Seewölfe Paket 12. Roy Palmer
zur Erde geschleudert wurden.
Ein Papageienschwarm war durch den Schuß aufgescheucht worden. Laut schnatternd und kreischend stoben die Vögel aus dem Geäst über den Piraten und hoben sich in den Himmel. Auch das Gebrüll der Affen klang plötzlich lauter und aufgeregter.
Aber sonst rührte sich nichts. Trotzdem waren die Indianer da. Niemand zweifelte daran, und es war ein nervenzerfressendes Gefühl, sich aus vielen Augen beobachtet zu fühlen, ohne selbst jemanden zu sehen.
„Los!“ sagte Miguel, der Anführer. „Pirschen wir uns vorsichtig etwas näher an sie heran. Wir müssen sie erwischen oder in die Flucht schlagen, sonst werden wir sie nicht mehr los. Sie folgen uns unter Umständen wie unsichtbare Schatten bis zur Küste. Bevor wir uns versehen, haben wir wie Fernando einen Pfeil im Rücken oder, was noch schlimmer ist, einen dieser kleinen Giftpfeile irgendwo im Fleisch.“
Abdullah murmelte irgend etwas in einer Sprache, von der Miguel Camaro kein Wort verstand. Es mußte wohl Arabisch sein, und mit ziemlicher Sicherheit mußte er wiederum Allah beschworen haben, sich seiner doch endlich zu erbarmen.
Aber die für himmlisches Erbarmen zuständige Stelle mußte bei dieser Affenhitze wohl auch geschlossen haben, denn nichts ließ darauf schließen, daß sich an der bestehenden Lage etwas veränderte.
Vorsichtig krochen die vier übriggebliebenen Piraten durch das Dikkicht. Dann verhielten sie wieder einen Moment lauschend.
Da plötzlich schnellte sich die braune Gestalt wieder hinter dem Stamm der Palme hervor und schoß flink wie eine Katze auf das dichte Gestrüpp zu seiner Linken zu.
Ibrahim, der Türke, der die ganze Zeit über recht schweigsam gewesen war, reagierte als erster. Ein Schuß aus seiner Muskete krachte, und die Kugel traf.
Die braune Gestalt stürzte zu Boden, raffte sich aber sofort wieder auf und verschwand hinkend im Gebüsch.
Miguel Camaro stieß einen langen Fluch aus. „Warum hast du nicht besser gezielt? Der Kerl ist nur angeschossen. Selbst in diesem Zustand sind die Burschen noch gefährlich.“
Doch Ibrahim konnte ihm auf diesen Vorwurf nicht mehr antworten. Irgend etwas zischte durch die Luft, unheimlich und fast lautlos, und der Türke brach mit einem Aufstöhnen zusammen. Seine Augen starrten Miguel Camaro an, aber es war ein Blick, der alles und nichts zu sehen schien. Ibrahim war tot.
Ein ellenlanger spanischer Fluch tönte durch das Dickicht. Die drei übrigen Piraten schienen die Nerven zu verlieren. Miguel Camaro, Manuel und Abdullah schossen blindlings ihre Musketen ab, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Dann rissen sie noch die Pistolen aus den Gürteln und feuerten blindwütig in die Richtung, aus der man den Pfeil wahrscheinlich abgefeuert hatte.
Aber kein Laut, kein Aufschrei verriet, daß eine ihrer Kugeln ein lebendes Ziel gefunden hatte.
Die Piraten waren sich darüber im klaren, daß sie zu dritt keinen Kampf mehr gewinnen konnten. Deshalb begannen sie sofort, sich zurückzuziehen, und zwar so schnell sie konnten. Sie dachten nicht mehr an den Tapir, der auf der Erde lag. Nachdem sie sich ins Dickicht zurückgezogen hatten, begannen sie zu laufen, so rasch ihre Beine sie zu tragen vermochten.
Doch sie konnten keinen Verfolger wahrnehmen. Die Indianer schienen mit ihrer Rache zufrieden zu sein und mit ihrer „Beute“ ebenfalls.
Die drei fliehenden Piraten wußten sehr wohl, was mit ihren beiden Kameraden, Fernando und Ibrahim, die sie nicht einmal hatten begraben können, geschehen würde.
Tsantas – das war das Wort, das ihnen trotz der Hitze eiskalte Schauer über die Rücken jagte.
Allein der Gedanke daran ließ sie ihre Schritte immer wieder beschleunigen. Sie achteten nicht mehr auf Zweige, die ihnen das Gesicht zerkratzten und auf Lianen, deren Geschling sie schon mehrmals zu Fall gebracht hatte.
Immer wieder rafften sie sich auf, um so rasch wie möglich die Küste zu erreichen. Dabei hofften sie inbrünstig, daß die „Esmeralda“ schon auf sie warten würde. Anderenfalls würden sie mit dem Beiboot ein Stück in die Bucht hinauspullen, um aus der Reichweite der tödlichen Pfeile der Indianer zu gelangen.
