Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche. Guido Fuchs

Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche - Guido Fuchs


Скачать книгу
Glaubens und der Gemeindezugehörigkeit war, betraf dieses Verhalten auch die Gemeinschaft der Gläubigen. Diese Selbstverständlichkeit der Teilnahme am Gottesdienst änderte sich freilich in den folgenden Jahrhunderten, wie Adolf von Harnack schrieb: „Wo das Christsein zur Gewohnheit geworden war, zeigten sich schon im 3. Jahrhundert Überdruss am Kirchengehen, daher Versäumnis des Gottesdienstes, Entweihung des Gottesdienstes durch Allotria und Geschwätz, vorzeitiges Verlassen der Versammlung, Kirchenbesuch nur an Festtagen u. ä.“ (Die Mission und Ausbreitung des Christentums, 1915).

      In späteren Jahrhunderten mag auf katholischer Seite die Betonung der Wandlung als des Höhepunktes der Messe mit ein Grund für späteres Kommen und früheres Weggehen gewesen sein. Der heute „Wortgottesdienst“ genannte erste Teil der Messe konnte, als „Vormesse“ bezeichnet, auch den Eindruck des nicht so wichtigen Teils des Gottesdienstes erwecken. Bei Wallfahrtsgottesdiensten konnte oft noch bis zum Evangelium gebeichtet werden.

       Zuspätkommen

      Das Zuspätkommen zum Gottesdienst wird durchgängig als Unart gesehen. Es sind mehrere Aspekte, die dabei eine Rolle spielen. Die Vorstellung, dass die Gottesdienstgemeinschaft erst durch das Zusammenkommen aller zustande kommt, wird in jüngerer Zeit wieder in den Blick genommen; das Zuspätkommen konterkariert dieses Verständnis. Es kommt auch vor, dass manche Menschen gern später kommen, um aufzufallen und sich dadurch bewusst außerhalb der Gemeinschaft oder über die anderen zu stellen. Schließlich richtet es sich gegen die Pünktlichkeit, die wiederum in vielen Gesellschaften ein Ausdruck der allgemeinen Ordnung ist – wie es schon in der Benediktsregel dargestellt wird, wo sich das 43. Kapitel ausführlich mit dem Zuspätkommen beim Gottesdienst und bei Tisch befasst. Zuspätkommen gehört sich also aus verschiedenen Gründen nicht.

      „Die Gemeinde versammelt sich. Darauf tritt der Priester an den Altar.“ So lautet der erste Satz der „Feier der Gemeindemesse“ im Deutschen Messbuch von 1975. Das Zusammenkommen konstituiert die Gemeinschaft als Trägerin des Gottesdienstes. Es passt, dass in der Folge des II. Vatikanischen Konzils unter diesem Aspekt auch die Versammlung zum Gottesdienst neu gesehen wurde, als eine Begegnung mit dem Herrn, eine Begegnung mit der Gemeinschaft der Gläubigen, ohne die man auf Dauer nicht Christ sein kann. „Komm her, freu dich mit uns, tritt ein … an des Herrn Gemeinschaft nimm teil“, heißt es in einem Lied im katholischen Gesangbuch. Das Zuspätkommen zum Gottesdienst verstößt gegen dieses Verständnis und ist nicht nur eine schlechte Angewohnheit oder die berühmte „katholische Krankheit“, wie man früher sagte. Mit dem Zuspätkommen bringt man sich vielmehr um die Frucht des Gottesdienstes.

      Bischof Caesarius von Arles, sicher einer der begabtesten Prediger in der frühmittelalterlichen Kirche, benutzte das Bild der Biene, die emsig zu ihrer Arbeit fliegt, um den Gläubigen die Bedeutung des Gottesdienstes und der pünktlichen Teilnahme daran ans Herz zu legen: Der Zuspätkommende versäumt die Schriftlesungen des Wortgottesdienstes, in dem die Zellen im Inneren der Gläubigen zur Aufnahme des heiligen, himmlischen Honigs in der nachfolgenden Eucharistie vorbereitet werden (Sermo 207).

      Die Pünktlichkeit der Gottesdienstteilnehmer wurde und wird daher immer wieder eingefordert – auch um die Kirchenzucht insgesamt zu stärken. In seinem Buch „Aus dem Priester- und Seelsorgleben“ rät Johann Baptist Buohler Mitte des 19. Jahrhunderts: „Der Gottesdienst muß zur festgesetzten Stunde beginnen. Oder wozu hat man sonst eine bestimmte Stunde festgesetzt? Der Gesetzgeber muß zuerst das Gesetz strenge halten; rüttelt er selbst an demselben, so wird bald jeder Kirchgänger sich Freiheiten erlauben, welche die größte Unordnung herbeiführen. Die nachlässigen und faulen Kirchgänger kommen dann immer noch später und laufen in die Kirche hinein, wann es ihnen beliebt, die fleißigen aber ärgern sich, weil sie über Gebühr warten müssen und schlagen sich zuletzt auch zu den Faulen. […] Es gibt nämlich in jeder Gemeinde Personen, denen das Zuspätkommen zur zweiten Natur geworden ist. Diese Unnatur muß aber ein ordnungsliebender Seelsorger mit Liebe oder mit Ernst solch eigensinnigen Köpfen austreiben. Die passenden Mittel muß jeder Seelsorger nach den Bedürfnissen seiner Gemeinde selbst ausfindig machen.“

