte das Maß an Grausamkeit, die er ihr angedeihen ließ.

      Er erschien ihr schon lange nicht mehr menschlich. Ein Dämon, das war er. Ein Unwesen aus den tiefsten Tiefen der Hölle, ein übermächtiges Monstrum, gesandt, sie zu quälen und ihre Seele zu zerreißen.

      Er winkte sie nach links, also wandte sie sich wieder um und nahm den rechten der beiden Pfade.

      Ihr waren die Geschichten um ihre Person wohlbekannt, erzählte er ihr doch immer den neusten Klatsch und Tratsch, der ihm in Briefen mitgeteilt wurde. Der schweigsame Diener des Hauses konnte sich im Gegensatz zu ihr und ihrem Bewacher relativ frei bewegen – er wurde immer vorausgeschickt, wenn sie neue Wohnung nehmen mussten oder Besorgungen zu erledigen waren. Er brachte ihr auch schöne Kleider und erlesenen Schmuck, den der Bewacher für sie auswählte. Sie schwelgte in einem märchenhaften Luxus, was ihr ihre Situation aber nicht erleichterte. Vielmehr wurde ihr nur noch schmerzhafter bewusst, wie einsam sie war, ohne Kontakt zu anderen Menschen, ohne Liebe oder freundliche Worte.

      Die französische Königstochter sei sie, so munkelte man, irre geworden nach den Wirren und Grausamkeiten der Revolution und nach dem tragischen Verlust der Familie. Eingekerkert und dann ausgeliefert, unterwegs ersetzt durch eine Doppelgängerin, aber der Mutter zu ähnlich, um je wieder ohne Schleier das Haus verlassen zu dürfen. Nervenschwach und deprimiert, in ständiger Gefahr durch die Gegner der Monarchie und zur Flucht quer durch das Land gezwungen.

      Wie gerne wäre sie wirklich dieses bedauernswerte Geschöpf! Wie gerne würde sie tauschen und den Platz der Madame Royale einnehmen! Aber sie war nur die arme, ganz und gar nicht adlige Sofia Botta, eine Frau ohne Vergangenheit.

      Die Eltern enthauptet? Der Bruder in Elend und Wahnsinn verreckt? Selbst eingesperrt und den schmutzigen Gelüsten der Wachen ausgeliefert? Dankend würde Sofia dieses Schicksal annehmen, bliebe ihr dafür das ihrige erspart.

      Über die Gründe ihrer Gefangenschaft wusste sie nichts.

      Mit langsamen Schritten durchmaß sie den Park, der sich zu allen Seiten des großen Herrenhauses erstreckte. Hinter einem Haselstrauch sank sie in das weiche, saftige Gras. Es ziemte sich für eine Dame nicht, am Boden zu sitzen, schon gar nicht in dem teuren und überaus empfindlichen Seidenkleid, das sie trug, aber hier war niemand, der sie sehen konnte, nur der allgegenwärtige Bewacher auf dem Balkon.

      Gedankenverloren zupfte sie ein paar der regenfeuchten Halme aus der Erde und verzwirbelte sie zwischen ihren Fingern. Die Einsamkeit lag wie eine schwere, klamme Decke auf ihrem Gemüt. Sie erinnerte sich nur noch schwach an die Zeiten, als ihr Leben ein anderes gewesen war, ein Leben gewesen war: Sie mit Vater und Mutter in dem kleinen Bauernhaus nahe dem Wald. Sie hatten bescheiden gelebt, nur sie drei, mit ihren Kühen und Hühnern und genährt von ein paar Feldern, die die Eltern allein bewirtschaften konnten. Gottesfürchtig waren sie gewesen, eine fromme Familie, und fröhlich. Doch statt Trost und Hoffnung zu spenden, machten ihr die wenigen Erinnerungen die Gegenwart nur noch unerträglicher.

      Wie oft hatte sie am Fenster im obersten Stock der Villa gestanden, nahe daran, ihr Elend zu beenden. Wie oft hatte sie am Ufer des Sees im Park gesessen, den Kopf voller


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