Seewölfe Paket 1. Roy Palmer
„Hm.“ Die grauen Augen bohrten sich in Carberrys Augen. „Haben Sie einen bestimmten Verdacht?“
„Nein, Sir. Die Leute sind alle in Ordnung. Nur …“ Er verstummte und kratzte sich den Nacken.
„Was? Heraus mit der Sprache!“
„Na ja, ich dachte gerade an John Johns, der gestern nacht verschwunden ist. Ich dachte, ob da ein Zusammenhang besteht. Vielleicht hat er die Zapfhähne geöffnet und ist dann über Bord gesprungen.“
„Unsinn“, sagte der Kapitän knapp. „Können Sie mir mal verraten, was er davon gehabt haben sollte? Außerdem war John Johns ein guter Mann, so etwas Verrücktes würde ich ihm nie zutrauen.“ Er schüttelte den Kopf und dachte nach. Nach einer Weile sagte er: „Die tägliche Wasserration wird auf die Hälfte herabgesetzt. Bei der nächsten Prise ergänzen wir unseren Wasservorrat. Oder wir laufen die Azoren an und übernehmen von Land Wasser. Ich kenne da eine Stelle, wo wir keinem Portugiesen oder Don gleich auf die Füße treten. Also kein Grund zur Aufregung. Verdursten wird schon keiner. Aber halten Sie die Augen offen, Carberry. Ich möchte auch, daß Sie das dem Seewolf sagen. Er ist Decksältester und erfährt mehr über die Stimmung im Vordeck, als wir je zu hören kriegen.“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Fast halte ich ihn für den besten Mann an Bord der „Marygold“.
Dem konnte der Profoß nur zustimmen, obwohl er Hasard immerhin zwei Zahnlücken zu verdanken hatte. Allerding war der eine der beiden Zähne sowieso reif zum Abbruch gewesen. Na also.
Gegen Mittag gab’s dann einen handfesten Krach im Vordeck. Die beiden Männer, die den Backschaftsdienst versahen, hatten den Kessel mit der Kohlsuppe aus der Kombüse geholt und auf die aufklappbare Eßbank gestellt. Die Leute der Freiwache drängelten bereits und klapperten unisono mit den Löffeln gegen die Wandungen ihrer zinnernen Kummen.
Der eine Backschafter lüftete den Deckel und rührte kräftig mit einer Kelle in dem Kessel herum. Dann schöpfte er den ersten Schlag heraus und goß ihn in die bereitgehaltene Kumme von Smoky, der jetzt stellvertretender Decksältester war. Hasard hatte Wache und stand am Ruder.
Smoky und der Backschafter sahen es gleichzeitig. Smoky quollen die Augen aus dem Kopf, und der Backschafter, ein Mann namens Grotjan – ein blonder Holländer – kriegte flatternde Augenlider.
In der Kumme schwamm eine tote Ratte.
Smoky stellte die Kumme schweigend auf die Eßbank, griff mit zwei spitzen Fingern hinein und zog die Ratte am Schwanz aus der Kohlsuppe. Er betrachtete sie von allen Seiten und stellte mit fachmännischem Blick fest, daß sie ein gebrochenes Genick hatte. Woraus logisch zu folgern war, daß die Ratte nicht von selbst in der Kohlsuppe ersoffen war, sondern daß sie jemand – bereits tot – in die Suppe praktiziert hatte.
Aber wer?
Smoky behielt die Ratte am Schwanz und ließ sie kreisen. Dabei blickte er Grotjan schweigend und grimmig an.
„Ich – ich war’s nicht“, sagte Grotjan hastig, „pfui Teufel, ich tu doch keine Ratte in die Suppe.“
Smokys Blick wanderte zu dem anderen Backschafter.
„Ich war’s auch nicht“, sagte der, „ich bin doch nicht verrückt.“
„Hol Mac!“ sagte Smoky mit leiser und gefährlicher Stimme.
Der Backschafter lief los und kehrte mit Mac Pellew zurück. Die Männer, die einen Kreis um Smoky gebildet hatten und alles andere als fröhlich aussahen, ließen Mac durch und schlossen den Kreis wieder.
Smoky ließ die Ratte kreisen. Mac Pellews Augen kreisten mit. Er schob den dünnen Hals vor und beäugte mit rollenden Augen das tote Vieh, von dessen Fell die Kohlsuppe an Deck tropfte.
Smoky sagte: „Na, Mac?“
Mac Pellew schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte.
„Ist das ein Ding“, sagte er.
