Seewölfe Paket 6. Roy Palmer
Bretone setzte sich in Bewegung, und Dan O’Flynn empfing einen Stoß mit der Musketenmündung in den Rücken. Esmeraldo, dachte er grimmig. Diesem einäugigen Schuft würde er bei Gelegenheit noch einiges heimzahlen. Mit zusammengebissenen Zähnen begann er die endlose Treppe hinaufzuklettern. Obwohl er ziemlich bepackt war, wirkten seine Bewegungen immer noch elastischer als die der meisten anderen.
Die Treppe kostete die Männer den letzten Rest ihrer Kraft.
Dan zählte die Stufen nicht, aber er nahm an, daß es Hunderte waren. Selbst der zähe Bretone wurde allmählich langsamer. Auf halber Höhe legte er eine Pause ein, und jetzt endlich fiel ihm ein, daß es ziemlich sinnlos war, die gesamte Ausrüstung bis auf die höchste Spitze der Pyramide zu schleppen.
Auch ohne Gepäck bewältigten sie die zweite Hälfte der Treppe nicht schneller als die erste.
Dan grinste in sich hinein, weil hinter ihm das Schnaufen und Keuchen des bulligen Barbusse immer heftiger wurde. Auch Pepe le Moco und der einäugige Esmeraldo hatten sichtlich und vor allem hörbar Konditionsschwierigkeiten. Lediglich Jacahiro, der Maya, glitt die steinernen Stufen so leichtfüßig hinauf, als habe er das seit Jahren jeden Tag trainiert. Jean Morro und die anderen kostete es Mühe, ihm zu folgen.
Fast eine halbe Stunde war vergangen, als die Männer keuchend und erschöpft die oberste Plattform des Tempels erreichten.
Der Schatten eines säulengeschmückten Vorbaus nahm sie auf. Jacahiro betrachtete einen Moment die schwere Tür mit den geheimnisvollen eingeschnitzten Symbolen. Das bronzene Gesicht des Maya hatte sich gespannt: zum erstenmal, seit Dan und Batuti ihn kannten, zeigte er so etwas wie Furcht oder hatte doch zumindest seine unerschütterliche Gelassenheit verloren.
Sekundenlang zögerte er, als habe er Angst davor, an etwas Verbotenem, etwas Gefährlichem zu rühren. Dann hob er die Rechte, tastete über eine bestimmte Stelle des Tors, und wie von Geisterhand bewegt schwangen die beiden Flügel zurück.
Ein großer, dämmriger Raum voller Statuen öffnete sich vor ihren Blicken. Es waren gespenstische Statuen mit riesigen Köpfen, monströse Gebilde, weder Mensch noch Tier. Über einem steinernen Altar befand sich ein Wesen, das wie eine Mischung aus Vogel und Schlange aussah. Die gefiederte Schlange! Jener seltsame weißhäutige, bärtige Gott, der einer uralten Maya-Überlieferung zufolge das Land Yucatan gen Osten verlassen und seine Rückkehr prophezeit hatte.
Für diese Gottheit hatten die Maya-Krieger damals die ersten spanischen Eroberer gehalten, und deshalb hatten die grausamen Konquistadoren so wenig Widerstand gefunden, obwohl sie auf ein kriegerisches, wehrhaftes Volk gestoßen waren.
Jacahiro legte eine Hand an seine Stirn und verneigte sich vor der steinernen Statue.
Sein Gesicht wirkte hart und ausdruckslos, als er sich umwandte. Er hob die Schultern in einer ratlosen Geste.
„Ich war nie hier. Ich weiß so wenig wie ihr, wo der Schatz der Götter versteckt ist.“
„Dann suchen wir eben“, sagte Jean Morro in die Stille. „Ich nehme an, es gibt unterirdische Gewölbe unter diesem Raum. Wir haben nichts weiter zu tun, als den Zugang zu finden.“
Die Männer nickten.
Zögernd, fast widerwillig gingen sie daran, den großen, dämmrigen Raum zu durchsuchen. Esmeraldo, Barbusse und Pepe le Moco blieben bei den beiden Gefangenen zurück. Besonders konzentriert wirkten sie allerdings nicht. Vielleicht hätten Dan und Batuti jetzt eine Chance gehabt, sich abzusetzen.
Aber erstens wäre es eine sehr dünne Chance gewesen, da die endlos lange Treppe keinerlei Deckung bot, und zweitens hatte der Augenblick auch sie in Bann geschlagen. Sie waren kaum weniger fasziniert und gespannt als die Piraten.
Schon nach wenigen Minuten stieß der Burgunder einen unterdrückten Ruf aus.
