Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden. Max R. Liebhart

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      ► Der Dogenpalast

      „Eine derartige Baukunst hat man sonst noch nirgends gesehen, alles daran ist neu, man fühlt sich vom Hergebrachten erlöst, man begreift, dass es jenseits der klassischen und gotischen Formen eine ganze Welt gibt, dass die menschliche Erfindung ohne Grenzen ist ... Alle Gewohnheiten der Augen werden umgeworfen, und mit wundervoller Überraschung sieht man hier die morgenländische Phantasie Fülle auf das Leere anstatt Leere auf die Fülle setzen.“ (H. Taine)

      Wie so vieles in Venedig, so ist auch der Palazzo Ducale von zahllosen Abbildungen her bekannt als komplexer Bau von unerhörtem Detailreichtum. Heute ist das riesige Gebäude praktisch ein Museum seiner selbst und eine Gemäldegalerie von größtem Reichtum.

      Der Dogenpalast ist das einzige Gebäude der Stadt, das offiziell palazzo genannt wird. Alle anderen Bauten des Adels und der Reichen, und seien sie auch noch so prachtvoll und somit ihrem Wesen nach klar Paläste, heißen im Venezianischen Ca’, die Kurzform für casa (Haus). Bis 1797 war der Dogenpalast die Residenz der Dogen, die verpflichtet waren, in dem ihnen zugeteilten weitläufigen Appartement zu wohnen. Alle Veränderungen der Räumlichkeiten, die sie wünschten, mussten sie selbst bezahlen und außerdem auch noch für alle hier entstehenden Repräsentationskosten aufkommen. Daneben barg der Palast insbesondere den riesigen Saal für die Versammlungen des Adels, die Sala del Maggior Consiglio, sowie die Amtssitze der Regierungsgremien und der obersten Richter. Interessant ist, dass es beileibe nicht nur goldstrotzende Säle waren, in denen Macht ausgeübt wurde. Im Rahmen einer höchst empfehlenswerten Führung, genannt die Itinerari segreti (geheime Wege), werden Räumlichkeiten gezeigt, die eher Verschlägen als Büros gleichen und in denen Träger wichtigster Ämter auf etwa zwei Quadratmetern zusammen mit ihrem Sekretär an einem winzigen Tischchen arbeiteten. Mit seiner Gesamtanlage und seinen Prunkräumen „verkörpert der Dogenpalast Macht und Herrlichkeit, Geschichte und Eigenart des venezianischen Staates für alle Welt“ (Hubala).

      Baugeschichte: Die Anfänge einer Dogenresidenz liegen im Dunkeln, doch soll schon bald, nachdem die Verwaltung im 9. Jahrhundert von Malamocco hierher verlegt wurde, eine hölzerne, von Wasser umgebene Burg entstanden sein. Von diesem Vorgängerbau hat sich nichts erhalten, und auch anderweitige Quellen liefern keinerlei Informationen über die Struktur dieses Gebäudes. Erste wesentliche Veränderungen fanden unter dem kurzen, aber hochbedeutenden Dogat Sebastiano Zianis (1172–78) statt, der 1177 als Friedensstifter zwischen Papst Alexander III. und Kaiser Friedrich Barbarossa fungierte. Von diesem Palast sind „dicke Mauern aus Haustein im Westflügel, umfangreiche Reste eines Turms an der Südostecke und eine einsame Säule im Südflügel“ (Wolters) noch nachweisbar, von der Struktur des Baus ist jedoch nichts überliefert. Es wird angenommen, dass das Gebäude von Ecktürmen flankiert war und, in Anlehnung an die Contarinikirche (die Baugestalt der Markuskirche im 11. Jahrhundert), bereits das Motiv der Säulenarkade aufgenommen hatte, sich also schon zur Umgebung hin öffnete. 1340 fasste man den Entschluss zu einer durchgreifenden baulichen Veränderung bzw. zu einem Neubau. Der Anstoß dafür ging von der Notwendigkeit aus, einen ausreichend dimensionierten Saal für die Versammlungen des auf mehr als 1800 Mitglieder angewachsenen Großen Rates zu schaffen. Als Architekten wurden ein Filippo Calendario (der sich dann in die Falier-Verschwörung verstrickte und am 16. April 1355 zwischen den Säulen des von ihm erbauten Palastes gehängt wurde) und die Familie der Bon (oder Buon) genannt. Zwischen 1340 und 1400 entstand der Südflügel (am Molo), dessen Skulpturen-Schmuck (sogenanntes Stenofenster, Kapitelle und Eckplastiken) nach 1404 hinzukam. Die Sala del Maggior Consiglio wurde 1423 unter dem Dogen Francesco Foscari eingeweiht, der bis 1438 die Front des alten Ziani-Baus zur Piazzetta hin nieder­legen und den jetzigen Westflügel aufführen ließ. Gleichzeitig entstand die Porta della Carta, ab 1483 auch der Ostflügel mit Front zum Rio del Palazzo, nachdem ein Brand einen Vorgängerbau zerstört hatte. Ihm wurden Pläne des Bildhauers Antonio Rizzo zugrunde gelegt, unter dem auch die monumentale Scala dei Giganti im Hof des Dogenpalastes entstand, Ort aller künftigen Dogenkrönungen. Die heute zu sehende kostbare Ausstattung der Innenräume entstand erst nach weiteren Großbränden der Jahre 1574 und 1577. Damals wurde sogar ein radikaler Umbau nach Plänen Palladios erwogen, die man jedoch verwarf – eine Tatsache, die als Glücksfall anzusehen ist, da ein Neubau wohl kaum ein adäquater Ersatz für das wundervolle Bauwerk gewesen wäre.

