Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden. Max R. Liebhart

Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden - Max R. Liebhart


Скачать книгу
zurück? –

      Nein, still davon, du Augen-Wunderweide!

      – mein Glück! Mein Glück!

      Schon allein durch seine Weite und die Öffnung hinaus auf die Lagune ist der Markusplatz ein einmaliges Gebilde in dieser Stadt, die, abgesehen von wenigen großen campi, von Enge und Verwinkelung geprägt ist, zum entspannten Verweilen nur gelegentlich einlädt und den Blick nur selten freigibt. Wenn heute auf der Piazza meist größere Menschenmengen anzutreffen sind, so sollte sich der, der diese Tatsache als störend empfindet, klar machen, dass das immer so war. Die Gemäldegalerien der Stadt bergen zahlreiche Bilder, die dies bestätigen. Die Piazza war immer schon der Ort, wo man sich traf – das heißt der Adel, die Repräsentanten des Staates und der Regierung, die gehobene Schicht, wo man Feste feierte und Staatsakte beging, wo man sich, besonders in der Spätzeit der Republik, in den damals vierundzwanzig Cafés und im nahegelegenen Spielcasino, dem Ridotto, amüsierte, besonders natürlich im schier endlosen Karneval.

      Mit den Tauben von San Marco verbinden sich im Übrigen einige Legenden. Eine von ihnen berichtet, dass den Flüchtlingen, die nach der Zerstörung der antiken Stadt Altino durch Attila in die Lagune geflohen waren, auch Schwärme von Tauben gefolgt und dass die Vögel, die heute die Piazza bevölkern, deren Nachkommen seien. – Dieser Bericht existiert auch in leicht modifizierter Form. Die Bewohner von Altino, bedroht von den Langobarden, flehten Gott um seinen Rat und Beistand an und sahen mit einem Male, wie die bei ihnen nistenden Tauben ihre Jungen mit dem Schnabel packten und mit ihnen weg von der Stadt auf die Lagune zu flogen. Die Einwohner der alten römischen Stadt sahen darin eine Warnung und folgten den Vögeln. – Eine weitere Legende weiß zu erzählen, dass einer erkrankten dogaressa ein Taubenpaar aus dem Orient mitgebracht wurde und dass sich diese Tiere dann enorm vermehrt hätten. –Schließlich gibt es noch eine Legende, der zufolge die Tauben seit 877 in der Stadt ansässig seien: „Es war ehemals der Brauch, dass die Küster von Sankt Markus am Palmsonntag nach den Gottesdiensten Tauben laufen ließen, die sie mit Papierstreifen gefesselt und auf diese Weise unfähig gemacht hatten, zu fliegen. Die Menschen auf der Piazza sollten versuchen, diese Tauben zu fangen. Die erbeuteten Tiere wurden dann gefüttert und zu Ostern verspeist. Aber einige Tauben sind immer wieder entkommen. Die flüchteten sich auf das Kirchendach, wo sie gewissermaßen als unverletzlich galten und nach und nach auf eine gewaltige Zahl anwuchsen.“ (Howells). – Alfred Polgar (1873–1955) berichtet: „An dem sonnigen Septembervormittag, an dem ich die Freude hatte, die Tauben von San Marco zu beobachten, waren dort ihrer dreißigtausendsechshundertvierzig versammelt, ein paar Sonderlinge, die auf der Piazzetta spazieren gingen, nicht mitgerechnet. Plötzlich flogen alle mitsammen auf und flatterten in großen, schiefen Ellipsen stürmisch rauschend über den Platz. Und als sie zu Boden gingen, ein gewaltiger, weicher Wirbel von Blau und Weiß und Grau, war es, als ob sie aus der Luft geschüttet würden, so dicht fielen und lagen sie zuhauf übereinander“. – Seit etwa 2010 ist das Füttern der Tauben verboten, und erstaunlicherweise wird das Verbot weitestgehend eingehalten.

      Es ist nicht möglich, die Platzanlage von einem einzigen Punkt aus vollständig zu überblicken. Um sie sich zu erschließen, ist es erforderlich, sich auf ihr in verschiedene Richtungen zu bewegen, kreuz und quer zu schlendern, so dass sich immer wieder neue Perspektiven entfalten. Und wenn der Blick an den rundum verlaufenden Arkadenstellungen entlangschweift, so kann sich das Gefühl einstellen, als glitten Hände über die Saiten einer Harfe.

