SONNENBRAND. Peter Mathys

SONNENBRAND - Peter Mathys


Скачать книгу
Kontakte hat Terra bis heute gehabt?«

      Tschechoff kratzte sich an seinem grauen Spitzbart. Endlich sagte er: »Zu meinen Lebzeiten keine. Aber es hat sich auch niemand dafür interessiert.«

      »Und die Troika?«, fragte Marnie.

      Sie blickte in die Runde. Alle schüttelten den Kopf.

      »Eben, keine«, stellte sie fest. »Das aktuelle Kontrollorgan von Terra hat keine Erfahrung im Umgang mit Außerirdischen, die Troika erst recht nicht. Das heißt doch, dass wir den Kontakt mit den Ameisen selber gestalten können, zumindest, bis eine gültige Richtlinie vorliegt. Wir wissen auch, dass es sehr lange dauern kann, bis die Behörden in einer bestimmten Angelegenheit handeln. Wir hier sind näher am Problem und können schneller entscheiden.« Sie machte eine Pause. Dann: »Und damit ist noch keineswegs entschieden, wie wir schlussendlich mit den Besuchern aus dem Weltall verfahren.«

      Bernhard Tschechoff nickte bedächtig. Als alle aufmerksam zu ihm blickten, holte er aus: »Ich danke der Bürgerin Marnie für ihre Analyse. Das tönt alles sehr überzeugend, und ich habe ihren Ausführungen nichts entgegenzusetzen. Aber das bedeutet nicht, dass wir unsere individuellen Ansichten völlig über Bord werfen. Wichtig ist, wie gesagt worden ist, dass wir hier schneller entscheiden können. Wir handeln nach unseren Überzeugungen, und zwar solange, bis die Regierung anders entscheidet.« Er blickte siegessicher in die Runde. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

      Alle standen auf, schüttelten einander die Hände und verschwanden. Marnie blieb allein mit den drei toten Ameisen auf dem Tisch und dem Gefühl, absolut nichts erreicht zu haben. Draußen im Eingang wartete Roman auf sie.

      »Gratuliere«, sagte er. »Das war ein großer Erfolg.«

      »Was? Dass ich gleich weit bin wie vor einer halben Stunde?«

      »Nein, dass er dir vor allen Teilnehmern das Wort erteilt hat. Ein Aufseher gibt sich normalerweise nicht mit gewöhnlichen Bürgern ab. Jetzt bist du in seinem Fokus. Bald steckst du in einem Spielleiterkurs.«

      Marnie verwarf die Hände.

      »Noch vor einer Stunde wünschte ich mir, die Ameise, alle Ameisen würden verschwinden und mich in Ruhe lassen.«

      »Und jetzt?«, fragte Roman.

      »Jetzt hat sich mir eine Chance aufgetan. Eine neue Welt. Eine fremde Welt, eine spannende Welt, die ich kennenlernen will. Jetzt muss ich zurück in meine Wohnung.«

      »Darf ich mit?«

      »Klar.«

      Sie verließen das Spielleiterhaus und gingen durch die Spielallee zum nahe gelegenen Stadtpark. Die Birken hatten angefangen zu treiben und, wie versuchsweise, ihre grünen Knospen hinausgestreckt. Auf der großen Wiese in der Mitte des Parks waren regelmäßig Beete mit den verschiedensten Blumen angelegt worden. Marnie atmete die würzige Luft ein und entspannte sich langsam von der Anstrengung der unnützen Sitzung. Aber beim nächsten Beet blieb sie stehen und zog Roman am Ärmel: »Schau, was die Banditen getan haben.«

      Auf der Hinterseite des Beetes, vom Weg aus fast nicht sichtbar, lagen sechs tote Ameisen, zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Etwa fünfzig Meter weiter sahen sie die zwei Spielleiter, die sich in der Sitzung mit Tschechoff solidarisiert hatten, mit ihren Schlagstöcken auf lebendige Ameisen einschlagen.

      »Wir müssen sie aufhalten, Roman!«, rief Marnie aufgeregt. »Das sind intelligente Wesen. Was die Burschen ihnen antun, ist reiner Mord.«

      »Du hast recht, Marnie«, bestätigte Roman, »aber wir sollten es bleiben lassen. Das Leben hat für sie einen anderen Stellenwert als für uns. Und wenn wir uns jetzt einmischen, starten wir einen Privatkrieg mit Tschechoff, der uns von unserem Ziel abhält.«

      »Was ist unser Ziel?«

      »Die Ameisen besser kennenlernen. Erfahren, was ihre Absichten sind. Abklären, ob und wie wir ihnen helfen können.« Roman hatte sich richtiggehend warmgeredet; er fasste Marnie am Arm und setzte hinzu: »Wenn wir uns mit ihnen abgeben, am besten diskret, können wir viel mehr bewirken, als wenn wir uns mit Tschechoff und seinen Spießgesellen anlegen.«

