Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche. Guido Fuchs

Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche - Guido Fuchs


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und Entzünden einer Kerze gehören dazu. Die Hinwendung zu anderen Menschen ist dennoch nicht ausgeschlossen: „Nachdem Sie die heiligen Ikonen verehrt haben, können Sie Bekannte begrüßen und ihnen zum Festtag gratulieren, wenn gerade kein Gottesdienst stattfindet.“ Nichtorthodoxen Gästen und Gläubigen, die mit den Riten nicht vertraut sind (und dadurch auffallen), wird gern geholfen, wobei man ihnen auch die „korrekte“ Bekreuzigung und Verneigung zeigt.

       Beiläufiges, gedankenloses oder ungehöriges Tun

      Trotz der graduellen Unterschiede in den einzelnen Konfessionen gehört es zum angemessenen Verhalten beim Betreten einer Kirche, eine Reverenz gegenüber Gott zu machen, um damit die Besonderheit des Ortes anzuerkennen. Durch die allgemeine Veränderung der „Grußriten“ kann man im Unterlassen des einen oder anderen Tuns dabei nicht grundsätzlich von einem schlechten Benehmen ausgehen. Möglicherweise kann die rituell reduzierte Form des Betretens einer Kirche im evangelischen Bereich kaum mehr als ein religiöses Tun wahrgenommen werden. Es kann „beiläufig“ wirken. Doch nicht alles, was unterlassen wird, ist schlechtem Benehmen zuzuordnen, und wiederum ist manches, was nach Andacht aussieht, nur äußerlich oder – wie es Guardini forderte – langsam.

      image Was tat man zum Beispiel, wenn man die Vorhalle glücklich betreten und weiter durch eine Tür im hohen Gitter ins Hauptschiff wollte? Man ging vorsichtig und langsam, die Mütze in der Hand, hindurch und näherte sich dem Weihwasserbecken ganz rechts am großen ersten Pfeiler im Hauptschiff. Dann streckte man Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand aus und führte sie (wieder: vorsichtig und laaang-saam) in das geweihte Wasser. Das geschah nicht zu tief, sondern so, dass man das Wasser höchstens streifte und die beiden Finger damit benetzte. Danach führte man sie zunächst an die Stirn und machte dann mit ihnen das Kreuzzeichen, indem man sie gegen die Brust und die Schultern rechts und links führte. Nicht zu schnell das alles, laaang-saam (in einem Gotteshaus gingen auch die Uhren anders, sie tickten nicht, sondern standen still)! Und danach nicht gleich weitergegangen oder gar forsch durch das Hauptschiff, nein, jetzt ging es darum, sich andächtig zu zeigen. Die Andacht bestand in einem längeren Verweilen, still, auf der Stelle. Ich konnte dazu auch eine Bank aufsuchen und mich niederknien (auf keinen Fall hätte ich mich jedoch sofort auf die Bank setzen dürfen, als wäre ich zu matt oder zu lustlos, den Parcours fortzusetzen). Hätte ich eine Bank aufgesucht und niedergekniet, hätte das die Andacht um einige Minuten verlängert, denn schließlich kniete man sich nicht in eine Bank, um sie nach kurzem Niederknien rasch wieder zu verlassen.

       (Hanns-Josef Ortheil, Was ich liebe – und was nicht, 2018)

      Neben der Verflachung bzw. Verkürzung der Riten gibt es aber auch Fehlformen. Der Eingangsbereich ist gerade in katholischen Kirchen ein besonderer Ort, weil sich dort auch das Weihwasserbecken befindet, von dem nicht jede(r) weiß, was es damit auf sich hat. So kann man in katholischen Kirchen durchaus erleben, dass Gläubige sich mit dem Weihwasser bekreuzigen, danach etwas Weihwasser auf den Boden spritzen: für die armen Seelen – möglicherweise das Relikt aus dem antiken Brauch einer Libatio, bei der man u. a. im Totenkult etwas Wein aus dem Becher vor dem Trinken auf den Boden goss (für die Götter). Ein Tun, das mehr oder weniger gedankenlos vollzogen wird (leider auch bei der Kommunion zu erleben – vgl. S. 35).

      Da kann man aber auch lesen, dass Kinder, die vor der Kirche gespielt haben, sich danach im Weihwasserbecken die Hände gewaschen hätten oder jemand gar seinen Hund daraus saufen ließ (S. 111). Sogar von Urinieren in das Weihwasserbecken ist die Rede – und dass ein trockenes Weihwasserbecken als großer Aschenbecher benutzt wurde und ausgedrückte Kippen enthielt, konnte ich selbst einmal sehen.

      image Die beiden hatten Andreas nicht bemerkt. Er folgte ihnen in einigem Abstand in die Kapelle. In der Hand hielt er immer noch die Zigarettenkippe. Beinahe hätte er sie in das Weihwasserbecken neben dem Eingang geworfen.

