Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden. Max R. Liebhart
Castello. Nach dem Ende der staatlichen Selbständigkeit wurde die Markuskirche (als Staatskirche) dann erst zum Markusdom als Bischofs- bzw. Patriarchensitz.
Die Geschichte der Markuskirche beginnt 828 oder 829, also mit der sogenannten translatio, in der „zwei vornehme venezianische Kaufleute und Tribunen“ den Leichnam des hl. Markus (oder was man dafür hielt oder dazu erklärte) von Alexandria nach Venedig brachten. Die Ausfuhr von Reliquien aus Alexandrien war zwar eigentlich nicht erlaubt. Um aber das Verbot zu umgehen, halfen sich die beiden dadurch, dass sie den Leichnam unter Schweinefleisch verbergen ließen, das den islamischen Zöllnern als unrein und deshalb unberührbar galt. So jedenfalls berichtet der venezianische Chronist und spätere Doge Andrea Dandolo (1343–54), und er nennt auch die Namen der beiden Kaufleute mit Rusticus von Torcello und Bon aus Malamocco.
Was die Echtheit der Reliquie des hl. Markus betrifft, so gibt es dazu eine neuere Hypothese. 1962 erfolgten archäologische Grabungen in der Apsis der Kirche. Dabei fand man eine reliefverzierte Steinplatte, deren Symbole Anlass für die kühne Theorie waren, in der Basilika würden nicht die Überreste des hl. Markus, sondern die von Alexander dem Großen aufbewahrt. Gemäß den Erkenntnissen des englischen Forschers Andrew Michael Chugg seien im Jahre 828 die beiden einbalsamierten Leichname vom arabischen Gouverneur ausgetauscht worden, angeblich um zu vermeiden, dass die Christen den von Alexander schänden könnten. Die Überlegungen von Chugg stützen sich u. a. auf die Tatsache, dass auf der in der Apsis entdeckten Steinplatte eine Sonne mit acht Strahlen zu sehen ist, ein Symbol des mazedonischen Königshauses. Natürlich steht die These Chuggs auf wackeligen Beinen. Denn weiterführende Untersuchungen wie z. B. die Radiokarbon-Methode zur Altersanalyse oder DNA-Bestimmungen kamen bisher noch nicht zur Anwendung.
Der Legende zufolge hätte der hl. Markus die Schiffer auf der Rückreise vor dem Untergang in einem fürchterlichen Sturm gerettet. Als dann die Reliquien den Boden Venedigs berührten, habe sich ein lieblicher Rosenduft in der ganzen Stadt verbreitet. Zuvor hatte der Evangelist noch deutliche Zeichen gegeben, dass er nicht in der damaligen Bischofskirche auf Olivolo (heute San Pietro di Castello) bleiben, sondern zum Palast des Dogen gebracht werden wolle – der Heilige verhielt sich somit durchaus gemäß der Interessenlage der Republik. Eine andere Legende berichtet dagegen, dass das Schiff, das die Reliquien des hl. Markus transportierte, untergegangen sei. Doch hätten einige der Seeleute, die sich schwimmend retten konnten, auch den Schrein, in dem Markus lag, mit sich genommen und an Land gebracht.
Prompt nach der translatio wurde mit der Errichtung der ersten, noch hölzernen Markuskirche begonnen, die 836 vollendet wurde. Sie ging in einem Volksaufstand 976 samt Dogenpalast und mehr als 400 Häusern durch Brandstiftung unter. Der folgende zweite Bau, nunmehr in Stein ausgeführt, wurde im 11. Jahrhundert wieder abgerissen, vermutlich wegen des wachsenden Bedürfnisses nach Repräsentation und der zunehmenden Markusverehrung. Von ihm blieb lediglich die – vor einigen Jahren trockengelegte und restaurierte – Krypta unter dem Presbyterium erhalten. Der heutige Bau wurde 1063 begonnen und 1071 geweiht.
Umfangreiche Vorarbeiten waren erforderlich: „Die Fundamente des dritten Kirchenbaus bestehen aus Steinblöcken und reichen bis in eine Tiefe von 3,5 m unterhalb des Fußbodens. Sie lagern über einer Doppelschicht aus Eichenbrettern von 8–10 cm Stärke auf einem Untergrund, der mit Erlholzpflöcken stabilisiert ist, die 130–150 cm lang, 10–14 cm dick und bis zum Anschlag ins Erdreich getrieben sind.“ (San Marco – Geschichte, Kunst und Kultur). Erwähnenswert sind auch Einzelheiten zur Bautechnik des Oberbaus: „Die Pfeiler sind vom Typ des Gussmauerwerks mit einer 30 cm starken Mauerschale, gefüllt mit zerbrochenen Ziegelsteinen, die durch Kalkmörtel und gestoßenen Ziegelstaub (coccipesto) zusammengehalten werden. Die Dicke der anderen Mauern variiert zwischen mindestens 40 cm bis maximal 100 cm in den Bögen, in den Gewölben und in den Kuppeln. In der Krypta sind sie 140 cm dick, in den verstärkten Bereichen sogar bis zu 280 cm. Die verwendeten Backsteine entsprechen dem anderthalb Fuß langen römischen Typus mit den Maßen 40 x 30 x 8 cm.“
Fertiggestellt war die Kirche 1094, im Jahr der sogenannten apparitio, worunter das wunderbare Wiederfinden der Markusreliquien, die seit dem Brand von 976 verschollen waren, zu verstehen ist.