Endlich war es so weit.
In der feuchten Luft lag bereits der salzige Geruch des Wassers. Jeden Moment mußte die Bucht vor den Augen der Piraten auftauchen. Schon wenige Augenblicke später betraten sie den Sand, der leicht abschüssig ins Wasser mündete.
Dann sahen sie ihr Schiff, die „Esmeralda“. Aber was war mit der Galeone geschehen? War das noch dieselbe „Esmeralda“, auf der sie seit Monaten durch die See gefahren waren? Oder war es ein Geisterschiff, das da als halbes Wrack eine Kabellänge vom Ufer entfernt vor Anker gegangen war?
Der Schreck fuhr ihnen durch alle Glieder, als sie die schwer angeschlagene Galeone mit den Augen abtasteten. Sie schien im Kampf mit irgendeinem Gegner eine kräftige Abfuhr erhalten zu haben. Allein der zerfetzte Besanmast war dafür ein trauriger Beweis.
Einige Männer an Bord begannen zu winken. Da schoben die drei Schnapphähne in Windeseile das Beiboot ins seichte Wasser und pullten wie die Besessenen zu ihrem Schiff hinüber.
Wie ein Wirbelwind raste Batuti in das hoch aufspritzende Wasser. Wenn er den Waldrand, der dicht an der nahen Flußmündung begann, erreichen wollte, mußte er ein Stück durch das von Mangroven durchwucherte Wasser waten.
„Nix Bilgengespenst!“ rief er mit grimmigem Gesicht. „Batuti hat echtes Buschmann gesehen. Dort drüben am Flußufer, wo Wald beginnt.“
Noch bevor jemand den schwarzen Herkules zurückrufen konnte, arbeitete er sich bereits durch das flache Wasser, das die Wurzeln des Dikkichts umspülte. Die Muskete hielt er fest in der Hand, immer darauf bedacht, die Waffe nicht feucht werden zu lassen.
Batuti wollte beweisen, daß er sich nicht irrte. Schließlich hatte er sich stets auf seine Augen verlassen können. Es waren zwei nackte, muskulöse Gestalten mit gedrungenen Oberkörpern, die dort drüben hinter der grünen Mauer des Urwaldes verschwunden waren.
Er selbst war ein Mann des Dschungels. Kaum jemand kannte wie er die Gefahren und Tücken der grünen Hölle, und kaum jemand verstand es wie er, Spuren, Bewegungen und Geräusche wahrzunehmen und zu deuten.
Er war im Dschungel Gambias, an der Westküste des schwarzen Kontinents, aufgewachsen und schon als Kind stolz gewesen auf sein ausgeprägtes Wahrnehmungsvermögen. So war es nichts Außergewöhnliches, daß er dort etwas sah, wo andere nur das Wogen des Blätterdaches oder das leichte Schwingen der Lianen registrierten.
Batuti, der wie die anderen Mannschaftsmitglieder der „Isabella“ dem Seewolf als zuverlässiger Partner zur Seite stand, war schnell und wendig wie eine Katze. Und er war ein Kämpfer, dem man besser nicht unter die kräftigen Fäuste geriet. Schon in vielen brenzligen Situationen hatte er unter Beweis gestellt, daß er absolut in Form war und es verstand, wie ein Löwe zu kämpfen.
So rasch es ging, durchwatete der schwarze Mann das tiefer werdende Wasser, in dem sich das grelle Sonnenlicht spiegelte.
Wurzeln und Zweige des dichten Gestrüpps peitschten dabei an seinen Körper und zerkratzten ihm stellenweise die Haut. Aber Batuti maß dem nicht mehr Bedeutung bei als einem lästigen Moskitostich. Er sah ein Ziel vor Augen, und um das zu erreichen, gab es nur diesen unbequemen und gefährlichen Weg. Er mußte ihn gehen, wenn er jenseits der Mangroven in die Nähe des Flußufers den Wald erreichen wollte, in dem die beiden Gestalten verschwunden waren.
Batuti war davon überzeugt, daß sich die Indianer noch dort drüben aufhielten – versteckt und lauernd im dichtwuchernden Gebüsch. Er mußte deshalb vorsichtig sein, um nicht in eine Falle zu tappen oder von einem der gefürchteten Giftpfeile erwischt zu werden, die die Eingeborenen dieses riesigen Kontinents so geschickt aus ihren Blasrohren abzuschießen verstanden.
Der schwarze Mann aus Gambia vermutete, daß die Eingeborenen, die er für einen winzigen Augenblick gesehen hatte, eng mit dem Geheimnis verknüpft waren, das das Wrack hinter ihm auf der Sandbank umgab.
Nichts tat