Seewölfe Paket 12. Roy Palmer
Brighton setzte für einen Augenblick das Spektiv ab.
„Sie sind ebenfalls klar zum Gefecht!“ rief er. „Ihre Stückpforten sind hochgezogen, aber sie geben sich nicht zu erkennen.“
„Ist auch nicht mehr nötig“, erwiderte der Seewolf. „Schau dir mal die Kerle an Bord etwas genauer an. Ich fresse ein Pulverfaß, wenn das keine Piraten sind! Ed“, setzte er dann mit lauter Stimme hinzu, „begrüße die Schnapphähne mit einem Warnschuß!“
„Aye, aye, Sir!“ brüllte der Profos zurück. „Wir werden ihnen die Haut in Streifen von ihren karierten Affenärschen ziehen!“
Aber bevor er den Befehl des Seewolfs ausführen konnte, begann die Geschütze des Piratenschiffes Feuer und Eisen zu spucken.
Die Sonne stand hoch am Himmel und hatte den Dschungel rasch in einen kochenden, dampfenden Kessel verwandelt. Das Atmen wurde den sechs Männern, die von der „Esmeralda“ an Land gesetzt worden waren, um die Lebensmittelvorräte zu ergänzen, zur Qual. Aber sie waren rauhe Burschen, die bereits einiges gewohnt waren. Die meisten von ihnen hielten sich nicht das erste Mal im Dschungel auf und wußten, wie man sich hier zu verhalten und vor was man sich in acht zu nehmen hatte.
Schon seit einigen Stunden war der kleine, schwer bewaffnete Trupp unter der Führung des breitschultrigen Miguel Camaro unterwegs. Die verwegen aussehenden Männer hatten auch schon Erfolg gehabt. Sie hatten bereits ein kleines Wasserschwein erbeutet und es zusammen mit Maniok, Bananen und anderen Früchten zum Beiboot gebracht und dort mit einem Stück Segeltuch abgedeckt. Dann waren sie wieder in den Dschungel marschiert.
War zwischen ihrem Kapitän, Alfredo Fernandez, und dem Profos nicht von einem oder zwei Tapiren die Rede gewesen? Sie wollten jedenfalls, soweit das möglich war, die Wünsche des Kapitäns befolgen, denn manchmal war er unberechenbar und brutal. Aber sie wußten auch seine Großzügigkeit zu schätzen, wenn fette Beute erworben worden war.
Schwitzend bahnten sich die Männer einen Weg durch den stellenweise sehr dichten Dschungel. Oft mußten sie mit den großen Buschmessern einen Pfad durch das dichte Gestrüpp hauen, um voranzugelangen.
Die Schläge ihrer Buschmesser gingen zumeist in dem Geschrei der Affen und Vögel unter. Schon mehrmals waren sie erschreckt zusammengefahren, als sich plötzlich ein Schwarm bunter Papageien über ihnen aus dem Geäst eines Baumes erhoben und laut kreischend davongeflattert war.
Man mußte schon auf der Hut sein, in dieser tiefen, unerforschten Wildnis, in der tödliche Gefahren hinter jedem Baum und jedem Strauch lauern konnten. Tausend Stimmen aus den verschiedensten Richtungen übertönten ein rechtzeitiges Wahrnehmen etwaiger Gefahren.
„Können wir nicht mal eine Pause einlegen, Miguel?“ fragte José, ein kleiner, drahtiger Mann mit schwarzem Bart und einer breiten Narbe über dem linken Auge. „Verdammt, wir sind doch keine Sklaven! In dieser ekelhaften Hitze löst man sich ja fast auf. Dazu noch diese elenden Stechmücken.“
„Wir haben unseren Auftrag noch nicht erfüllt“, erwiderte Miguel Camaro. „Wir brauchen noch wenigstens ein bis zwei Tapire, sonst wird der Alte wild. Ausruhen könnt ihr hinterher an Bord, wenn’s dort gerade nichts Besseres zu tun gibt.“
„Aber wir haben doch noch mehr als einen halben Tag vor uns.“
„Mag sein“, sagte Miguel unnachgiebig. „Aber die Beute dürfte nicht gerade leicht zu transportieren sein. Sie bis zu unserem Boot zu schaffen, wird wesentlich länger dauern, als nur ein Fußmarsch durch den Busch. Ganz davon abgesehen, daß wir bis jetzt noch gar nichts erbeutet haben. Auch das kann noch eine Weile dauern. Sollten wir vorzeitig bei unserem Boot sein, ich meine, noch vor der ‚Esmeralda‘, dann können wir uns immer noch auf die faule Haut legen. Aber erst ist die Arbeit dran!“
Die Männer schnitten mürrische Gesichter und zogen es vor, den Mund zu halten.
