Seewölfe Paket 12. Roy Palmer
suchte eine Schar Wollaffen mit lautem Geschrei das Weite. Die kleinen, braunen Männer mit den langen, schwarzen Haaren blieben plötzlich wie angewurzelt stehen. Für einen Moment waren sie starr vor Schreck, denn sie hatten während der Tapirjagd nicht auf ihre Umgebung geachtet.
Aber der Schreckmoment war nur sehr kurz. Dann geriet plötzlich wieder Leben in die nackten Gestalten. Wie auf Kommando drehten sie sich um und hetzten auf das Uferdickicht des breiten Urwaldbaches zu.
„Los, Leute, nur nicht einschlafen!“ brüllte Miguel Camaro. „Kauft euch die Burschen, bevor sie dort irgendein Boot erreichen und verschwinden. Sie können uns das Fleisch des Tapirs zur Bucht tragen. Darüber wird sich mancher von euch bestimmt freuen. Auf, ihnen nach!“
Mit lauten Flüchen nahmen die sechs Piraten die Verfolgung der Indianer auf.
José, der wohl meinte, die vorausgegangene Schlappe wieder ausgleichen zu müssen, stoppte plötzlich seine Schritte, ging in die Knie, legte erneut an und schoß.
Ein Feuerstrahl fuhr aus dem Lauf der Muskete, und Pulverdampf wolkte hinterher.
Im selben Augenblick begann einer der Indianer zu taumeln, stürzte zu Boden und wollte sich wieder aufrappeln, blieb dann aber still liegen.
José hatte ihn erwischt.
Der Pirat ging aus der Hocke und lief weiter. Einem seiner Kameraden drückte er noch während des Laufens die leergeschossene Muskete in die Hand.
„Lade sie nach!“ rief er. „Und gib deine her!“
Er wartete gar nicht erst ab, sondern riß Ibrahim, dem Türken, die Waffe aus der Hand. „Ich werde mir den nächsten kaufen. Paß mal auf, wie man das erledigt!“
Wieder stoppte er und riß die Muskete hoch, um zu zielen. Da trat eine unerwartete Wende ein.
Die braunen Männer hatten das Ufer des Baches erreicht und zogen blitzschnell ein langes, schmales Boot aus dem Dickicht. Drei davon drehten sich plötzlich um, hoben die langen Blasrohre, und dann zischten drei tödliche Pfeile den Verfolgern entgegen – völlig still und lautlos, ohne Krachen und Pulverdampf.
Zwei der kleinen Pfeile, deren Spitzen man in irgendein hochgiftiges Gebräu getaucht hatte, verfehlten ihr Ziel. Sie verloren sich irgendwo im Gebüsch.
Aber einer der Pfeile traf, und zwar José, der gerade den Hahn der Muskete durchziehen wollte. Er stieß einen kurzen Schrei aus, verdrehte die Augen und ließ die Waffe fallen. Dann kippte er langsam zur Seite. Für einen Augenblick lag er still, dann begann sich sein Körper in Krämpfen zu winden.
Es war gut für die anderen, daß sie sich im Moment ganz auf die flüchtenden Indianer konzentrieren mußten, sonst wäre ihnen das Blut in den Adern erstarrt, wenn sie den Todeskampf Josés miterlebt hätten.
Die Indianer hatten es inzwischen geschafft, ihr langes, aber sehr leichtes Boot in das flache Wasser zu bringen. In Windeseile tauchten sie die Riemen ein und pullten los. Gleich darauf verschwanden sie in der Dunkelheit des dichten Blätterdaches, das über dem Bach zusammenwuchs. Die Kugeln, die die Piraten noch hinterherschickten, verfehlten ihr Ziel.
Miguel Camaro war wütend und ließ eine Serie der lästerlichsten Flüche vom Stapel, als sie zu jener Stelle zurückgekehrt waren, an der José lag. Er war inzwischen tot. Mit weit aufgerissenen Augen lag er auf dem Rücken und blickte ins Leere.
Betroffen sahen sich die Männer an. Hatten sie nicht noch vor wenigen Augenblicken über die Gefährlichkeit der Giftpfeile gesprochen? Und hatte nicht gerade José seinen Unmut darüber geäußert? Jetzt lag er da – mit gebrochenen Augen, deren Blick sich in der endlosen Weite des blauen Himmels verlor.
„Fernandez wird toben“, sagte Miguel, „denn José war ein vielseitig verwendbarer Mann. Aber wir können es nicht mehr ändern. Da hätte er eben besser aufpassen müssen. Los, sehen wir zu, daß wir ihn notdürftig begraben. Und dann wird der Tapir ausgenommen und zum Beiboot getragen, verstanden? Und beeilt euch gefälligst, sonst kann es passieren, daß wir noch die ganze Meute auf den Hals kriegen.“
Sofort gingen die vier übrigen Männer an die Arbeit, nicht ohne von Zeit zu Zeit innezuhalten und verstohlene Blicke zum Waldrand hinüberzuwerfen.
