Seewölfe Paket 12. Roy Palmer
Gefühl, als würden sie von tausend unsichtbaren Augen belauert.
Er kannte schließlich die Indianer und deren Einstellung zu den Weißen, die immer wieder versuchten, ihnen das aufzudrängen, was sie unter „Zivilisation“ verstanden.
Besonders die Spanier und Konquistadoren hatten daran den Hauptanteil. Die „Zivilisation“, die sie den Eingeborenen bis jetzt gebracht hatten, bestand größtenteils aus Bekehrungen und üblen Krankheiten, an denen zum Teil ganze Volksstämme zugrunde gingen. Kein Wunder also, daß die meisten Indianer immer wieder Weiße mordlustig angriffen und dabei ihren aufgestauten Haß ins Spiel brachten.
„Wenn es hier Eingeborene gibt“, unterbrach Ed Carberry die Überlegungen Hasards, „dann haben die uns natürlich längst bemerkt. Die verschwundenen Skelette beweisen das ja. Aber das bedeutet für uns auch, daß wir unsere Augen verdammt offenhalten müssen, wenn unsere Schädel nicht als Schrumpfköpfe an irgendeinem Hütteneingang baumeln sollen. Die kleinen, braunen Kerle verstehen sich darauf.“
Die rauhen Männer konnten nicht verhindern, daß ihnen bei dieser Bemerkung des Profosses ein kalter Schauer über den Rücken lief. Sie waren bereits früher den Tsantas, den oft nur faustgroßen Schrumpfköpfen, begegnet, die die Indianer durch ein besonderes Verfahren aus den Köpfen besiegter Feinde herstellten.
Selbst jene Eingeborenen, die durch die verschiedenen Ansiedlungen häufigen Kontakt zu Weißen hatten, waren nach wie vor auf Tsantas mindestens genauso verrückt wie auf den Schnaps und die Waffen der weißen Siedler und Abenteurer.
„Bis jetzt haben wir unsere Köpfe noch“, unterbrach Hasard das betretene Schweigen, „und zwar in altgewohnter Größe. Nur sollten wir tatsächlich darauf achten, daß wir sie auch behalten.“
Unwillkürlich schlossen sich die Hände der Männer fester um die Waffen, die sie bei sich trugen.
Batuti hatte während des Gespräches damit begonnen, das Gerippe der Galeone zu umrunden. Er versuchte, Fußspuren im Sand zu entdecken. Seinen scharfen Augen entging kein Zoll der Sandbank, vom Wasser bis hinüber zum beginnenden Mangrovendickicht.
Aber die Mühe war vergebens, es war kein Anzeichen einer Spur zu finden. So blieb nur der Schluß, daß die Flut inzwischen alle Spuren verwischt haben mußte.
Schulterzuckend kehrte der schwarze Herkules, der vor Jahren in einer Mission gebrochen Englisch gelernt und bis zu seiner Befreiung durch den Seewolf als Sklave unter Spaniern gelebt hatte, zu den übrigen Männern zurück.
„Keine Spuren“, sagte er. „Batuti nichts finden. Buschmänner müssen Flügel haben wie Sir John.“ Mit beiden Armen ahmte er die Flugbewegungen des Aracanga-Papageis nach und verzog sein knochiges Gesicht zu einem breiten Grinsen.
Doch seine Gesichtszüge wurden jäh wieder ernst. „Da!“ sagte er und deutete zum Dschungelrand hinüber. „Batuti hat etwas gesehen.“
Seine muskulöse Gestalt straffte sich, und in diesem Moment glich er einem sprungbereiten Löwen, der seine Beute ins Auge gefaßt hat.
„Was hast du gesehen?“ knurrte Ed Carberry. „Ein Bilgengespenst vielleicht?“
„Nix Gespenst“, sagte Batuti, der unverwandt zu der scheinbar undruchdringlichen grünen Mauer hinüberstarrte. „Es war kleines, braunes Mann. Es hat uns gesehen, dann schnell wieder weg. Batuti hat gute Augen. Sieht nix Gespenster. Da – wieder braunes Gestalt“, setzte er hinzu.
Noch während die übrigen Männer angestrengt zum Waldrand hinübersahen, ohne etwas Auffälliges wahrzunehmen, geriet Leben in die schwarze Gestalt Batutis.
Ohne noch ein Wort zu sagen, schnellte der Mann aus Gambia wie ein Pfeil von der Sehne los und jagte mit langen Sprüngen auf das Mangrovendickicht zu.
Der kleine Piratentrupp unter der Führung Miguel Camaros hatte den Tapir, den sie den Indianern abgejagt hatten, fachgerecht ausgenommen.
