Die Botschaft der Bhagavadgita. Sri Aurobindo
Lehrer, Vetter, Söhne und Enkel, Gefährten, Schwiegerväter, Wohltäter einander gegenüberstehend.
1.27
Als er all diese Verwandten kampfbereit dastehen sah, wurde Kaunteya (Arjuna) von tiefem Mitleid ergriffen. Traurig und niedergeschlagen äußerte er sich wie folgt:
1.28-29
Arjuna sprach:
Wenn ich hier meine eigenen Verwandten in Schlachtordnung vor mir sehe, O Krishna, werden meine Glieder schwach, mein Mund dörrt mir aus, mein Leib erzittert, und meine Haare sträuben sich. Gandiva (der Bogen Arjunas) entgleitet meiner Hand, und meine ganze Haut scheint zu brennen.
Zunächst kommt es zu einer heftigen Krise seiner Gefühle und seines Körpers, die Abscheu vor der Tat, ihren materiellen Zielen und dem Leben selbst hervorruft. Er weist das vitale Ziel zurück, das von egoistischen Menschen bei ihrem Handeln verfolgt wird: Glücklichsein und Genießen. Er entsagt auch dem vitalen Ziel des Kshatriya, dem Verlangen nach Sieg, Ordnung, Macht und Herrschaft über Menschen. Was ist schließlich dieser Kampf für Gerechtigkeit, wenn man ihn rein vom Praktischen her begreift, anderes als nur ein Kampf für die eigenen Interessen, für die seiner Brüder und seiner Partei, um Besitz, Genuss und Herrschaft? Für diese Dinge ist aber ein solcher Preis viel zu hoch. Denn sie haben keinen Wert an sich sondern nur als Mittel, das gesellschaftliche und nationale Leben wirklich zu fördern. Gerade diese Ziele will er nun in der Person seiner Verwandten und seines Volkes zerstören. Hier kommt es zum Aufschrei seiner Gefühle. (24)
1.30
Ich kann nicht mehr aufrecht stehen, und mir scheint sich der Kopf zu drehen; auch sehe ich schlechte Vorzeichen, O Keshava.
1.31
Nichts Gutes erkenne ich darin, dass ich meine Verwandten in der Schlacht töte; O Krishna, ich begehre weder Sieg, noch Herrschaft, noch Freuden.
1.32-35
Was bedeutet Herrschaft für uns, O Govinda, was bedeuten uns Freuden, ja selbst das Leben? Jene, um derentwillen wir Herrschaft, Genüsse und Freuden begehren, stehen hier im Kampf und setzen ihr Blut und Gut ein – Lehrer, Väter und Söhne, auch Großväter, Onkel, Schwiegerväter, Enkel, Schwäger und sonstige Blutsverwandte. Nie brächte ich es über mich, sie zu erschlagen, O Madhusudana, und wenn ich selber erschlagen würde; nicht einmal für die Herrschaft über die drei Welten, geschweige denn über die Erde. Was bleiben uns schon für Freuden, wenn wir die Söhne des Dhritarashtra getötet haben, O Janardana?
1.36
An uns wird die Sünde haften bleiben, wenn wir sie umbringen, auch wenn sie die Angreifer sind. Darum ist es nicht recht, dass wir die Söhne des Dhritarashtra töten, unsere eigenen Verwandten. In der Tat, wie können wir noch glücklich sein, O Madhava, wenn wir unsere eigenen Leute töten?
Diese ganze Sache ist eine furchtbare Sünde –, denn nun erwacht in ihm noch das moralische Gewissen, um das Aufbegehren der Empfindungen und Gefühle zu rechtfertigen. Es ist eine Sünde, es gibt kein Recht und keine Gerechtigkeit für gegenseitiges Abschlachten, zumal gerade diesen Menschen, die erschlagen werden sollen, die natürliche Verehrung und Liebe gebührt, ihnen, ohne die man sich das Leben gar nicht wünschte. Diese geheiligten Gefühle zu verletzen, kann nicht Mannestugend, kann nichts anderes sein als ein verruchtes Verbrechen. Zugegeben, der Bruch des Rechts, die Aggression, die erste Sünde, die Verbrechen von Gier und egoistischer Leidenschaft, die den Anstoß zu diesem Gang der Dinge gegeben haben, kamen von der Gegenseite. Unter solchen Umständen wäre aber ein bewaffneter Widerstand gegen das Böse an sich eine Sünde und ein Verbrechen, schlimmer als das ihrige, da sie blind sind in ihrer Leidenschaft und ihrer Schuld nicht bewusst, während auf dieser Seite die Sünde mit einem klaren Empfinden für Schuld begangen würde. Und um welches Zweckes willen? Um die Sittlichkeit in der Familie zu wahren, das Recht der Gesellschaft oder das Gesetz in der Nation durchzusetzen? Gerade diese Normen werden durch diesen Bürgerkrieg zerstört. (24-25)
1.37-38
Wenn auch jene, von Habgier in ihrem Bewusstsein getrübt, in der Zerstörung ihrer Sippe keine Schuld erkennen und kein Verbrechen in der Feindschaft gegen Freunde, warum sollten nicht wir die Weisheit besitzen, vor solch einer Sünde zurückzuscheuen, O Janardana, die wir erkennen, dass die Vernichtung der Sippe von Übel ist!
