Die Botschaft der Bhagavadgita. Sri Aurobindo
viel Nachdruck auf sie gelegt wird, engen sie schließlich viel von der Lehre ein, berauben sie ihrer Universalität und spirituellen Tiefe und beschränken so ihre Gültigkeit für die Menschheit im weiteren Sinn. Blicken wir aber dahinter auf den Geist und den Sinn und nicht auf den ortsbedingten Namen und die zeitbedingte Institution, sehen wir, dass auch hier die Bedeutung tief und wahr und der Geist philosophisch, spirituell und universal ist. Wir erkennen, dass die Gita unter Shastra das Gesetz versteht, das sich die Menschheit selbst auferlegt hat, um das rein egoistische Handeln des natürlichen, sündigen Menschen aufzuheben und über seine Neigungen eine Kontrolle auszuüben, damit er nicht in der Befriedigung seines Begehrens Maßstab und Ziel seines Lebens sucht. Auch sehen wir, dass die vierfältige Gesellschaftsordnung nur die konkrete Gestalt einer spirituellen Wahrheit ist. Diese selbst ist von der Form unabhängig. Sie beruht auf folgender Auffassung: Die Art des einzelnen Menschen, durch den das Wirken geschieht, drückt sich, richtig geordnet, im rechten Handeln aus, wobei diese Art ihm seine Richtung und seinen Bereich im Leben zuweist, im Einklang mit den ihm angeborenen Eigenschaften und dem sein Selbst ausdrückenden Aufgabenbereich. Da das der Geist ist, in dem die Gita ihre zumeist örtlich bestimmten besonderen Beispiele anführt, sind wir berechtigt, immer dasselbe Prinzip anzuwenden und nach der tieferen allgemeinen Wahrheit zu forschen, die gewiss stets dem zugrunde liegt, was auf den ersten Blick rein durch Ort und Zeit bestimmt zu sein scheint. Denn stets werden wir finden, dass die tiefere Wahrheit und das allgemeine Prinzip im Kern ihres Denkens vorausgesetzt ist, auch wenn das in ihrer Sprache nicht ausdrücklich betont wird.
In keinem anderen Geist werden wir auch mit dem Element philosophischer Lehre oder religiösen Bekenntnisses verfahren, das entweder in die Gita eindringt oder dank ihrer Verwendung der philosophischen Begriffe und religiösen Symbole, die damals geläufig waren, in ihr anklingt. Wenn die Gita von Sankhya und Yoga spricht, werden wir diese nur in den Grenzen dessen besprechen, was gerade für unsere Darstellung wesentlich ist. Dagegen nicht die Beziehungen des Sankhya der Gita mit seinem einzigen Purusha und seiner stark vedantischen Färbung zu dem überkommenen nicht-theistischen oder „atheistischen“ Sankhya mit seinem Schema der vielen Purushas und einer einzigen Prakriti. Und auch nicht den Yoga der Gita, der vielseitig, subtil, reich und biegsam ist, in seinem Verhältnis zur theistischen Lehre und zu dem festgelegten, wissenschaftlichen, streng definierten und in Stufen aufgebauten Yoga-System des Patanjali. In der Gita sind Sankhya und Yoga offensichtlich nur zwei konvergierende Teile derselben vedantischen Wahrheit oder vielmehr zwei sich vereinigende Wege, um sich ihrer Verwirklichung zu nähern: Der eine ist philosophisch, intellektuell, analytisch, der andere ist intuitiv, gottergeben, praktisch, ethisch, synthetisch und erlangt Wissen durch Erfahrung. Die Gita erkennt keinen wirklichen Unterschied in ihren Lehren an. Noch weniger brauchen wir uns mit jenen Theorien zu befassen, die die Gita als das Ergebnis eines besonderen religiösen Systems oder einer Tradition ansehen. Ihre Lehre ist universal, unabhängig von ihrem Ursprung.
Das philosophische System der Gita, ihre Darstellung der Wahrheit, ist nicht jener vitalste, tiefste und ewig beständige Teil ihrer Lehre. Doch ist das meiste Material, aus dem das System zusammengesetzt ist, nämlich die hauptsächlichen überzeugenden und eindringlichen Ideen, die in ihre komplexe Harmonie eingewoben sind, ewig wertvoll und gültig. Sind sie doch nicht nur lichtvolle Gedanken oder überraschende Spekulationen eines philosophischen Intellekts, vielmehr bleibende Wahrheiten spiritueller Erfahrung, als wahr erweisbare Tatsachen unserer höchsten psychologischen Möglichkeiten, die niemand unbeachtet lassen kann, der versucht, das Geheimnis des Seins in seiner Tiefe zu verstehen. Sei das System, was es wolle; sicherlich ist es nicht, wie die Kommentatoren es darzustellen sich bemühen, abgefasst oder bewusst angelegt, um ausschließlich eine bestimmte Schule philosophischen Denkens zu bestätigen oder um die Ansprüche einer bestimmten Form von Yoga mit Nachdruck vorzutragen. Die Sprache der Gita, ihre Denkstruktur, die Art, wie sie die Gedanken kombiniert und miteinander ausgleicht, passen weder zum Temperament eines sektiererischen Lehrers noch zum Geist einer streng analytischen Dialektik, die einen Gesichtswinkel der Wahrheit herausschneidet, um dann alle anderen auszuschließen. Vielmehr bewegen sich hier die Gedanken in einem weiten, die Wahrheit mit seinen Wogen umkreisenden Fluss, der ein grenzenloses synthetisches mentales Bewusstsein und eine reiche synthetische Erfahrung offenbart. Die Gita ist eines jener großen synthetischen Werke, an denen indische Spiritualität ebenso reich ist wie an der Schöpfung stark wirkender, vornehmer Bewegungen der Erkenntnis und religiösen Verwirklichung, die mit absoluter Konzentration eine einzige Grundlinie, einen Pfad bis hin zu seinen äußersten Ergebnissen verfolgen. Sie spaltet nicht, sie versöhnt und eint.