Es wird berichtet, dass „die allgemeine Trauer über die Unkenntnis vom Verbleib der Markus-Reliquie zu mehrtägigen Bußübungen und inbrünstigen Gebeten der venezianischen Geistlichkeit wie des Dogen geführt habe – bis man plötzlich ein Beben in der Kirche verspürte und das Mauerwerk eines Pfeilers bröckelte, in dem nun der dort eingemauerte Sarg des Heiligen sichtbar wurde.“ In anderen Lesarten habe Markus sogar ostentativ seinen Arm aus dem Pfeiler (rechts neben dem Durchgang zur Pala d’Oro) gestreckt (Lebe). Man mag diese Geschichte zunächst nur amüsiert zur Kenntnis nehmen, sollte dabei aber bedenken, dass sie erhebliche symbolische Bedeutung besitzt. Durch sie wird die Markuskirche, in der sich eine Säule für den Heiligen öffnet, dem Grab Christi vergleichbar.
Die Basilika S. Marco ist eines der Wunderwerke dieser Welt. Dieser lapidaren Feststellung stehen durchaus auch kritische, ja sogar negative Äußerungen gegenüber. So wurde beispielsweise von einem „Schalentier“ oder einem „orientalischen Pavillon“ gesprochen. Goethe erschien der Bau wie ein „kolossaler Taschenkrebs“. Für Mark Twain war die Kirche „ein riesiger, warzenbedeckter Käfer“. Karel Capek (1866–1927) meint: „San Marco, das ist keine Architektur, das ist ein Orchestrion; man sucht den Schlitz, wo man den Kreuzer hineinwirft, damit die ganze Maschinerie mit ‚O Venezia‘ losgeht.“ Doch natürlich überwiegen die positiven Äußerungen. „Indessen, noch vor dem Dogenpalast, ist die Markuskirche von allem Anfang an das bauliche und religiös-kulturelle, in einiger Hinsicht auch das politische Herzstück Venedigs gewesen: Nationalheiligtum und Tempel des Staatskultes. In der Basilika San Marco kulminierte das Selbstverständnis Venedigs.“ (Lebe) Für diese Deutung sprechen die Liebe und Hingabe, mit der die Venezianer dieses Bauwerk bis ins kleinste Detail ausgeschmückt haben.
Die neue Kirche wurde vom Dogen Domenico Contarini (1043–71) im Jahre 1063 gestiftet. Dessen namentlich nicht bekannter Architekt übernahm von den beiden Vorgängerbauten die kreuzförmige Anlage und den Narthex (die Vorhalle) und griff damit auf ein byzantinisches Vorbild des 6. Jahrhunderts zurück, nämlich auf die Apostelkirche Kaiser Justinians zu Konstantinopel, die 1453 nach der Eroberung der Stadt durch die Türken zerstört wurde. „Der venezianische Kirchenbau des 11. Jahrhunderts schloss sich also an die klassisch griechische Architektur des 6. Jahrhunderts an, nicht an gleichzeitige mittelbyzantinische Sakralbauten, fügte aber besondere abendländisch-romanische Elemente hinzu, so vor allem die Kuppeln.“ (Hubala) War der Bau im Urzustand noch ungeschmückt (mit Ausnahme von Mosaiken in der Hauptapsis), so wurde er über die Jahrhunderte immer reicher ausgestattet. „Die Säulen, die Marmortafeln an den Außenfassaden, die ionischen und korinthischen Kapitelle haben alle eines gemeinsam – sie sind gestohlen. Ein Gesetz des Dogen Domenico Selvo (1070–85) besagte, dass jedes Schiff Schmuck für die Basilika mitzubringen habe.“ (Mario Grasso) In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde mit der Verkleidung der Innenwände begonnen, mit Marmorplatten in der unteren, mit Mosaiken in der oberen Zone. Der Sieg über Konstantinopel im Jahre 1204 brachte dann einen solchen Reichtum an Baumaterial, das als Spolien verwendet werden konnte, und natürlich auch an Gold mit sich, dass es möglich war, der Kirche gewissermaßen einen Schmuckmantel umzulegen. Es entstanden die Säulenfassade an der Piazza, die nördliche Vorhalle und die Außenkuppeln mit ihren typischen Laternen über den fünf inneren Kuppelschalen. Nach 1300 wurden die großen gotischen Maßwerkfenster in die West- und Südfront eingefügt. Ab 1385 bis hin ins frühe 16. Jahrhundert entstand die spätgotische Bekrönung mit Figurentabernakeln und geschweiften Wimpergen an den Fassaden, die sowohl Romanisches und Byzantinisches als auch Arabisch-Maureskes in sich vereinigen, woraus, wie der frühere Bürgermeister Massimo Cacciari sagte, sich felici dissonanze ergäben. Das 15. und 16. Jahrhundert brachte Anbauten wie die Cappella dei Mascoli und die Cappella Zen (> Sonderräume). Der Zustand der Westfassade von S. Marco aus der Zeit um 1496 mit ihrer üppigen Vergoldung ist deutlich auf Gentile Bellinis Gemälde Prozession auf dem Markusplatz zu erkennen, das in der Accademia (Akademie der Bildenden Künste > Stadtteil Dorsoduro) hängt.
Außenbau: Der eigentliche Baukörper ist im Norden und Westen von Vorhallen umstellt, im Süden bilden Cappella Zen, Baptisterium und Tesoro die Ummantelung. Durch diese vorgelagerten