1.39
Mit der Ausrottung der Sippe werden auch ihre ewigen Traditionen zerstört. Brechen diese Traditionen zusammen, überwältigt Gesetzlosigkeit die gesamte Sippe.
1.40
Wo aber Gesetzlosigkeit herrscht, O Krishna, werden die Frauen der Sippe verdorben; werden die Frauen verdorben, O Varshneya, gerät die feste Ordnung der varṇas durcheinander.
Varṇa wird gewöhnlich mit „Kaste“ übersetzt, doch ist das bestehende Kastensystem eine ganz andere Sache als der soziale Gedanke von caturvarṇa des Altertums: Die klar umrissene vierfache Ordnung der arischen Gemeinschaft, die keineswegs der Beschreibung der Gita entspricht (siehe Kapitel 18: Swabhava und Swadharma). (510)
1.41
Dies Chaos bringt für die Zerstörer der Sippe Verdammnis, aber auch für die Sippe; denn ihre Ahnen fallen, da sie das piṇḍa (Reisopfer) und die Spende des Tranks entbehren müssen.
1.42
So werden durch diese Untaten der Zerstörer der Sippe, die die Verwirrung der Ordnung zur Folge hat, die ewigen Gesetze des Volkes und die moralische Grundlage der Sippe vernichtet.
1.43
Und die Menschen, deren Sippenmoral verdorben ist, leben für immer in der Hölle, O Janardana. So wurde es uns überliefert.
1.44
Wehe uns, die wir davor standen, eine schreckliche Sünde zu begehen, und unsere eigenen Verwandten aus Gier nach den Freuden der Macht töten wollten.
1.45
Viel eher gereicht mir zum Heil, dass die bewaffneten Söhne des Dhritarashtra mich, der ich waffenlos bin und keinen Widerstand leiste, erschlagen. (Ich will nicht kämpfen!)
1.46
Sanjaya sprach:
Als Arjuna auf dem Schlachtfeld so gesprochen hatte, sank er auf den Sitz des Kampfwagens zurück, warf seinen göttlichen Bogen und den unerschöpflichen Köcher hin (die er von den Göttern für diese furchtbare Stunde erhalten hatte), und sein Geist war von Kummer überwältigt.
Wenn sich Arjuna selbst auch nur um seine eigene Situation, seinen inneren Kampf und das von ihm zu befolgende Gesetz des Handelns kümmert, so wirft doch die von ihm gestellte besondere Frage, und zwar in der Art, wie er sie stellt, in Wirklichkeit die ganze Frage menschlichen Lebens und Handelns auf: Was ist die Welt? Warum ist sie so? Wie kann, wenn sie ist, was sie ist, das Leben hier in der Welt vereinbar sein mit einem Leben im spirituellen Geist? Der Lehrer besteht darauf, gerade diese tiefe und schwierige Frage als die wahre Grundproblematik seines Befehls zu einer Tat zu lösen, die aus einer neuen ausgeglichenen Haltung des Wesens hervorgehen und im Licht einer befreienden Erkenntnis durchgeführt werden muss.
Was bereitet aber diese Schwierigkeit für den Menschen, der die Welt nehmen muss, wie sie ist, der in ihr zu handeln hat, aber dennoch in seinem Inneren das spirituelle Leben möchte? Was ist dieser Aspekt des Daseins, der sein erwachendes Bewusstsein so bestürzt und das hervorbringt, was der Titel des ersten Kapitels der Gita bedeutungsvoll mit dem Yoga der Mutlosigkeit Arjunas bezeichnet, der Niedergeschlagenheit und Entmutigung, die das menschliche Wesen fühlt, wenn es gezwungen ist, das Spektakel des Universums so zu sehen, wie es wirklich ist, wenn der Schleier der ethischen Illusion, der Illusion der Selbst-Gerechtigkeit, von seinen Augen weggerissen ist, bevor noch eine höhere Aussöhnung mit sich selbst bewirkt wurde? Dieser Aspekt wird nach außen hin dargestellt durch das Blutbad und Gemetzel von Kurukshetra. Spirituell wird er sichtbar in der Vision des Herrn aller Dinge als Zeit, die sich erhebt, um alle Geschöpfe, die sie geschaffen hat, zu verschlingen und zu zerstören. Das ist die Vision des Herrn allen Daseins als des universalen Schöpfers, aber ebenso als des universalen Zerstörers, von dem die alte Schrift in einem grausamen