Die Botschaft der Bhagavadgita. Sri Aurobindo
Seelenzustand oder auch nur einem rein ethischen Ideal von Vollkommenheit gestellt wird. (21)
Diese innere Krise entsteht also nicht aus der Fragestellung des Denkers. Sie ist kein Zurückschrecken vor den äußeren Erscheinungen des Lebens, keine Wendung des Blicks nach innen, um die Wahrheit der Dinge, die wirkliche Bedeutung des Seins zu ergründen und eine Lösung der dunklen Rätsel der Welt zu finden oder ihnen zu entfliehen. Vielmehr ist es das Aufbegehren der Sinne, Gefühle und Moral des Mannes, der bisher mit seinem Handeln und mit dessen gültigen Normen zufrieden war, sich aber nun gerade durch diese in ein furchtbares Chaos geschleudert sieht, da sie miteinander und mit sich selbst in Konflikt liegen. Ihm ist kein fester moralischer Boden übriggeblieben, nichts, woran er sich halten und worauf er seinen Weg ausrichten kann, also kein dharma.1 Das ist für die auf das Handeln gerichtete Seele im mentalen Wesen die schlimmste aller möglichen Krisen: Scheitern und Untergang. Die Auflehnung dagegen ist das an sich zutiefst Elementare und die einfachste Möglichkeit: In seinen Sinnen herrscht das Urgefühl von Schrecken, Mitleid und Abscheu. Im Vitalen ist die Anziehungskraft der anerkannten und vertrauten Ziele und der Glaube an sie verloren gegangen. In den Gefühlen schrecken die gewöhnlichen Empfindungen des Gemeinschaftsmenschen, Anhänglichkeit, Ehrerbietung, das Verlangen nach gemeinsamem Glück und Zufriedenheit zurück vor einer harten Pflicht, die sie alle vergewaltigt. Im Moralischen wehrt sich das elementare Empfinden von Sünde und Hölle dagegen und weist diese ,,blutbefleckten Freuden“ zurück. Praktisch herrscht nur noch das Empfinden, dass die dieser Aktion zugrunde liegenden Normen zu einem Ergebnis führen, das die tatsächlichen Ziele dieser Aktion zerstört. Aus alledem entsteht der totale innere Bankrott, den Arjuna mit den Worten ausdrückt, dass sein ganzes bewusstes Wesen, nicht nur sein Denken, sondern sein Herz, sein vitales Begehren und alles aufs äußerste verstört sind und er nirgendwo mehr das Dharma, nirgends ein gültiges Gesetz für sein Handeln finden kann. Nur um dieses zu erlangen, nimmt er als Schüler seine Zuflucht zu Krishna: Gib mir, so bittet er praktisch, das, was ich verloren habe, ein wahres Gesetz, eine klare Vorschrift für mein Handeln. Zeige mir den Pfad, auf dem ich wieder vertrauensvoll gehen kann! Er bittet nicht um die Enthüllung des Geheimnisses des Lebens oder des Rätsels der Welt. Er fragt nicht nach dem Sinn und Ziel von alledem. Er bittet nur um ein Dharma.
Der göttliche Lehrer beabsichtigt jedoch, seinen Schüler gerade zu diesem Geheimnis hinzuführen, um dessen Erhellung er nicht bittet, zumindest zu so viel Erkenntnis, wie notwendig ist, um ihn zu einem höheren Leben emporzuheben. Denn er legt ihm nahe, jedes Dharma aufzugeben außer dem einzigen umfassenden Lebensgesetz im weitesten Sinn, nämlich bewusst im Göttlichen zu leben und aus diesem Bewusstsein zu handeln. (25-26)
Es ist irrig, die Gita vom Standpunkt der heutigen Mentalität aus zu interpretieren und sie zu zwingen, uns die uneigennützige Ausführung der Pflicht als das höchste und völlig ausreichende Gesetz zu lehren. Schon bei kurzer Erwägung der Situation, mit der sich die Gita befasst, werden wir erkennen, dass das nicht ihre Absicht sein kann. Denn das ganze Ereignis, von dem ihre Belehrung ausgeht und das den Schüler zwingt, den Lehrer zu suchen, ist ein unentwirrbarer Konflikt verschiedener miteinander verbundener Pflichtbegriffe, der im Zusammenbruch des ganzen zweckmäßigen intellektuellen und moralischen Gebäudes endet, das vom menschlichen Mental errichtet worden war. Im menschlichen Leben kommt es ziemlich oft zu einem Widerstreit von Pflichten, wie zum Beispiel zwischen der Pflicht gegenüber der Familie und derjenigen gegenüber dem Land oder gegenüber einer Sache, zwischen dem Anspruch des Landes und dem Wohl der Menschheit oder einem umfassenderen religiösen oder moralischen Prinzip. Es mag sogar, wie bei Buddha, eine innere Situation entstehen, in der alle Pflichten aufgegeben, mit Füßen getreten, beiseite geworfen werden müssen, um dem Ruf der Gottheit im Inneren zu folgen. Ich kann mir nicht denken, dass die Gita eine solche innere Situation dadurch lösen würde, dass sie Buddha zu seiner Gattin, seinem Vater und der Regierung des Sakya-Staates zurückschickt; oder dass sie Ramakrishna anweisen würde, Pandit an einer Volksschule zu werden, um kleinen Jungen in selbstloser Hingabe ihre Lektionen beizubringen; oder einen Vivekananda an die niedere Pflicht binden würde, seine Familie zu unterstützen und zu diesem Zweck leidenschaftslos die Gesetzeskunde, Medizin oder Journalistik zu praktizieren. Die Gita lehrt nicht, selbstlos die Pflicht zu erfüllen, sondern dem göttlichen Leben zu folgen. Wir sollen alle Dharmas aufgeben, sarvadharmān, unsere Zuflucht allein zum Erhabenen nehmen. Die göttliche Aktivität eines Buddha, Ramakrishna und Vivekananda steht völlig im Einklang mit dieser Lehre. Ja, obwohl die Gita das Handeln dem Nichthandeln vorzieht, schließt sie nicht den Verzicht auf Wirken aus, sondern akzeptiert ihn als einen der Wege zum Göttlichen. Wenn man dieses allein dadurch erlangen kann, dass man auf Wirken, Leben und alle Pflichten verzichtet und der innere Ruf in uns stark ist, müssen jene alle aufgegeben werden, dagegen hilft nichts. Der Ruf Gottes ist zwingend. Ihm gegenüber haben keine anderen Erwägungen Gewicht. (32-33)
2.8
Ich sehe nicht, was mich von diesem Kummer befreien könnte, der mir die Sinne ausdörrt, selbst dann nicht, wenn ich eine reiche und unangefochtene Herrschaft auf Erden oder gar die Hoheitsgewalt der Götter erlangen würde.