Er hatte hinter den steinernen Altar geschaut, jetzt fuchtelte er aufgeregt mit den Armen. Sein Kumpan der „andere Burgunder“, eilte zu ihm, Jean Morro trat hinzu, Esmeraldo und Pepe le Moco stießen die Gefangenen vorwärts. Die ganze Bande drängte sich in der schmalen Lücke zwischen dem Altar und der Statue der gefiederten Schlange – und alle starrten sie stumm auf die quadratische Steinplatte mit dem reich verzierten, gelblich schimmernden Metallring im Boden.
„Gold!“ flüsterte Pepe le Moco mit glänzenden Augen. „Das ist Gold, pures Gold!“
„Vor allem ist es eine Falltür“, stellte der Bretone fest. Seine Stimme klang sachlich, nur ein unmerklich rauher Unterton verriet Erregung. „Pepe! Barbusse! Versucht mal, das Ding anzuheben!“
Barbusse schnaufte unschlüssig: er hatte Jacahiros Reaktion gesehen und teilte offenbar dessen instinktives Unbehagen. Bei Pepe le Moco dagegen überwog die Gier nach Gold alles andere. Er bückte sich hastig, schob die rechte Faust durch den Metallring und zerrte mit aller Kraft daran, ohne erst auf Barbusse zu warten.
Ein leises Surren erklang.
Überraschend leicht schwang die Falltür hoch, irgendeinem geheimnisvollen Mechanismus folgend. Pepe le Moco, der sein ganzes Gewicht in den Zug gelegt hatte, kostete es Mühe, die Balance zu halten und nicht zu stürzen.
Eine schwarze Öffnung gähnte vor den Füßen der Männer.
Grabeskälte wehte herauf. Nichts war zu sehen außer den ersten drei, vier Stufen einer steinernen Wendeltreppe. Jean Morro starrte einen Moment hinunter, dann hob er den Kopf.
„Fackeln!“ befahl er rauh.
Pechfackeln wurden entzündet.
Der Bretone preßte die Lippen zusammen, als er sich eine davon schnappte, um voranzugehen. Seine Nackenmuskeln spannten sich, während er den Fuß auf die oberste Treppenstufe setzte. Jacahiro, der Maya, folgte ihm schweigend. Dan O’Flynn erhielt einen Stoß in den Rücken, der ihm sagte, daß man ihm die Ehre zugedacht habe, der Vorhut anzugehören.
Batuti wurde die gleiche Ehre zuteil.
Esmeraldo, die Burgunder, selbst der gierige Pepe le Moco hielten es offenbar für gesundheitsfördernd, zunächst einmal bescheiden im Hintergrund zu bleiben. Ziemlich zögernd stiegen sie hinter den Gefangenen die enge Wendeltreppe hinunter. Der Rest der Bande folgte ihnen, und Dan O’Flynn fluchte in sich hinein, weil es seiner Meinung nach wesentlich klüger gewesen wäre, zumindest eine Wache in dem Tempel zurückzulassen.
„Hirnrissige Hammelherde“, murmelte Batuti, der offenbar ähnliche Gedanken hegte.
Dan nickte grimmig. Eingedenk der Tatsache, daß sie mit den Piraten zwar nicht im selben Boot saßen, aber sehr leicht in dieselbe Falle geraten konnten, entschloß er sich, den Kerlen ausnahmsweise ein bißchen auf die Sprünge zu helfen.
„Jean Morro!“ zischte er. „He, du bretonischer Bastard! Hast du dir schon überlegt, was du tust, wenn uns ein freundlicher Maya-Priester die verdammte Falltür über den Köpfen zuschlägt?“
Der Bretone fuhr herum.
In seinen grauen, harten Augen glänzte das Licht der Fackel. Einen Moment starrte er den blonden O’Flynn an, dann lächelte er schmal.
„Du hast recht, Kleiner. Barbusse, anderer Burgunder – ihr geht zurück und paßt oben auf.“
„Aye, aye, Sir“, sagten Barbusse und der andere Burgunder einstimmig, aber wenig begeistert.
„Der Teufel ist dein Kleiner!“ fauchte Dan aufgebracht, doch da hatte sich der Bretone schon wieder abgewandt und stieg weiter die Stufen hinunter.
Die Treppe schien sich endlos um die steinerne Spindel zu winden, bevor sie schließlich abrupt aufhörte.
Ein Gang begann an ihrem Fußende, ein breiter, gewölbter Gang, in dem die modrige Kühle einer Gruft herrschte.
Langsam gingen die Männer weiter, folgten einer scharfen Biegung und blieben vor einer schweren eisenbeschlagenen Tür stehen.
Es war eine versiegelte Tür, wie Dan O’Flynn feststellte. Sieben Siegel, die aus irgendeinem formbaren Karmesinfarbenen Material bestanden,