Nun banden sie dem Tier die Füße zusammen und hängten es an ein langes, kräftiges Aststück. Ibrahim, der Türke, und ein Araber namens Abdullah packten die Last und legten sich die Stangen über die Schultern. Die übrigen Männer sicherten mit ihren Waffen den Transport, der sich rasch in Bewegung setzte, und zwar in Richtung Küste, wo in ihrem Beiboot bereits ein erlegtes Wasserschwein und verschiedene Früchte auf sie warteten.
Obwohl der Weg beschwerlich war und den Piraten der Schweiß in Strömen über den Körper rann, versuchten sie, so rasch wie möglich ihr Ziel zu erreichen. Sie achteten kaum auf die Scharen von lästigen Insekten, die ihnen brennende und jukkende Bißwunden beibrachten und auch nicht auf die Zweige, die ihnen blutige Striemen ins Gesicht schlugen.
Der Grund für ihre Eile war nicht schwer zu erraten. Er lag bei den kleinen, nackten Gestalten, denen sie den Tapir abgejagt hatten. Und José, einer der brauchbarsten Männer an Bord der „Esmeralda“, hatte dafür mit dem Leben bezahlt. Er war einen harten, grausamen Tod gestorben, verursacht durch einen vergifteten Pfeil, der ihm in die rechte Schulter gefahren war.
Obwohl auch José einen Indianer durch einen Musketenschuß getötet hatte, war Miguel Camaro davon überzeugt, einen schlechten Tausch abgewickelt zu haben. Sie hatten zwar weisungsgemäß einen Tapir erbeutet, aber dafür war ein Mann auf der Strecke geblieben.
Was würde wohl ihr Kapitän, Alfredo Fernandez, dazu sagen? Diese Frage schwebte, wenn auch unausgesprochen, über ihm. Nicht etwa, daß der Señor Capitán am Kummer und Gram über den Tod Josés zerbrechen würde, o nein, aber an Bord der „Esmeralda“ zählte nach wie vor jeder Mann, der mit seinen Waffen umzugehen verstand. Und so marschierte der kleine Trupp von fünf Männern mit gemischten Gefühlen seinem Ziel entgegen.
Miguel Camaro führte die Gruppe an. Fernando und Manuel, zwei Landsleute bildeten die Nachhut. Dazwischen marschierten Ibrahim und Abdullah mit dem erlegten Tapir.
Miguel Camaro schätzte, daß sie bereits die Hälfte ihres Weges zurückgelegt hatten, als ihn plötzlich ein markerschütternder Schrei herumfahren ließ.
Es war Fernando, der diesen Schrei ausgestoßen hatte, und die Ursache war ganz offensichtlich.
Der große, breitschultrige Mann taumelte, versuchte dann, sich an einem Ast festzuhalten, aber seine Hände griffen vorbei. Dann sank er langsam, mit einem erstaunten Gesichtsausdruck, zu Boden und rührte sich nicht mehr. Aus seinem Rücken ragte der Schaft eines Pfeils. Nicht eines kleinen Giftpfeils, sondern eines Pfeils, der mit einem Bogen abgeschossen worden war.
„Bei Allah, das waren Indianer!“ stieß Abdullah, der Araber, hervor.
Wie auf Kommando ließen die beiden Träger den ausgenommenen Tapir auf den Boden fallen. In Windeseile drückten sich die Männer ins Dickicht, die Musketen schußbereit in den Händen.
Aber sie sahen und hörten nichts, außer den Geräuschen des Dschungels, an die sich ihre Ohren bereits gewöhnt hatten. Trotzdem wußten sie, daß irgendwo hinter ihnen im dichten Gestrüpp kleine, aber muskulöse Gestalten lauerten – jederzeit bereit, den lautlosen Tod zu ihnen zu schicken.
„Verdammt, die Buschmänner werden immer angriffslustiger“, zischte Miguel Camaro den anderen Piraten zu. „Vor einiger Zeit sind sie über einen einzigen Musketenschuß noch so erschrocken, daß sie sich nie mehr blicken ließen. Jetzt wollen sie wohl den offenen Kampf. Sie haben anscheinend Verstärkung geholt und sind uns gefolgt.“
„Allah sei uns gnädig“, flüsterte Abdullah, der Araber, und die Züge seines Gesichtes verrieten nackte Angst. „Ein Seegefecht wäre mir zehnmal lieber. Da sieht man wenigstens seinen Feind vor sich. Aber hier – hier lauert ein unsichtbarer Tod in unserem Rücken.“
„Nun laß nicht gleich deine Hosen flattern, du Ratte“, gab Miguel Camaro mit leiser Stimme zurück. „Sieh lieber zu, daß du deinen Eierkopf auf den Schultern behältst, statt hier vor Angst zu schlottern.“
Im selben Augenblick sah Camaro ungefähr dreißig Yards entfernt eine kleine, nackte Gestalt hinter dem Stamm einer Chonta-Palme verschwinden. Sofort riß er seine Muskete hoch, und gleich darauf