Die schweren Eisenkugeln, die das Piratenschiff abgefeuert hatte, verfehlten ihr Ziel nur um Haaresbreite. Zwei der Kugeln klatschten unmittelbar vor der Steuerbordseite der „Isabella“ ins Wasser und rissen hohe, gischtende Fontänen auf.
„Laßt uns die passende Antwort geben!“ brüllte Philip Hasard Killigrew vom Achterdeck. „Feuer!“
Augenblicklich war in der stillen und scheinbar so friedlichen Baja de Marajo, in der einige Urwaldflüsse zusammenströmten und ihre ungeheuren Wassermassen in den Atlantik ergossen, die Hölle los.
Kaum hatte der Seewolf den Schießbefehl erteilt, dröhnte der vielstimmige Schlachtruf seiner Crew zu dem angreifenden Piratenschiff hinüber.
„Ar-we-nack – Ar-we-nack!“ tönte es aus rauhen Männerkehlen. Und im selben Atemzug sollten die Angreifer zu spüren kriegen, was dieser Schlachtruf zu bedeuten hatte.
Die acht Siebzehnpfünderculverinen auf der Steuerbordseite der „Isabella“ brüllten los und stießen mit ungeheurer Wucht ihre Ladungen aus den Rohren. Die Culverinen rollten zurück, und grauschwarze Wolken von Pulverdampf zogen über die Kuhl.
Während eine Kugel die Schmuckbalustrade auf dem Achterdeck des Piratenschiffes wegfegte und einen Trümmerregen auf das Wasser der Bucht niedergehen ließ, zerfetzte eine weitere Kugel den Besanmast und ließ den Angreifern die Holzsplitter um die Ohren fliegen. Ein drittes Geschoß schlug der Galeone, deren Name „Esmeralda“ nur mit Mühe zu entziffern war, ein Loch in die Bordwand, und zwar direkt unterhalb eines Geschützes.
Laute Flüche und Wutgeschrei drang zu den Seewölfen herüber. Dazwischen ertönte ein erschreckter Ausruf, der an Bord der „Isabella“ deutlich zu verstehen war.
„El Lobo del Mar! Das ist El Lobo de Mar, Señor Capitán“, brüllte eine Stimme auf Spanisch. Die Piraten mußten also begriffen haben, mit wem sie sich da angelegt hatten.
Aber es blieb ihnen nur wenig Zeit, darüber weiter nachzudenken, denn Ed Carberry und der Kutscher hatten inzwischen die Lunten in die Zündlöcher je einer der beiden vorderen und achteren Drehbassen gestoßen. Unmittelbar darauf prasselte ein verheerender Regen aus Eisenstücken zu der dickbauchigen Galeone hinüber.
Als Folge wies das Focksegel der „Esmeralda“ ein wüstes Lochmuster auf, und zwei Gestalten mit Stirnbinde und zerlumpten Leinenhosen schrien auf und gingen hinter dem Schanzkleid auf die Planken.
Aber auch die Piraten waren inzwischen nicht untätig gewesen. Offensichtlich hatten sie ihre Geschütze inzwischen nachgeladen.
Seit der überraschte Ausruf „El Lobo del Mar!“ die Besatzung des Piratenschiffes aufgeschreckt hatte, erreichten die Aktivitäten an Bord der „Esmeralda“ einen Zustand der Hektik. Dazu trugen sicherlich auch die geballten Ladungen bei, die ihnen die Seewölfe bis jetzt verpaßt hatten.
Eine solch rasche und verheerende Reaktion hatten sie von der „Isabella“, die sie wahrscheinlich für ein spanisches Handelsschiff gehalten hatten, nicht erwartet. Trotzdem schienen sie nach wie vor entschlossen zu sein, den Kampf für sich zu entscheiden.
Zum zweiten Male krachten die Geschütze des Piratenschiffes und schickten ihre Ladung zur „Isabella“ herüber.
Diesmal zerfetzte eine Kugel teilweise die Balustrade, die die Back zum Galionsdeck hin abgrenzte.
Eine weitere Kugel ließ den Profos der „Isabella“, der an einer achteren Drehbasse auf Station war, rasch den Kopf einziehen. Und diese Reflexbewegung war es wohl auch, die ihn vor ernsterem Schaden bewahrte. Die übrigen Geschosse waren zu kurz gesetzt und peitschten das Wasser in unmittelbarer Nähe der „Isabella“ auf.
Noch während die Culverinen der „Isabella“ ausgewischt und nachgeladen wurden, begannen wieder die Drehbassen auf dem Vorder- und Achterdeck,