       (Peter Stamm, An einem Tag wie diesem, 2010)

      Nicht zuletzt um bei solchem Tun rechtzeitig einschreiten zu können, ist in größeren und viel besuchten Kirchen das Aufsichtspersonal gleich am Eingang postiert.

       Geordnetes Betreten

      „Was ist da katechetisch falsch gelaufen?“, fragte der Pfarrer in seiner oben zitierten E-Mail. Tatsächlich wurde früher auch dem Betreten des Gotteshauses besondere Aufmerksamkeit gewidmet, vor allem in der katechetischen Unterweisung von Kindern. In einer Schulzeitschrift von 1874 heißt es: „Wie Alles, was zum Dienste Gottes gehört, groß ist, und es Nichts dabei gibt, was keiner besonderen Beachtung verdiente, so auch das ganze Benehmen der Kinder, nachdem sie in die hl. Räume des Gotteshauses eingetreten sind. Es soll mit allem Eifer und Nachdrucke darauf gesehen und hingearbeitet werden, daß die Kinder von der dem Hause Gottes gebührenden Ehrfurcht durchdrungen werden. Daß sie dieses sind, soll schon ihr Eintreten in die Kirche wie ihr Hinausgehen, ihr ganzes Benehmen und ihre Haltung während des Gottesdienstes beurkunden.“

image

       Hinweis in der Kirche St. Peter und Paul, Würzburg

      Das Betreten und Verlassen der Kirche erscheint so als ein problematischer Vorgang, der bei Kindern und Jugendlichen eines besonderen Augenmerks bedarf – das Verhalten der Schüler während des Gottesdienstes aber nicht weniger, wie an anderer Stelle ausführlicher dargestellt wird (Kapitel 14).

      Für kirchlich nicht sozialisierte Besucher sind – wie oben dargestellt – äußerliche Dinge maßgeblich, wie etwa das Abnehmen der Kopfbekleidung (bei Männern) oder die entsprechende Bekleidung, wie sie auch auf Piktogramm-Hinweisen dargestellt werden. Da Kirchen inzwischen auf viele Menschen den Eindruck eines musealen Raumes machen, ändert sich auch das Verhalten beim Betreten und Verweilen in ihnen. Das hat den Schriftsteller Alois Brandstetter auf einen – wohl nicht ganz ernst gemeinten – Gedanken gebracht:

      image Es gibt viele religiöse und auch praktische Gründe für gutes Benehmen in der Kirche! Das gälte meiner Ansicht nach nicht nur für das Kirchenbesuchen, sondern auch für das Kirchebesichtigen. Ich würde, wäre ich Rektor einer wertvollen Kirche, von den Besuchern weniger Eintrittsgeld verlangen, als vielmehr eine Aufnahme- oder Einlaßprüfung. Wer die Kirche betritt, müßte etwa bei einem Ostiarier die Kenntnis jener fünf Gebete der Christenheit, die im Weißenburger Katechismus aus dem 9. Jahrhundert zusammengefaßt sind, nachweisen. Ob einer nun das Athanasianische, das Apostolische oder das Niceno-Constantinopolitanische Credo oder Symbolum aufsagen oder beten möchte, würde ich dahingestellt sein lassen. Aber so ganz ohne Anstrengung sollte man ein Gotteshaus nicht betreten dürfen. (Alois Brandstetter, Schönschreiben, 1997)

       3. Nicht Zeit-gemäß

      Zuspätkommen und verfrühtes Gehen

      „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Dieser berühmte Satz, den Michail Gorbatschow tatsächlich wohl nie gesagt hat, hätte im 5. Jahrhundert in Syrien möglicherweise so gelautet: Wer zu spät kommt, den bestraft der Diakon! Denn hier gab es – und das belegt eine Kirchenordnung aus ebendieser Zeit und Region – den Brauch, die Kirche nach Beginn des Gottesdienstes zu schließen. Wer zu spät kam, musste warten, ähnlich wie heute im Theater, wenn der erste Akt bereits begonnen hat. Erst zum Allgemeinen Gebet, den Fürbitten, wurde die Kirche geöffnet, und der Diakon „strafte“ die Zuspätkommenden auf subtile Weise, indem er eine Fürbitte für sie einschob, in der er vor aller Ohren um Besserung für diese Sünder bat …

      Zu den ältesten Verstößen gegen das angemessene Benehmen im


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