Nach einer Weile ließ sich Miguel Camaro wieder vernehmen. „Wenn wir nicht auf Indianer stoßen, müssen wir die Arbeit selber erledigen. Hier in der Nähe haben wir das Wasserschwein erwischt. Also muß sich irgendwo in dieser Gegend auch Wasser befinden. Dort werden wir auch auf Tapire stoßen, denn die halten sich ja meist in Wassernähe auf. Am besten, wir teilen uns hier in zwei kleine Gruppen. Wer zuerst auf Wasser stößt, gibt zwei Musketenschüsse ab.“
Doch die Männer kamen nicht mehr dazu, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ein lautes Rascheln und Knacken im Gehölz, ein Trampeln und Rumoren ließ sie plötzlich zusammenfahren.
Die Geräusche mußten ganz aus der Nähe stammen.
Sofort verstummte das Gespräch der Piraten. Mit hastigen Griffen brachten sie ihre Musketen in Anschlag.
„Kein Wort mehr“, sagte Miguel mit leiser Stimme. „Mir nach!“
Rasch folgten die Männer ihrem Anführer durch das Unterholz, bis sich nach wenigen Schritten eine große, nur mit niedrigen Büschen und Sträuchern bewachsene Lichtung vor ihnen auftat. Nur vereinzelt ragte der Stamm einer Chonta-Palme in den Himmel. Zu ihrer Rechten fiel die Lichtung etwas ab, bis hin zu einem breiten Urwaldbach, der sich weiter hinten, irgendwo im Dickicht, verlor.
Aber nicht das war es, was die sechs Piraten von der „Esmeralda“ wie angewurzelt stehenbleiben ließ. Es war vielmehr das Geschehen, das sich vor ihren Augen auf der Lichtung abspielte.
Zwei merkwürdige Tiere liefen durch das Gestrüpp. Die Körper waren plump und außerdem hatten die Tiere lange und bewegliche Schnauzen und zierliche Füße an dünnen Beinen. Sie waren nicht viel größer als Schweine und rannten in panischer Angst durch das Gestrüpp.
Es waren unverkennbar Tapire, jene Dschungelbewohner, hinter denen die Männer der „Esmeralda“ her waren. Die beiden Tapire hatten die Richtung auf den breiten Urwaldbach eingeschlagen, weil sie meist, wenn sie eine drohende Gefahr bemerkten, dem Wasser zustrebten.
Und jetzt sahen die Piraten auch, was die beiden Tapire so in Panik versetzt hatte. Es waren fünf kleine, braune Gestalten mit langen blauschwarzen Haaren, die außer einer dünnen Schnur um den Leib nackt waren und von zwei Seiten auf die fliehenden Tiere zustürmten. In ihren Händen trugen sie lange Bambusrohre.
„Halt!“ zischte Miguel Camaro. „Das sind Indianer, und die kleinen, braunen Kerle sind hinter den Tapiren her. Seid vorsichtig! Die langen Bambusdinger, die sie in den Händen haben, sind nicht so harmlos, wie sie aussehen. Es sind Blasrohre, mit denen sie ihre vergifteten Pfeile abschießen. Wenn ein solcher Pfeil auch nur die Haut ritzt, muß das Opfer qualvoll sterben.“
„Warum erzählst du das, Miguel?“ flüsterte der kleine José. „Hältst du uns für blöd? Wir sind doch nicht das erste Mal im Dschungel, und mit Indianern hatten wir schon einige Male zu tun. Meinst du, wir wissen nicht, wie gefährlich diese Waffe ist?“
„Sei still jetzt!“ erwiderte Miguel mit zornigem Gesicht. „Sancho und Ibrahim, der Türke, sind das erste Mal mit uns auf Jagd. Es schadet nicht, wenn sie rechtzeitig erfahren, daß sie vorsichtig sein müssen.“
Die beiden Tapire begannen Haken zu schlagen. Aber auch die fünf braunhäutigen Indianer waren flink wie Katzen. Sie verstanden es, die Tapire einzukreisen und rückten so immer näher an sie heran. Der erste stoppte bereits seine Schritte und hob das gefährliche Blasrohr an den Mund. Es war bestimmt länger als zwei Yards.
Da zerschnitt die Stimme Miguels die Stille. „Los, José, leg die Muskete an! Du zielst auf das erste Tier und ich auf das zweite. Die kaufen wir uns rechtzeitig. Ihr anderen behaltet die Indianer im Auge. Schießt nicht auf die Tiere, sondern spart euch die Kugeln für die kleinen, braunen Teufel auf. Feuer, José!“
Zwei Schüsse krachten. Das Tier, das sich Miguel Camaro vorgenommen hatte, bäumte sich kurz auf und ging zu Boden. Der andere Tapir jedoch rannte unbeirrt weiter und hatte schon fast das Wasser erreicht.
„Verdammt!“ zischte Miguel Camaro. „Warum hast du nicht besser gezielt? Hast du keine Augen im Kopf? Oder hast du vielleicht Schiß vor den Indianern?“
José sagte nichts, warf aber Miguel