Das Denken der Gita ist kein reiner Monismus, obwohl sie in einem einzigen unwandelbaren, reinen, ewigen Selbst die Grundlage aller kosmischen Existenz sieht. Es ist auch nicht Mayavada, obwohl sie von der Maya der drei Erscheinungsformen von Prakriti spricht, die in der erschaffenen Welt allgegenwärtig sind. Auch ist es kein eingeschränkter Monismus, obwohl sie in dem Einen, der in der Gestalt des Jiva geoffenbart ist, seiner ewigen höchsten Prakriti ihren Platz anweist und das größte Gewicht darauf legt, dass das spirituelle Bewusstsein in seinem höchsten Zustand in Gott wohnt, nicht aber aufgelöst wird. Ferner ist es nicht das Sankhya, obwohl es die erschaffene Welt durch das doppelte Prinzip von Purusha und Prakriti erklärt. Und es ist kein Vaishnava-Theismus (der Verehrer des Vishnu, d. Ü.), obwohl es Krishna, der nach den Puranas der Avatar Vishnus ist, als die erhabene Gottheit darstellt und keine wesentliche Unterscheidung bzw. keine tatsächliche Überlegenheit an Rang zulässt zwischen dem undefinierbaren beziehungslosen Brahman und diesem Herrn der Wesen, der der Meister des Universums und der Freund aller Geschöpfe ist. Wie die frühere spirituelle Synthese der Upanishaden vermeidet diese spätere Synthese, die zugleich spirituell und intellektuell ist, ihrer Natur nach jede solche strenge Abgrenzung, die ihre universale Weite beeinträchtigen würde. Ihr Ziel ist genau entgegengesetzt dem der polemisierenden Kommentatoren, die in dieser Schrift eine der drei höchsten vedantischen Autoritäten aufgerichtet sahen und sie in eine Angriffs- und Verteidigungswaffe gegen andere Schulen und Systeme zu verwandeln suchten. Die Gita ist keine Waffe für dialektische Kriegsführung. Sie ist ein Tor, das Zugang zur ganzen Welt spiritueller Wahrheit und Erfahrung verschafft. Der Überblick, den sie uns gewährt, umfasst alle Gebiete dieser erhabenen Region. Sie stellt sie „kartografisch“ dar, aber sie zerschneidet sie nicht durch Mauern oder Zäune, die unsere Schau begrenzen.
In der langen Geschichte indischen Denkens gibt es noch andere Synthesen. Wir beginnen mit der Synthese der Veden. Diese verknüpft das psychologische Wesen des Menschen in seinem höchsten Flug und weitesten Schweifen in den Bereichen göttlicher Erkenntnis, Macht, Freude, Leben und Herrlichkeit eng mit dem kosmischen Dasein der Götter und geht ihnen hinter den Symbolen des materiellen Universums nach in jene höheren Ebenen, die den physischen Sinnen und der materiellen Mentalität verborgen sind. Die Krönung dieser Synthese war in der Erfahrung der vedischen Rishis etwas Göttliches, Erhabenes und Beseligendes, in deren Einung sich die aufschwingende Seele des Menschen und die ewige göttliche Fülle der kosmischen Gottheiten in vollkommener Weise treffen und zur Erfüllung bringen. Die Upanishaden nehmen diese krönende Erfahrung der früheren Seher auf und machen sie zu ihrem Ausgangspunkt für eine erhabene, tiefgründige Synthese spiritueller Erkenntnis. Zu einer umfassenden Harmonie ziehen sie all das zusammen, was durch eine große und an Früchten reiche Periode spirituellen Suchens hindurch von den inspirierten und befreiten Menschen, die das Ewige erkannten, geschaut und erfahren wurde. Von dieser Synthese des Vedanta nimmt die Gita ihren Ausgang und errichtet auf der Grundlage ihrer wesentlichen Ideen eine andere Harmonie der drei großen Mittel und Mächte Liebe, Wissen und Werke, durch die sich die menschliche Seele unmittelbar dem Ewigen nahen und sich in das Ewige versenken kann. Später gibt es noch eine andere Synthese, die des Tantra1. Sie ist zwar weniger subtil und spirituell tief, aber noch kraftvoller und kühner als die Synthese der Gita. Denn sie packt gerade die Hindernisse zu einem spirituellen Leben an und zwingt sie, Mittel für eine reichere spirituelle Eroberung zu werden. Dadurch befähigt sie uns, das Ganze des Lebens im Horizont unseres göttlichen Schauens als das Lila des Göttlichen2 zu umfassen. In mancher Hinsicht ist das Tantra unmittelbar reich und fruchtbar, denn es bringt, zusammen mit dem göttlichen Wissen, den göttlichen Werken und der gesteigerten