2.9
Sanjaya sprach:
Gudakesha, der Schrecken seiner Feinde, der so zu Hrishikesha gesprochen hatte, sagte noch: „Ich will nicht kämpfen!“ Dann schwieg er.
In seiner Antwort an Krishna erkennt Arjuna den Tadel an, auch wenn er dagegen kämpft und den Befehl verweigert. Er ist sich seiner Schwäche bewusst und gibt zu, dass er dieser unterworfen ist. Es ist Dürftigkeit seines Geistes – das erkennt er an –, die seine wahre Heldennatur von ihm genommen hat. Sein Gewissen ist völlig verstört in seiner Anschauung von Recht und Unrecht. Darum nimmt er den göttlichen Freund zu seinem Lehrer. Alle Stützen des Gefühls und Verstandes, mit denen er seinen Gerechtigkeitssinn abgesichert hatte, sind zusammengebrochen. Er kann keinen Befehl annehmen, der nur an seinen alten Standpunkt zu appellieren scheint und ihm keine neue Grundlage zum Handeln gibt. Er versucht immer noch, seine Ablehnung des Werkes zu rechtfertigen, und bringt zu deren Unterstützung die Einwände seines feinnervigen, empfindsamen Wesens vor, das vor dem Blutbad und den folgenden blutbefleckten Genüssen zurückschreckt; die Forderung seines Herzens, das vor dem Schmerz und der Leere des Lebens schaudert, die seinem Handeln folgen; die Normen der üblichen Moralbegriffe, das Entsetzen über die Notwendigkeit, dass er seine Gurus, Bhishma und Drona, erschlagen soll; den Einwand seiner Vernunft, die keine guten, sondern nur böse Folgen aus dem schrecklichen, gewalttätigen Werk kommen sieht, das ihm aufgetragen wird. Er ist entschlossen, nicht auf der alten Grundlage von Denken und Beweggrund zu kämpfen, und erwartet schweigend die Antwort auf seine Einwände, die ihm unwiderlegbar zu sein scheinen. Diese Einwände aus Arjunas egoistischem Wesen versucht Krishna zuerst zu zerstören, um Raum zu schaffen für das höhere Gesetz, das über alle egoistischen Motive zum Handeln hinausgeht. (60)
2.10
Zu ihm, O Bharata, der so niedergeschlagen und entmutigt war, sprach nun zwischen den beiden Heeren Hrishikesha. Und es war, als ob er dabei lächelte.
Die Antwort des Lehrers geht auf zwei verschiedenen Wegen vor: Zuerst eine kurze Antwort, die sich auf die höchsten Ideen der allgemeinen arischen Kultur gründet, in der Arjuna erzogen wurde; sodann eine andere, viel stärker begründete Antwort, deren Grundlage ein mehr inneres Erkennen ist, das in tiefere Wahrheiten unseres Wesens einführt, die der wirkliche Ausgangspunkt der Lehre der Gita sind. Die erste Antwort stützt sich auf die philosophischen und moralischen Auffassungen der vedantischen Philosophie und auf die soziale Idee von Pflicht und Ehre, die die ethische Basis der arischen Gesellschaft bildete. (60-61)
2.11
Der Erhabene sprach: Du beklagst die, welche man nicht beklagen sollte, und doch redest du Worte der Weisheit. Der erleuchtete Mensch betrauert weder die Lebenden noch die Toten.
2.12
Es ist nicht wahr, dass Ich zu irgendeiner Zeit nicht gewesen bin, noch du, noch diese Könige unter den Menschen; und es ist auch nicht wahr, dass einer von uns je aufhören wird, künftig zu sein.
2.13
So wie die Seele in diesem Körper durch Kindheit, Jugend und Alter hindurchgeht, so geht sie weiter im Wechseln des