      Ein in jedem Fall passendes Mittel ist das gute Vorbild. Der Pastoraltheologe und spätere Regensburger Bischof Johann Michael Sailer bemühte sich schon in seinen „Vorlesungen aus der Pastoraltheologie“ (1788/89), den Priestern die Notwendigkeit des pünktlichen und gemeinsamen Beginns des Gottesdienstes ans Herz zu legen. Die Priester sollen dabei Vorbild sein und der Gemeinde auch die Bedeutung der Pünktlichkeit immer wieder ans Herz legen: „Um einer großen Gemeinde das pünktliche Zusammentreffen bei dem Anfange des Gottesdienstes möglich zu machen, sorget der Liturg, daß die Glockenzeichen, die er nach den Bedürfnissen des Volkes festgesetzet, ordentlich gegeben werden. […] Wenn die Glocken zusammenschlagen, dann wissen alle Pfarrgenossen: jetzt fängt der Gottesdienst an, und mit dem letzten Schlage steht der Priester schon am Altare. Denn das Beispiel der Pünktlichkeit, das der Pfarrer giebt, muß dem Geläute erst Nachdruck verschaffen. Die Kraft des Glockenklanges, die das empfängliche Gemüth wohl fühlet, so wie die Bestimmung der Glocken, weiß der Liturg, bei gegebenen Anlässen, der Gemeinde nahe zu legen.“

      Es wundert nicht, dass die Pünktlichkeit des Kommens sowie das Bleiben bis zum Ende des Gottesdienstes auch immer wieder in den Beichtspiegeln (der Gebet- und Gesangbücher) angefragt wurden: „Bin ich zu spät gekommen oder zu früh fortgegangen?“ – „Habe ich an Sonn- und Feiertagen die heilige Messe aus eigener Schuld versäumt? Habe ich nur äußerlich daran teilgenommen? Bin ich zu spät gekommen? Zu früh weggegangen? Bin ich in der Kirche ehrfurchtslos gewesen?“

      Auch auf diese Weise konnte die Bedeutung der gemeinschaftlichen Feier eingeschärft werden. Im katholischen Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob“ von 1975 wie auch von 2013 spielen die Fragen nach Zuspätkommen und Zufrühgehen keine Rolle mehr in den Beichtspiegeln – vielleicht auch ein Beleg dafür, dass dies in jüngerer Zeit nicht mehr so oft vorkommt wie früher.

       Sich schämen – und sich bessern

      Um die Pünktlichkeit und den gemeinschaftlichen Beginn zu gewährleisten, griff man mancherorts zu drastischen Maßnahmen. So wurden nach Beginn des Gottesdienstes die Türen verschlossen, um Zuspätkommende zu kontrollieren und auch vorzeitiges Gehen zu verhindern. Wie schon eingangs dieses Kapitels beschrieben, war es dem Diakon vorbehalten, Einlass zu gewähren, wie es in der Kirchenordnung „Testamentum Domini“ aus dem 5. Jahrhundert beschrieben ist: „Wenn jemand zum Morgenlob oder zur Eucharistiefeier zu spät kommt, so muss er draußen bleiben, wer immer er sei, und der Diakon darf ihn nicht eintreten lassen […], damit das Zuspätkommen die nicht störe, die beten wollen. Wenn der Spätankömmling die Tür verschlossen findet, soll er aus den genannten Gründen nicht an sie klopfen. Wenn der erste Teil des Morgenlobes vorüber ist, kann der Zuspätgekommene – Mann oder Frau – eintreten, und der Diakon wird bei der Darbringung oder beim Morgenlob so sprechen: ‚Für den Bruder, der zu spät gekommen ist, bitten wir, dass Gott ihm Eifer und Ernst gebe, dass er ihn von allen Banden dieser Welt befreie und guten Willen gebe, mit Liebe und Hoffnung‘“ (Test. Dom. I, 36, 2–3).

      Ganz ähnlich findet man diese Einstellung gegenüber den Säumigen auch in der Regel des heiligen Benedikt; wer zu spät zum Gottesdienst kommt, wird vor den Mitbrüdern herausgestellt, um sich zu schämen und zu bessern: „Kommt einer zu den Vigilien erst nach dem ‚Ehre sei dem Vater‘ des Psalmes 94 […], darf er nicht an seinem Platz im Chor stehen. Vielmehr stehe er als Letzter von allen oder auf dem Platz, den der Abt für so Nachlässige abseits bestimmt hat, damit sie von ihm und von allen gesehen werden. Dort bleibe er, bis er am Schluss des Gottesdienstes öffentlich Buße getan hat. Wir lassen die unpünktlichen Brüder bewusst auf dem letzten Platz oder abseits stehen, damit sie von allen gesehen werden, sich schämen und deshalb sich bessern“ (RBen. 43). – Das sind Maßnahmen, die heute in einem Gemeindegottesdienst nicht möglich wären. Wer so herausgestellt würde, käme wohl in Zukunft gar nicht mehr.

       Vorzeitiges Verlassen des Gottesdienstes

      Das vorzeitige Verlassen des Gottesdienstes wurde ebenso angemahnt wie das Zuspätkommen.


Скачать книгу