      In der Frühzeit der Republik war die Piazza deutlich kleiner als heute. Der Platz wurde in der Mitte von einem kleinen Fluss durchquert (dieser existiert unterirdisch noch immer, man begegnet seiner Mündung in die Lagune, wenn man an der Zecca vorbei ein paar Schritte nach Westen geht), er war grasbewachsen und Bäume standen auf ihm, weswegen er auch damals den Namen brolo (Garten) trug. Auf die heutigen Ausmaße wurde er unter dem Dogen Sebastiano Ziani (1172–78) erweitert. Einen ersten festen Belag mit Ziegelsteinen erhielt der Platz 1267. Im Jahr 1392 wurde dieser erneuert, indem man Ziegelrechtecke verlegte, die von Marmorstreifen gefasst waren, eine Art des Pflasterns, die auch heute noch an einigen wenigen Stellen in Venedig zu sehen ist (z. B. vor Madonna dell’Orto). In den Jahren 1495, 1566, 1626, 1723 und zuletzt 1893 erhielt die Piazza jeweils neue Beläge, die beiden letzten dann aus Trachyt, der aus den Euganeischen Hügeln stammt. Ganz sicher wurde durch den Wechsel des Materials der Gesamteindruck, den die Piazza mit dem alten farbintensiven Belag gemacht hatte, entscheidend und nicht zum Vorteil verändert: „Statt des feinkörnigen modularen Netzes dominiert ein sich selbst genügendes großspuriges Ornament. Das Säulenpaar der Piazzetta und die Fahnenmasten vor der Kirche verlieren ihren optischen Halt, die elegante Parataxe der Arkaden der Alten Prokuratien bekommt etwas Trippelndes. Alle vor 1723 an der Piazza errichteten Bauten standen ursprünglich auf einem farbigen Boden. Für die, die einmal weiß waren, wie die pietra d’Istria-Fronten der Prokuratien, des Uhrturms oder der Libreria, wie auch für diejenigen Bauten, die mit so viel farbigem Stein und Marmor aufwarten wie der Dogenpalast und die Loggetta, hat sich die ursprüngliche Wirkung durch das neue Pflaster grundlegend verändert, und selbst der von Anfang an ungeschmückte Backsteinpfeiler des Campanile ist ein anderer geworden.“ (Huse)

      Der Grundriss der Platzanlage folgt der bei venezianischen campi häufiger anzutreffenden L-Form. Der lange Schenkel dieses „L“ ist die trapezförmige Piazza direkt vor der Hauptfassade der Markuskirche, die von den schier endlosen Arkadengängen der alten (rechts) und der neuen Prokuratien (links) gefasst wird. Diese lange, nach Westen gerichtete Bahn wird durch die Ala Napoleonica mit ihrer derben, lastenden Attika abgeschlossen. Der kurze Schenkel des „L“, die Piazzetta als zweite Bahn, beginnt an dem bunten Uhrturm und zieht an der Fassade von S. Marco vorbei bis zum sogenannten Bacino, der weiten Wasserfläche zwischen Dogenpalast und der Kirche S. Giorgio Maggiore, deren Fassade trotz der Entfernung einen optischen Abschluss bewirkt. Die Piazzetta wird auf ihrer linken Seite von der Westfront des Dogenpalastes und rechts von der Libreria Sansovinos mit ihrer üppig verzierten Fassade begleitet. Im Kreuzungspunkt der beiden Platzachsen erhebt sich der mächtige, 95 Meter hohe Campanile, der gleichsam eine riesige Angel bildet, um die sich die Platzanlage dreht. Die Piazzetta war bis ins 12. Jahrhundert ein Hafenbecken, die Fläche der Piazza gehörte dem Kloster San Zaccaria, das hier Gemüse anbaute. Eine weitere sehr wichtige Bahn der Platzanlage wird nicht ohne weiteres deutlich und ist auch weniger architektonischer, als spiritueller Art. Sie geht aus von dem zierlichen Bau zu Füßen des Glockenturms, der Loggetta, reicht hinüber zum früheren Haupteingang des Dogenpalastes, der Porta della Carta, der Verbindungsstelle zwischen Kirche und Palast, und führt weiter durch den sogenannten Porticato Foscari und Arco Foscari zur Gigantentreppe im Hof des Palastes.

      Ausstattung der Platzanlage: Von herausragender Bedeutung sind zunächst die beiden riesigen Granitsäulen, die ganz vorne auf der Piazzetta stehen. Sie sind Monolithe aus dem Orient und wurden 1172 aufgerichtet, angeblich vom legendären Baumeister der ersten Brücke am Rialto, einem Niccolò Barattini. Ursprünglich sollen es drei Säulen gewesen sein, doch sei gemäß der Legende eine davon beim Anlanden ins Wasser gestürzt und habe nicht mehr geborgen werden können. In den Jahren 1557 und 1809 wurde vergeblich im Lagunenboden vor der Uferbefestigung nach ihr gesucht. Diese Säulen sind Herrschafts- und Gerichtssymbole und haben ihre Vorbilder in der Antike und in Byzanz. Zwischen ihnen wurden die Hinrichtungen vollzogen. Über dieser Stelle soll übrigens ein Fluch hängen, und bei den abergläubischen Venezianern lebt die Meinung, es bringe Unglück, zwischen den Säulen hindurchzugehen. Die Legende berichtet, Marino Falier sei nach seiner Wahl zum Dogen bei der Ankunft in Venedig im dichten Nebel versehentlich zwischen den Säulen hindurchgeschritten, und tatsächlich wurde er 1355 hingerichtet. Die Säulen stehen auf Basen, deren Ecken stark verwitterte symbolische Darstellungen der Handwerke tragen, besitzen Kapitelle aus veneto-byzantinischer Zeit und tragen jeweils eine Figur.

      Auf der linken Säule (Blickrichtung zur Lagune) steht ein geflügelter Löwe, also das in der Stadt allgegenwärtige Symbol der „Löwenrepublik“, wie Venedig auch bezeichnet wurde.

      Wie alle Evangelisten, so besitzt auch der hl. Markus ein ikonografisches Attribut, nämlich einen Löwen. Warum der Markuslöwe geflügelt ist, begründet eine Legende, die aus Capodistria stammt. Ihr gemäß hat sich Markus, nachdem er die Niederschrift seines Evangeliums beendet hatte, dem Studium der Meteorologie gewidmet. Anscheinend war er aber mit seinen dabei erzielten Erkenntnissen


Скачать книгу