Seewölfe Paket 6. Roy Palmer
„Itzamnás Zeichen“, murmelte er. „Das Zeichen des Himmelsgottes.“
„Und was bedeutet das?“ fragte Jean Morro nüchtern.
Jacahiros bronzenes Gesicht sah plötzlich fast grau aus. Aber vielleicht lag das auch nur an dem geisterhaft huschenden Licht der Pechfackeln.
„Daß der Schatz den Göttern geweiht ist“, sagte der Maya leise. „Das Gold ist tabu! Wer seine Hände danach ausstreckt, den wird Itzamnás Fluch treffen.“
Für einen Moment blieb es still.
Der einäugige Esmeraldo atmete so tief, daß es fast wie ein Stöhnen klang. Ein paar Männer bekreuzigten sich. Batuti murmelte etwas in seiner Heimatsprache. Dan O’Flynn starrte mit einer Mischung aus Unbehagen und Neugier den Bretonen an, der sich mit einer zumindest äußerlich gelassenen Geste das graue Haar aus der Stirn strich.
„Und was heißt das genau?“ fragte er.
„Ich weiß nicht“, murmelte Jacahiro.
„Gut! Ich bin ein Hugenotte, genau wie die meisten von uns. Das heißt, daß wir nicht an diesen komischen Itz-Dingsda glauben und uns folglich auch den Teufel um seinen Fluch kümmern.“ Er hob rasch die Hand, als er das Aufblitzen in den Augen des Maya erkannte. „Niemand will deine Götter beleidigen, Jacahiro. Aber wir haben für diesen verdammten Schatz zu viel Blut und Schweiß vergossen, um jetzt aufzugeben.“
Jacahiro antwortete nicht. Der Bretone wandte sich mit einer entschlossenen Bewegung der Tür zu, hob die Hand und brach eins nach dem anderen der sieben Siegel. Danach zerrte er den mächtigen eisernen Riegel zurück und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Knarrend begann einer der schweren Flügel zurückzuschwingen.
Der Widerschein der Fackel fiel in den Raum dahinter, fahler, tanzender Widerschein, der sich in leuchtendem Goldglanz brach, im kalten Schimmer von Silber, im funkelnden, sprühenden Feuer unzähliger, vielfarbiger Edelsteine.
Für ein paar endlose Sekunden war es so still, daß man eine Stecknadel fallen gehört hätte.
Die Männer standen und starrten. Ein Gewölbe lag vor ihnen – ein ganzes Gewölbe voll von den erlesensten Kostbarkeiten. Statuen standen an den Wänden gleich stummen Wächtern, Göttergestalten, überlebensgroße Figuren aus purem Gold, deren Edelsteinaugen die Eindringlinge kalt und ausdruckslos zu beobachten schienen.
Das Abbild Itzamnás, des obersten Himmelsgottes, thronte an der Stirnwand des Gewölbes. Pures Gold war die Gestalt, massives Silber der Sokkel, auf dem sie sich erhob. Zu ihren Füßen glitzerte und schimmerte es, als seien Perlen über die Steinquader verstreut worden – und erst beim zweiten Blick begriffen die Männer, daß es nicht nur so aussah, sondern daß es tatsächlich Perlen waren.
Jean Morros Rechte krampfte sich so hart um den Griff der Fackel, daß die Knöchel weiß und spitz hervortraten.
Irgendein Impuls ließ den Bretonen einen halben Schritt zurückweichen. Der gleiche Impuls, der seine Kumpane in Schweigen bannte, der die Stille andauern ließ, der Dan O’Flynn einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Für einen kurzen Augenblick fühlten selbst die hartgesottenen Piraten, daß sie in eine verbotene Sphäre eingedrungen waren und hier an etwas rührten, an das Uneingeweihte nicht rühren durften.
Es war Pepe le Moco, der das Schweigen brach. Seine Augen flakkerten fiebrig und fast irre.
„Der Schatz!“ sagte er heiser. Und dann schrie er, schrie mit überkippender Stimme, während sich die Worte in dem Gewölbe zu hundertfältigem Echo brachen: „Der Schatz! Der Schatz! Das Maya-Gold! Wir haben es gefunden!“
5.
Es war Diego Valeras, der im Großmars des schwarzen Seglers die „Isabella“ sichtete.
Die Galeone lag in einer der Buchten mit den schmalen, fast unsichtbaren Einfahrten, die typisch für diesen Küstenabschnitt waren. Ein kleines Schiff wäre dort völlig unsichtbar gewesen, aber die überlangen Masten der „Isabella“ ragten über den grünen Dickichtgürtel der Landzunge hinaus.