      Marnie war stehen geblieben. Sie schaute an Roman vorbei, über den Park hinweg in unbestimmte Fernen. Endlich sagte sie:

      »Einverstanden, Roman. Du bist vernünftiger als ich. Danke für deine Hilfe. Lass uns gehen.«

      Sie fanden die Ameise reglos in einer Ecke des Spielzimmers. Marnie fragte: »Ist der Hund des Nachbarn gekommen?«

      »Nein«, sandte die Ameise einen Gedankenstrahl zu Marnie und Roman. »Ich erhole mich von meinen Schmerzen.«

      »Wie geht das?«, erkundigte sich Roman. »Ich meine – es ist niemand hier, ein Ameisenarzt oder so.«

      »Ich bin eine Arbeitsameise wie alle von uns, die bis jetzt hier gelandet sind. Wir verfügen über eine starke Selbstheilungskraft. Wir können defekte Körperteile bis zu einem gewissen Grad selber ersetzen.«

      Roman schüttelte den Kopf. »Daran muss ich mich gewöhnen. Dass in meinem Kopf ganze Gespräche geführt werden.«

      »Du wirst dich daran gewöhnen«, versicherte ihm Marnie. Dann wandte sie sich an die Ameise. »Du hast mir vor ein paar Stunden gesagt, dass euer Planet ebenfalls sterben werde. Wie viel Zeit bleibt euch, bis dieses Unglück eintritt?«

      »Schwer zu sagen«, erwiderte die Ameise. »Es können fünfzig oder fünfzigtausend eurer Jahre sein. Alles ist möglich. Ihr seid offensichtlich nicht mit den zeitlichen Dimensionen des Universums vertraut.«

      Marnie ging nicht auf die letzte Bemerkung ein. Sie fragte: »Wieso braucht ihr heute ein ›Plätzchen‹ für fünftausend Ameisen?«

      »Wir müssen rechtzeitig unser Hauptquartier planen, eben weil wir nicht wissen, wann unser Planet sterben wird.«

      Jetzt erschrak Marnie. Hauptquartier! Eine fremde Besatzungsmacht! Vielleicht hatte Tschechoff doch recht gehabt. Unseren Planeten mit einer fremden Rasse teilen. Mit diesen Ameisen! Bei aller Sympathie, das würde zu weit gehen. Dann schalt sie sich einen Feigling. Eine unbekannte Rasse kennenlernen, neues Wissen miteinander teilen! Und sie wurde schon schwach, bevor sie wusste, ob es etwas zu teilen gab.

      Roman reagierte schnell und schaltete die Spielwand ein. Er befahl: »Zeige uns den Planet der Ameisen – wenn du kannst.«

      »Sie nennen ihre Sonne Beta Centauri, fünfhundertdreißig Lichtjahre von unserem Sonnensystem entfernt. Das System hatte drei Planeten. Zwei davon sind vor knapp einer Million Jahren explodiert, Grund unbekannt. Der dritte Planet ist die Heimat der Kadaren, so nennen sich die Ameisen untereinander. Ich garantiere nicht für die Richtigkeit dieser Informationen. Ich ziehe sie nur aus ihren Gehirnen.«

      Die Ameise hockte immer noch in der Ecke des Spielzimmers am Boden und ließ als einzige Regung ihre Antennen am Kopf rotieren. Ihr hinteres und ihr vorderes Körperteil waren oval und schimmerten dunkelbraun, das mittlere war hell und beinahe durchsichtig. An jedem Teil ihres Körpers war ein Paar lange, dünne Beine angebracht – wie Streichhölzer mit Gelenken, dachte Marnie. Sie studierte den Körper des Rieseninsekts, der nicht die geringste Gefühlsregung zu erkennen gab. Ich weiß nicht, was sie ist, was sie denkt, ist sie am Ende ein Er, oder gar ein Neutrum?

      »Jetzt den Planeten«, forderte Roman.

      »Nein, ich bin weder ein Er noch ein Neutrum«, mischte sich die Ameise ein. »Ich bin weiblich.«

      Der Bildschirm wechselte die Ansicht und zeigte ihnen zuerst den dritten Planeten und fokussierte dann auf einen großen Platz. Man sah grau schimmernde Gebäude, von hinten umrahmt von einer lang gezogenen Bergkette. Auf dem freien Bereich des Platzes bewegten sich kugelförmige Gebilde vorwärts, hielten an, öffneten eine Art Einstiegsluken. Marnie und Roman sahen vier Ameisen aussteigen. Sie standen zunächst reglos, dann hoben sie ab und flogen davon, einem unbekannten Ziel entgegen. Nach ihnen stiegen drei Ameisen ein, die Luke schloss sich, und die Kugel stieg senkrecht in die Höhe. Nach einigen Sekunden beschleunigte sie massiv und war nach einer halben


Скачать книгу