„Auf halber Wasserration sind wir schon“, sagte Smoky drohend. „Kriegen wir jetzt auch noch Ratten, statt Fleisch zu fressen, du Geier? Oder was soll das? Dann zieh dem Biest doch wenigstens vorher das Fell ab. Ich sollte dir die verdammte Ratte ins Maul stopfen, du Hurensohn.“
So leicht ließ sich Mac Pellew allerdings nicht in die Pfanne hauen. Er war zwar ein alter Miesgram, aber Mumm hatte er.
„Sag mal, du Blödmann“, blaffte er Smoky an, „meinst du vielleicht, daß auf meiner heutigen Menükarte Kohlsuppe mit Ratteneinlage steht, he? Meinst du das? Die Kohlsuppe wurde vom Kapitän angeordnet, weil sie gleichzeitig als Flüssigkeitsration dienen soll.“ Er knallte die rechte Faust in die linke Handfläche. „Jetzt ist die Suppe von dieser verdammten Ratte versaut, so ein Scheißkram.“
„Jawohl“, sagte Smoky, „da geb ich dir recht. Aber wenn du keine Ratten an uns verfütterst, wer dann, wie?“
„Gordon Brown“, sagte Mac Pellew prompt. „Diesem Schweinehund ist so was zuzutrauen. Ich war einmal weg aus der Kombüse, um den Abfalleimer außenbords zu kippen. In der Zeit kann er dies Mistdings in die Suppe geworfen haben.“
„Gordon Brown“, sagte Smoky sehr langsam und gedehnt. „Schau einer an.“ Und hart und knapp setzte er hinzu: „Hol ihn!“
Mac Pellew holte ihn. Der Kreis der Männer schloß sich wieder. Ihre Mienen waren ziemlich finster.
Gordon Brown starrte auf die Ratte, die Smoky am Schwanz hochhielt.
„Was soll’n das?“ fragte er.
„Die schwamm in der Kohlsuppe“, sagte Smoky. „Weißt du vielleicht, wie sie da reingeraten sein könnte?“
„Die ist reingefallen“, sagte Gordon Brown.
„Klar“, sagte Smoky tückisch. „Und erst hat sie sich das Genick gebrochen, und dann ist sie in den Kessel gestiegen, um ein Bad zu nehmen. Du mußt dir schon was Besseres einfallen lassen.“
„Die hat dieser Killigrew reingetan“, sagte Gordon Brown giftig.
Smoky wippte auf den Fußballen.
„Wie denn? Der Seewolf steht seit drei Stunden am Ruder. Wenn mich nicht alles täuscht, befindet sich das Ruder im Ruderhaus des Achteskastells. Von dort aus eine Ratte gezielt in den Topf auf den Kombüsenherd zu werfen, schaffte allenfalls einer, der mit des Teufels Großmutter versippt ist.“
„Dann war’s dieser Lümmel aus Falmouth.“
„Donegal Daniel O’Flynn befindet sich ebenfalls seit drei Stunden auf Wache, und zwar als Ausguck oben im Großmars. Schön. Er fängt eine Ratte, bricht ihr das Genick, steckt sie in die Tasche, steigt zum Großmars hoch und wirft sie von dort durchs obere Kombüsenluk in den Topf. Pech ist nur, daß der Herd nicht unter dem Luk steht. Was sagst du jetzt?“
„Leck mich doch“, sagte Gordon Brown.
Smoky übte eine bewundernswerte Geduld. „Könnte es nicht sein, daß du die Ratte in die Suppe getan hast?“
„Ich?“
„Das sagte ich. Mac erzählt uns nämlich, er habe die Kombüse mal verlassen, um den Abfall außenbords zu kippen.“
„Er lügt!“ schrie Gordon Brown.
Blacky mischte sich ein. Er trat aus dem Kreis der Männer einen Schritt vor und sagte drohend: „Er lügt nicht, ich habe nämlich gesehen, wie er die Pütz mit dem Abfall in die See gekippt hat. Oder willst du etwa behaupten, daß ich Tomaten auf den Augen habe, wie?“
Gordon Brown blickte sich gehetzt um. Er starrte in gnadenlose Gesichter.
„Haltet ihn fest“, befahl Smoky und grinste zufrieden. „Wir werden ihm das zu kosten geben, was wir fressen sollten – die Ratte ...“
„Nein!“ schrie Gordon Brown und schlug um sich.
Sie hatten ihn sehr schnell gebändigt. Vier Männer