      Die Besichtigung des Dogenpalastes ist zeitaufwendig, aber in hohem Maße lohnend. Ob man sich durch die schier unendliche Raumfolge treiben lässt oder alle Einzelheiten eingehend und vertieft betrachtet – in jedem Fall wird man um unerhörte Eindrücke bereichert.

      Äußeres – Baugestalt: Ein weiträumiger, rechteckiger Binnenhof wird an drei Seiten von den Palastbauten, an der vierten (nördlichen) Seite von der Markuskirche begrenzt. Der gewaltige Baukörper misst etwa 75 x 100 Meter. Sein Fundament ist ein Rost von Lärchenstämmen. Das Erdgeschoss ist im Süden und Westen als Arkadenhalle gebildet. 36 schmucklose, mächtige Säulen, die heute durch Anhebung des Platzniveaus etwa vierzig Zentimeter tief im Boden stecken, tragen über figurengeschmückten Kapitellen Bögen mit weicher Rundung. Im zweiten Geschoss stehen Säulenarkaden in so dichter Reihung, dass zwei Bögen oben auf einen unteren Bogen treffen. Zwischen die Säulen im Obergeschoss ist eine feingliedrige Säulchenbalustrade gespannt. Die Säulen tragen hier fast zierlich wirkende Laubkapitelle. Aus diesen steigt das Wunderwerk des gotischen Maßwerkes kraftvoll mit großen kreisrunden Öffnungen empor, in denen Vierpässe geformt sind. Dieses Geschoss wird durch ein Gesims mit einem Blattrosetten-Dekor abgeschlossen. Das nun folgende Hauptgeschoss hat dieselbe Höhe wie die beiden Untergeschosse zusammen und besitzt – abgesehen von den Fenstern – eine geschlossene Fläche, die durch ein kelimartiges Muster aus kleinen Ziegeln in Weiß, Rot und Grün zart strukturiert ist. Die „verkehrte“ Anordnung der Wandflächen der Geschosse – zerbrechliche Bögen unten tragen massives Mauerwerk oben – ist oft besprochen und natürlich auch als statisch unsinnig kritisiert worden. Man mag dazu stehen wie man will: Durch seine ungewöhnliche Fassadenstruktur gewinnt dieses gewaltige Bauwerk etwas Schwebendes, ein Eindruck, der noch verstärkt wird durch das Licht der Lagune, aus dem es sich erhebt. Ohne weiteres kann auch die Vorstellung entstehen, dass hier einem Würfel eine Decke mit venezianischer Spitze übergeworfen worden ist. Der filigrane Eindruck wird weiter durch die sogenannten merlature verstärkt (merletto bedeutet im Venezianischen „Spitze“), nämlich durch die an arabische Gestaltungsweise gemahnenden Zierzinnen (sie sind in moderner Rekonstruktion nach alten Abbildungen gefertigt). Die Architektur des Dogenpalastes ist ganz wesentlich auf die Ansicht vom Wasser her ausgerichtet.

      Feinste Einzelheiten bereichern und beleben das Bauwerk. So sind die Kapitelle des Erdgeschosses eine kleine Welt für sich. Jedes von ihnen zeigt acht Darstellungen, z. B. von Tugenden und Lastern, der Stände, von antiken Kaisern und Philosophen, von Tieren und Pflanzen, von der Geschichte eines Paares vom Kennenlernen bis hin zum Tod des gemeinsamen Kindes usw., von Themen also, die auch an den Fassaden gotischer Kathedralen in Frankreich behandelt werden – „eine Enzyklopädie spätmittelalterlicher Frömmigkeit und Weltlust“ (Hubala). An den Ecken des Gebäudes finden sich plastische Werke: im Südosten die Verspottung des trunkenen Noah, darüber der Erzengel Raphael mit Tobias, im Südwesten der Sündenfall mit dem Erzengel Michael darüber, im Nordosten das Urteil Salomons und der Erzengel Gabriel. Die Mitte des Obergeschosses der Südfassade trägt das sogenannte Stenofenster, das 1404 entstand und benannt ist nach dessen Stifter, dem Dogen Michele Steno (1400–13). Es ist ein Werk der Brüder dalle Masegne, das nach dem Palastbrand von 1577 erneuert wurde. Es wird von Vittorias Statue der Justitia aus der gleichen Zeit bekrönt. An der Westfassade (zur Piazzetta hin) findet sich ein etwas einfacher gestaltetes Pendant zu diesem Fenster. Es wurde 1536 von Scarpagnino und Sansovino entworfen und zeigt den vor dem Markuslöwen knienden Dogen Andrea Gritti (1523–38) – ein Motiv, das in nächster Nähe noch dreimal vorkommt, nämlich an der Porta della Carta, am Arco Foscari und am Uhrturm (alles Nachbildungen, weil die Originale 1797 von Bilderstürmern zerstört wurden), und das die nachgeordnete Stellung des Dogen im Staate symbolisiert. Im westlichen Arkadengang fallen zwei Säulen aus rotem Veroneser Marmor auf. Allgemein wird überliefert, dass sie den Ort bezeichnen, an dem Todesurteile verkündet wurden. Eine andere Überlieferung weiß zu berichten, dass der jeweilige Doge von dieser Stelle aus der Vollstreckung der Todesurteile zwischen den beiden Säulen der Piazzetta beiwohnen musste.

      Rechts


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