Diego Valeras meldete seine Entdeckung zum Achterkastell, und wenig später signalisierte der Stör aufgeregt zu der im Kielwasser des „Eiligen Drachen“ segelnden Karavelle hinüber.
Beide Schiffe fielen zunächst einmal ab und hielten etwas nach Westen, um von den Piraten nach Möglichkeit nicht sofort entdeckt zu werden.
Wenig später drehten sie bei, und Hasard, Ben Brighton, Ed Carberry und Big Old Shane pullten von der „Santa Monica“ zu dem schwarzen Segler hinüber.
Im Achterkastell des „Eiligen Drachen“ fanden sie sich mit Siri-Tong, dem Wikinger und dem Boston-Mann zu einer kurzen Lagebesprechung zusammen.
Viel zu besprechen gab es allerdings nicht. Denn was sie unternehmen mußten, ergab sich ohnehin aus der besonderen Lage.
Dan O’Flynn und Batuti befanden sich als Gefangene an Bord der „Isabella“.
Davon jedenfalls mußten die Seewölfe und die Crew des schwarzen Seglers ausgehen, und deshalb lief ihre Taktik vor allem darauf hinaus, zu verhindern, daß Jean Morros Halsabschneider ihre Gefangenen als Geiseln benutzten, um die Gegner zu erpressen.
Ganz davon abgesehen, daß Philip Hasard Killigrew seine „Isabella“ nicht als Trümmerhaufen wiederhaben wollte.
Es war sinnlos, die Bucht offen anzulaufen. Das konnte allenfalls als Ablenkungsmanöver dienen – und genau darauf basierte der Plan des Seewolfs.
In knappen Worten erläuterte er, was er vorhatte.
Siri-Tong hörte mit funkelnden Augen zu. Der Wikinger atmete tief und ließ krachend seine mächtige Faust auf den Tisch der Kapitänskammer fallen.
„Bei Odins Raben!“ grollte er tief in der Kehle. „Ich bin dabei! Ich freue mich schon darauf, es diesen Mistkerlen zu besorgen! Das wird endlich mal wieder ein Spaß, verdammt noch mal!“
„Hoffentlich!“ sagte Ed Carberry düster.
Der eiserne Profos brauchte Arbeit für seine Fäuste, wenn er sich wohlfühlen wollte. Und in letzter Zeit war es für seinen Geschmack zu oft passiert, daß sich der erhoffte Spaß als Kinderspiel herausgestellt hatte, das eher für Sonntagsschüler taugte denn für eine Bande von Teufelskerlen wie die Seewölfe. Edwin Carberry hatte richtige Sehnsucht nach einem handfesten Kampf, bei dem die Fetzen flogen. Es mußte wohl eine Art sechster Sinn sein, der ihm sagte, daß dies vorerst noch nicht geschehen würde.
Jedenfalls schnitt er ein ziemlich zweifelndes Gesicht.
Hätte er ahnen können, was in Wahrheit auf ihn zukam, wäre seine Miene wohl noch viel grimmiger gewesen.
Die Männer, die Edwin Carberry so liebend gern in ihre Einzelteile zerlegt hätte, befanden sich um diese Zeit in einem wahren Freudentaumel.
Das Gefühl des Fremden, Gefährlichen, der ungreifbaren Drohung – das alles war beim Anblick des unermeßlichen Schatzes dahingeschmolzen wie Eis an der Sonne. Was blieb, war purer Triumph, gierige Euphorie, ein Rausch, der in seiner lautlosen, gespenstischen Intensität an Wahnsinn grenzte. Die Männer schrien nicht, jubelten nicht, redeten überhaupt sehr wenig, und wenn, dann im Flüsterton. Aber sie stolperten mit fiebrig glühenden Augen von einer Ecke des Raums zur anderen, sie taumelten fast, berührten das Gold, das Silber, die funkelnden Edelsteine und gebärdeten sich wie Kranke im Fieberwahn, die Phantasie und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderzuhalten vermochten.
Außer Dan und Batuti gab es nur zwei, die der Taumel nicht angesteckt hatte.
Jacahiro, der Maya, stand reglos und wie versunken am Fuß der Wendeltreppe. Sein bronzenes Gesicht war unbewegt, über seine Augen schien sich der Ausdruck dunklen Wissens wie ein Vorhang gesenkt zu haben. Für den Maya gab es keine Zweifel: dies war der Tempelschatz Itzamnás, und der Fluch der Gottheit würde die Frevler treffen. Jacahiro hatte keinen Anteil mehr an dem triumphierenden